Das Mitchell-Universum bekommt Zuwachs – und die Sechziger eine neue alte Band. »Utopia Avenue« ist ein Spaziergang durch die Musikgeschichte. Illustration: Jorghi Poll.
Sich als Schriftsteller ins Musikbusiness hineinzuschreiben, ist wahrlich eine undankbare Aufgabe. In vielen Fällen wird man literarisch weder der Musik noch den Musiker/innen gerecht, und entscheidet man sich dazu, so wie David Mitchell in seinem neuen Roman »Utopia Avenue«, eine fiktive Band auf Größen wie Lennon, Hendrix, Cohen und Konsorten treffen zu lassen, dann ist es kaum verwunderlich, dass die ersonnenen Gespräche oftmals haarscharf am Kitsch und an der Bedeutungslosigkeit vorbeischrammen.
Ausgangspunkt seines bewundernswerten Unterfangens, eine fiktive Musikgruppe der Sechziger in den schmalen Spalt legendärer Rockhistorie hineinzuzwängen, war die vorangestellte Frage: Kann ein Roman, der rein aus Worten besteht, Musikgeschichte und deren Einfluss auf Menschen und die Welt gerecht werden?
Die Band »Utopia Avenue«, bestehend aus der Pianistin Elf, dem Gitarristen Jasper, dem Bassisten Dean, Schlagzeuger Griff und dem liebenswürdig ehrlichen Manager Levon, schreiben sich auf der Klaviatur der späten Sechziger, scheinbar ohne die geringsten Widerstände auf dem Weg nach oben, in das Personal der großen Musiker ein. Mitchell gelingt es besonders zu Beginn – also auf den ersten gut fünfhundert Seiten –, mit einer Mischung aus persönlichen Episoden und geschichtlichen Meilensteinen aus der Perspektive seiner Protagonist/innen, zwischen dem »Summer of Love«, dem Vietnamkrieg, ersten Festivals, großen Umbrüchen und diversen Drogenerfahrungen einen unglaublichen Sog zu erzeugen, der die Leser/innenschaft atemlos zum Umblättern zwingt. Die einzelnen Teile des Romans entsprechen den Alben der Band, die Kapitel jeweils den Songs, das sorgt für eine wunderbare Analogie und für die beispielhafte Verbindung zwischen der Entstehung der Songs und der Leben der Musiker/innen. Die Geschichte gut sechzig Jahre später auf den Kopf stellen: Das ist ein Meisterakt, den kaum jemand dem Schriftsteller so schnell und in solchem Umfang nachmachen wird. Für Kenner/innen des Mitchell-Universums hält das Buch in bester Manier jede Menge Querverweise bereit, ein Song entsteht etwa inspiriert vom „Wolkenatlas“; Gitarrist Jasper, der unter seiner Schizophrenie leidet, treiben seine Vorfahren – ebenfalls bereits bekannt aus »Die tausend Herbste des Jacob de Zoet« – beinahe in den Tod: Mitchell macht sich sichtlich einen großen Spaß daraus, Versatzstücke zu verweben, sie zu verarbeiten und darauf zu verweisen.
Wenn auch dieser 800-Seiten-Wälzer seine Leser/innen weitaus weniger befriedigt entlässt als etwa ein Harry Mulisch, so schwappt dieser große Spaß definitiv auf sie über. Und wenn auch Sätze wie »Wenn wir das Drehbuch der Zukunft lesen könnten, wir würden nie umblättern«, nicht unbedingt hochkarätige Musik in unseren (deutschen) Ohren sein mögen, so sorgen andere wie »Draußen stampfte der Regen die Krokusse zu seidigem Mus« für die feinen Töne, für die sich dieser Ausflug ins Mitchell-Universum definitiv lohnt.
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David Mitchell
Utopia Avenue
Ü: Volker Oldenburg
Rowohlt, 752 S.
Erscheint am 19. Juli.