Szczepan Twardoch, Autor von „Drach“ und herausragende Stimme der polnischen Gegenwartsliteratur, zeigt in seinem neuen Roman literarische Schlagkraft. „Der Boxer“ ist ein wüstes Epos um Macht und Gewalt, Lüge und Verrat, Schuld und Sühne. Foto: Jacek Kołodziejski.

Erstveröffentlichung: Februar 2018.


Buchkultur: Wie sind Sie auf die Geschichte eines kriminellen Warschaus der Zwischenkriegszeit gekommen? Hat so eine Unterwelt damals wirklich existiert?

Twardoch: Meine Hauptperson, Jakub Shapiro, ist vollkommen fiktional. Es gab natürlich jüdische Boxer im Warschau der Zwischenkriegszeit, in den Klubs Makkabi Warszawa und Gwiazda Warszawa. Die Geschichte meines Protagonisten ist sehr entfernt angelehnt an die Geschichte des Boxers Szapsel Rotholc, aber nur in Bezug auf das, was Jakub während des Kriegs gemacht hat. Soweit ich weiß war Rotholc, ein Starathlet, kein Krimineller. Die polnisch-jüdische Gang des Paten Jan Kaplica basiert um vieles mehr auf der Gang des tatsächlichen Warschauer Gangsters Tata Tasiemka, Sozialist und früherer Freiheitskämpfer der Revolution von 1905. Der hatte, aufgrund seiner Taten in der POW, der Polnischen Militärorganisation, und der PPS, der Polnischen Sozialistischen Partei, eine Menge Freunde in den Sanacja-Kreisen.* Tasiemka war genauso gewalttätig wie mein Pate Kaplica, aber die Details der Verbrechen meines fiktiven Kaplica unterscheiden sich sehr von dem, was der wirkliche Tasiemka tat. Auch war Tasiemka ein bisschen früher aktiv und wurde nicht in die Bereza Kartuska Einrichtung gebracht (eine bereits 1934 eingerichtete Isolierhaftanstalt in Ostpolen, Anm. D. Red.). Ich musste die Ereignisse des Buchs im Jahr 1937 spielen lassen, als wirkliche antisemitische Vorfälle und Straßenkämpfe stattfanden. So habe ich mich dazu entschieden, eine fiktionale Gangsterfigur zu erschaffen, die auf Tasiemkas Biographie nur basiert. Ja, Warschau hatte, wie jede große Stadt, ihre kriminelle Unterwelt.

Es gab Gerüchte eines solchen, im Buch geschilderten Putschversuchs rechter Kräfte im Polen des Jahres 1937?

1937 gab es Gerüchte über einen möglichen Coup d’etat, aber die meisten Historiker stimmen darin überein, dass diese Gerüchte falsch waren ­– dennoch habe ich entschieden, sie so zu behandeln, als ob sie wahr wären. Das hat mir mit der etwas spektakulären Geschichte geholfen. Es ist trotzdem keine anderslautende Geschichtsschreibung, da es am Ende, dank Jakub Shapiro, keinen Putsch gibt. So fügt sich die Geschichte immer noch in die tatsächliche Historie ein.

Sie kommen aus einer schlesischen Familie. Gibt es in Ihrer Familie auch jüdische Ahnen?

Ich habe keine jüdischen Vorfahren. Alle meine Vorfahren waren schlesische Bergleute, und vor der Industrialisierung Oberschlesiens im 19. Jahrhundert waren sie Bauern in schlesischen Dörfern. Alle lebten sie 30 Kilometer von dem Ort, an dem ich heute lebe, entfernt, zumindest so weit man es aus den Dokumenten ersieht, die so bis 1680 reichen. Es ist eine sehr ungewöhnliche Situation im heutigen Polen, und manchmal ist es eine Last, aber auf der anderen Seite ist es auch das Fundament meiner ganzen Persönlichkeit.

„Der Boxer“ schildert auch die vielen verschiedenen Escheinungsformen von Gewalt. Gewalt erschreckt uns und manchmal fasziniert sie uns auch. Weshalb ist das so? Was hat Sie daran interessiert?

Gewalt ist Teil unseres Lebens und unserer Welt. Sie sollte und muss zurückgehalten und kontrolliert werden, aber sie wird immer da sein, ob wir das wollen oder nicht. Manchmal, angesichts großen Unheils wie zum Beispiel des Nazismus, ist Gewalt die einzige Option, dieses Böse zu stoppen, oder zumindest ein Weg, seine menschliche Würde zu retten, wenn man einem bevorstehenden und grausamen Tod entgegensieht. Das ist zum Beispiel der Grund, weshalb Mitglieder der jüdischen Widerstandsbewegung ZOB sich dafür entschieden, Gewalt anzuwenden und den Aufstand gegen die Deutschen während der Liquidation des Warschauer Ghettos begannen.

Ihr Roman beschäftigt sich auch mit der Macht der Erinnerungen und der Angst davor, mit der Unmöglichkeit zu vergessen. Wie wichtig ist das Thema, sind die Beschäftigung mit der Vergangenheit und der Geschichte für Sie und Ihr Werk?

Ich glaube, ich bin besessen von der Vergangenheit, der Geschichte meiner Familie und von Geschichte allgemein, denn sie ist das einzige Werkzeug, das wir haben, um die Welt, in der wir leben, zu verstehen. Sie ist kein großartiges Werkzeug. Die menschliche Kultur ist sehr komplex und chaotisch. Sie pulsiert und leuchtet, und niemand von uns ist fähig dazu, diese Komplexität zu begreifen, besonders wenn die Welt sich so schnell verändert wie sie es jetzt tut. Aber wir können an die Realität des „Jetzt“ nicht heranreichen, denn sobald wir es versuchen, wird das „Jetzt“ „Vergangenheit“, und je tiefer wir in die Vergangenheit eindringen, desto besser verstehen wir sie.

Glauben Sie oder haben Sie die Hoffnung, dass es möglich ist, aus der Geschichte, aus unseren Fehlern zu lernen?

Darauf habe ich keine gute Antwort. Vielleicht ist es möglich zu lernen, aber ich glaube, es geschieht kaum, da aus der Geschichte zu lernen ein ziemlich unangenehmer Prozess ist, und wir bleiben lieber ignorant und wiederholen unsere Fehler.

Wie falsch und trügerisch sind unsere Erinnerungen?

Was sehr interessant ist, ist, wie das gemeinschaftliche Gedächtnis manchmal das individuelle ersetzen kann. Eine Freundin von mir erzählte mir eine Geschichte darüber. Sie arbeitete gerade an einem historischen Projekt und sammelte Aufnahmen von überlebenden Kämpfern des Warschauer Aufstands. Sie merkte irgendwann, dass diese wirklichen, hoch ausgezeichneten Soldaten ihr Geschichten erzählten, die einander ähnelten und auch unwahrscheinlich waren. Sie wusste das, weil sie wusste, in welchem Teil von Warschau ihre Einheit gekämpft hatte. Sie teilte diese Gedanken ihrem Vorgesetzten mit, und er erklärte ihr sofort, dass ihre diese Veteranen Szenen aus Andrzej Wajdas Film „Canal“ mitgeteilt hatten. Diese Filmbilder waren so stark, dass sie die originalen, individuellen Erinnerungen dieser alten Soldaten ersetzten konnten.

Ihre Romane beschäftigen sich auch mit Identität und Identitätsstiftung, mit den Problemen, die sie verursachen kann, mit den Schwierigkeiten, sich selbst zu identifizieren. Was bedeutet Identität für Sie? Wie würden Sie Ihre Identität beschreiben?

Ich bin Schlesier. Ich habe starke Bindungen zur polnischen Kultur, und ein bisschen weniger starke zur deutschen. Aber ich bin weder Pole noch Deutscher. Ich bin einfach Schlesier. Ich kann Deutsch lesen und ich verstehe das meiste gesprochene Deutsch, da es im Haus meiner Großeltern ziemlich oft gesprochen wurde, aber ich spreche es nicht.

Was bedeutet es heute für Sie, Schlesier zu sein?

Das ist eine sehr komplexe Frage, und die Antwort würde so lang und ziemlich langweilig für jeden außerhalb Schlesiens sein. Kurz gefasst kann ich sagen, dass Schlesier zu sein, bedeutet, zu einer sehr unentwickelten, mundartlichen ethnischen Identität zu gehören, die sehr fragil und sich ihrer eigenen Existenz unsicher ist, und etwas zwischen zwei großen Kulturen, der polnischen und der deutschen, zerrieben und auch von beiden beeinflusst wird. Sind wir Polen? Mehr als 300.000 Schlesier erklärten, dass wir es nicht sind (bei der Volkszählung 2011, Anmerkung der Redaktion). Sind wir eine Nation in dem Sinne wie es die Polen, Deutschen, Tschechen oder sogar die Schotten oder Katalonen sind? Nein, das sind wir nicht. Da ist etwas sehr Postmodernes, Fließendes, Sich-ständig-Veränderndes um unsere ethnische Identität.

Was bedeuten die Begriffe Heimat und Heimatland für Sie?

Die einzige Heimat, das einzige Vaterland, das ich habe, ist die allernächste Umgebung des Ortes, an dem ich lebe.

Könnten Sie sich vorstellen, jemals woanders zu leben?

Ich kann mir eine Menge Dinge vorstellen, das ist mein Job als Schriftsteller. Aber ich glaube nicht, dass ich jemals lange außerhalb Schlesiens leben werde, wenn ich nicht dazu gezwungen werden würde. Ich liebe es zu reisen, ich verbrachte einige Monate in Berlin und ich verbringe viel Zeit in Warschau, wo ich auch eine Wohnung habe, vielleicht jeden Monat über eine Woche lang, wo ich mich um meine beruflichen Verantwortlichkeiten kümmere. Ich liebe Lissabon und könnte jeden Winter dort verbringen. Ich liebe Spitzbergen und versuche dort jedes Jahr einige Wochen zu verbringen, im arktischen Sommer mache ich dort Wanderungen, Motorschlittenfahrten im Frühjahr, und so weiter, aber mein Zuhause ist hier, und wird es immer sein.

Ihr Roman behandelt auch den starken Antisemitismus im Polen der Zwischenkriegszeit. Vor kurzem gab es in Warschau eine Demonstration rechter Aktivisten, die viel Aufsehen in den Medien erregte. Wie ist so etwas heute noch möglich?

Alles ist möglich, immer. Wie ich vorhin gesagt habe: Wir lernen nicht aus unseren Fehlern.

Europa steht einem neuen Rechtsruck gegenüber. Haben Sie Sorge vor dieser Entwicklung? Gibt es in Polen irgendwelche Repressalien von Seiten der nationalkonservativen Regierung gegenüber Künstlern, Literaten?

Die Meinungsfreiheit wird im Augenblick in Polen nicht offen verletzt. Aber, wie ich zuvor sagte, nochmals: Alles ist möglich, immer.

Ihre Verbindung zu Österreich: Kennen Sie das Land, welche österreichische Autoren schätzen Sie?

Einer meiner Lieblingsautoren ist Joseph Roth. Ich bewundere Kafka sehr, offensichtlich, und ich habe Bernhard und Jelinek gelesen.

Szczepan Twardoch wurde 1979 in Pilchowice, Schlesien, geboren, wo er auch heute noch mit seiner Familie lebt. Als Jugendlicher wollte er Rockstar werden. Er studierte Soziologie und Philosophie an der Schlesischen Universität in Katowice. 2012 gelang ihm mit seinem Roman „Morphin“ der Durchbruch in Polen. Das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet. Das 2016 erschienene Epos „Drach“ war auch im deutschen Sprachraum ein großer Erfolg.

„Der Boxer“ (Rowohlt)
Übers. v. Olaf Kühl, 464 S.

* Die POW war eine 1914 von Józef Pilsudski gegründete geheime Militärorganisation polnischer Unabhängigkeitskämpfer während des Ersten Weltkriegs. Sie wurde 1918 in die polnische Armee eingegliedert. Während der Zweiten Polnischen Republik (1918 – 1939) standen sich zwei große Parteien gegenüber: Die rechte Nationaldemokratie und die von Józef Pilsudski gegründete Polnische Sozialistische Partei (PPS). 1926 stürzte Pilsudski die Regierung und löste sie durch ein autoritäres Präsidialsystem ab. Die neue Regierung bezeichnete sich im Sinne einer „Gesundung“ der Gesellschaft als „Sanacja“ (aus dem Lateinischen: „sanatio“ für „Heilung“).