»Geschichten mit Marianne« ist Xaver Bayers unwirkliche Antwort auf eine zunehmend virtuell werdende Realität. Foto: Klaus Pichler.


»Seit einem Tag bin ich nun in diesem Lift gefangen, der sich momentan vermutlich irgendwo zwischen dem zehn- und zwanzigtausendsten Stockwerk befindet.« Eine unerhörte Begebenheit. Der namenlose Erzähler in Xaver Bayers neuem Opus »Geschichten mit Marianne« jedoch gerät ständig in solche Situationen. Ergeben folgt er seiner abenteuerlustigen Freundin Marianne von einer in die nächste Absurdität: Vom Flohmarktbesuch mit zerstörerischer Intention über eine Entführung durch Horrorclowns bis hin zum Gourmetdinner unter Militärbeschuss – ein normaler Alltag sieht anders aus. Hier aber beginnt jeder Zeitvertreib des Paars banal und kippt fortlaufend ins Unwirkliche. Ähnlich wie in Bayers Prosasammlung »Geheimnisvolles Knistern aus dem Zauberreich« (Jung und Jung, 2014) sind es banale Verrichtungen, die bloß als Sprungbretter in die Surrealität dienen: Daher stellt sich auch dem Erzähler die Frage, ob Marianne nur sein eigenes Hirngespinst ist: »Selbst, was ihren Namen anbelangt, war ich mir nicht mehr sicher. Ich bin sogar im Zweifel, ob ich Marianne überhaupt je begegnet bin oder ob sie nicht einfach nur eine Ausgeburt meiner Phantasie ist.«

Das Verblassen und Verschwinden ist auch das Leitmotiv: Am Schluss heißt es immer von einer der beiden Figuren irgendwie Abschied nehmen: Entweder verwischen sich die Spuren oder es wird sich ins Jenseits begeben. Die Inspiration dafür hat sich der 1977 in Wien geborene Autor aus einer weniger hochliterarischen Quelle geholt: Kenny, der jede Folge das Zeitliche segnende Charakter aus der Zeichentrickserie »South Park«, stand für das Werk Pate.

Aufgrund dieses Querverweises bietet es sich an, die einzelnen Teile des Bandes eher »Episoden« anstatt Erzählungen oder Kapitel zu nennen – ob dieser Text eine Prosasammlung oder ein Roman ist, möchte Bayer nämlich bewusst nicht beantworten: »Ich spiele gerne so mit Formen, dass man sich nicht festlegen muss«, verrät er im Gespräch mit Buchkultur und verweist auf »The Interrogative Mood: A Novel?« von Padgett Powell – ein Roman, der ausschließlich aus Fragen besteht. »So was gefällt mir. Das ist Literatur, die etwas über die Welt und mich erzählt.« Daher ist es wenig verwunderlich, dass sich Bayer selbst immer wieder in solchen Experimenten übt. Sein 120 Seiten langer Text »Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen« (Jung und Jung, 2011) zum Bespiel besteht aus einem einzigen Satz. Experimentierfreudig zeigte sich dieser Autor auch bereits früh in Blick auf Publikationskanäle: Ab 2000 betrieb er für eineinhalb Jahre im Internet die Literaturplattform »Die Flut«.

Inzwischen versucht sich Bayer von der digitalen Sphäre so weit wie möglich fernzuhalten. Auch seine Vergangenheit als Computerspieler habe er längst hinter sich gelassen: »Ich habe begonnen, mich all dem zu entziehen, als ich gemerkt habe, welche Macht die digitalen Medien ausüben.

Daher bin ich nicht auf Facebook, auf Twitter oder sonst wo. Mir kommt es vor, dass viele Bücher, die auch auf diesem Weg an die Öffentlichkeit treten, zu einer Art Hybridform mutieren, die dann verheizt wird.« Daher liegt Bayer inzwischen gar nicht mehr daran, digitale und literarische Welt zu verknüpfen, wie er es noch als junger Autor in seinem Roman »Weiter« (Jung und Jung, 2006) versucht hatte. Inzwischen will er die Leser vielmehr aus der harten virtuellen Realität in seine eigene Phantasiewelten transportieren: »Ich möchte die Leute von den Bildschirmen, vor denen wir alle viel zu viel sitzen, wegholen. Du und das Buch allein – da kann etwas Schönes entstehen.«

Xaver Bayer, Jahrgang 1977, studierte Philosophie und Germanistik. Heute lebt und arbeitet er als freier Schriftsteller in Wien. Neben Romanen und Erzählungen schreibt Bayer auch Theaterstücke, für sein literarisches Schaffen erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Reinhard-Priessnitz-Preis (2004), Hermann-Lenz-Preis (2008) und Österreichischer Förderungspreis der Stadt Wien (2011). Zuletzt erschien von ihm »Atlas« (Haymon, 2017), »Wildpark« (Edition Korrespondenzen, 2019) und »Geschichten mit Marianne« bei Jung und Jung.