Joni Seager, namhafte Geographin, Expertin für globale Strategien in der Politik, UN-Beraterin und Professorin für Global Studies an der Bentley University in Boston, hat die Welt neu kartographiert: Ihr ausgezeichneter „Frauenatlas“ legt die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern offen wie nie. Das Interview über die Fragilität der Frauenrechte, Fort- und Rückschritte, die Folgen der Coronakrise für die Frauen und was der Wahlsieg Joe Bidens und Kamala Harris´ für die Frauenrechte in den USA bedeutet. Foto: privat.
Buchkultur: Der erste „Frauenatlas“ erschien 1986. Was hat sich seit damals zum Positiven oder Negativen verändert?
Joni Seager: Jeder, der globale Trends betrachtet, würde sagen, dass die signifikantesten Verbesserungen im Leben von Frauen und Mädchen weltweit im Bereich Bildung und Alphabetisierung gemacht wurden. Regierungen auf der ganzen Welt haben endlich große Aufmerksamkeit darauf verwendet, Mädchen in die Schulen zu bringen. In vielen Ländern kommen sie oft nicht über die niedrigen Schulstufen hinaus. Frauen durchlaufen dort nicht das ganze Bildungssystem. Aber schon eine Basisalphabetisierung und Basisbildung ist ein großer Schritt vorwärts. Auch dass Menschen heute in regulären Nachrichtensendungen über das Patriarchat reden, ist außergewöhnlich. Dank der feministischen Bewegung haben wir uns viel mehr daran gewöhnt, auf Strukturen der Unterdrückung hinzuweisen. Es ist nicht mehr so, dass ein paar Spezialisten in der Ecke darüber reden – die Begriffe „Frauenfeindlichkeit“ und „Patriarchat“ sind nun Teil des alltäglichen Diskurses geworden, wie man zum Beispiel am Verhalten unserer Politiker sieht. Auch wenn man es nicht so bezeichnen würde: Tatsächlich ist eine Menge feministischer Analyse vom Mainstream übernommen worden. Dass nun in der Öffentlichkeit und in den Medien über häusliche Gewalt und Frauenfeindlichkeit gesprochen wird, ist ein großer Schritt vorwärts.
Ist das auch auf die #MeToo-Bewegung zurückzuführen?
Ich denke, ja. #MeToo hat das in großem Ausmaß an die Öffentlichkeit gebracht. Die #MeToo-Bewegung war und ist großartig.
Was war das Überraschendste, Schockierendste, das Sie bei Ihren umfangreichen Recherchen herausgefunden haben?
Trotz der positiven Trends haben wir auch gesehen, wie schnell Frauen- und Menschenrechte wieder rückgängig gemacht werden können. Frauenrechte sind fragil und temporär. Sie müssen laufend überwacht und geschützt werden. Es ist nicht so, dass man einen Status der aufgeklärten, feministischen Bewegung in Richtung Gleichstellung erreicht und dann am Spielfeldrand sitzt und tatenlos zuschauen kann. Es ist ein kontinuierlicher Prozess. Und die Zahl der Regierungen, die versuchen, die Frauenrechte rückgängig zu machen, ist äußerst alarmierend: Ungarn, Polen – und auch in den USA unter Trump wurden die Frauenrechte massiv beschnitten. Und mir ist nicht klar, was in Saudi-Arabien vor sich geht. Unter bestimmten Umständen ist es Frauen dort nun erlaubt, Auto zu fahren. Einerseits schien das ein Zeichen für einen Schritt vorwärts zu sein. Aber die königliche Familie, die die Regierung ist, hat feministische Aktivistinnen in geheime Haftanstalten geworfen, wo sie schrecklichstem Missbrauch ausgesetzt sind und keine rechtlichen Möglichkeiten haben. Es ist, als würde man mit einer Hand geben und mit der anderen nehmen. Als würde man eine PR-Show abziehen, indem man sagt: Ja, o.k., Frauen dürfen jetzt Auto fahren. Aber die Unterdrückung der Frauen und anderer Menschenrechtsgruppen in Saudi-Arabien ist unglaublich. Es ist nicht nur Ungarn oder Polen: Der Backlash ist überall auf der ganzen Welt.
Die saudi-arabischen Frauenaktivistinnen Loujain al-Hathloul, Samar Badawi und Nassima al-Sada wurden genau deshalb inhaftiert: weil sie sich für die Aufhebung des Fahrverbots für Frauen stark gemacht haben.
Ja, und sie sind immer noch im Gefängnis und schrecklichem Missbrauch ausgesetzt: Folter, Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch.
Trump wandte sich im Wahlkampf an die rechtsextremen „Proud Boys“. Später ruderte er zurück.
Er unterstützt vollkommen unverfroren die „White Male Supremacy“, die Vorstellung von der „Überlegenheit der weißen Männer“. Er promotet „White Male Supremacy“ in allem, was er tut. Er hat alle theoretischen Rechte von Frauen, Minderheiten oder Menschen mit Behinderungen zurückgedreht. Es ist einfach schrecklich, schrecklich, schrecklich. Und was wir in den USA gesehen haben und in einigen dieser anderen Länder sehen, das ist die Begrenztheit der Regierungsinstitutionen, die schon vorhandenen, bestehenden Rechte zu schützen. Sie sind fragiler, als ich dachte, hoffte oder annahm. Und das ist sehr alarmierend.
Was hätte Trumps Wiederwahl bedeutet?
Nehmen wir an, dass er legal gewonnen hätte, was ich nicht glaube. Aber wenn man das für einen Moment beiseite lässt: Es hätte darauf hingedeutet, dass es einen signifikanten Teil der amerikanischen Bevölkerung gibt, für den es kein Problem darstellt, einen männlichen weißen Suprematisten an der Spitze und einen Frauenfeind im Amt zu haben. Diese Vorstellung wäre sehr alarmierend gewesen.
Kommen wir zum erfreulichen Ergebnis der US-Wahlen: Was bedeutet Bidens und vor allem Kamala Harris’ Sieg für die Frauenrechte in den USA (und weltweit)?
Beide, Joe Biden und Kamala Harris, haben eine überzeugende Erfolgsbilanz, was die Unterstützung von Frauenrechten betrifft sowie die Weiterentwicklung von Gesetzen zum Schutz vor Gewalt gegen Frauen, Gesetzen zu Reproduktionsrechten und Strafverfolgung bei Vergewaltigungen. Ich hoffe und erwarte, dass eine ihrer ersten Verfügungen die „Global Gag Rule“-Politik kippen wird, welche die US-Finanzierung für ausländische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) blockiert, die Schwangerschaftsabbrüche oder auch nur Beratungen und Überweisungen anbieten. Trump dehnte diese Politik aus, um systematisch gegen globale Programme zu sexueller und reproduktiver Gesundheit, Aufklärung und zu Reproduktionsrechten vorzugehen. Ich zweifle nicht daran, dass die Biden-Harris-Administration Frauenrechte priorisieren wird.
Aktuelle Studien belegen es: Frauen sind auch die Verliererinnen der Coronakrise: Sie übernahmen während des Lockdowns die Hauptlast der zusätzlich anfallenden Kinderbetreuung, reduzierten ihre Arbeitszeiten häufiger als Männer und kehrten weniger schnell in ihre Jobs zurück (oder verloren sie). Dazu kommt der Anstieg häuslicher Gewalt.
Absolut, ja. Wir erleben ein richtiges Rollback bei den Geschlechterrollen – zurück in eine vorfeministische Zeit. Die Menschen hier in den USA, aber ich bin sicher, überall, sagen, dass die Pandemie die Ungleichheiten in der Gesellschaft enthüllt. Was sie tut. Aber die meisten meinen damit den Unterschied zwischen reich und arm und den fehlenden Zugang zum Gesundheitswesen. Aber die Pandemie legt auch die zugrundeliegenden Ungleichheiten in den Geschlechterbeziehungen offen – aus genau den Gründen, die Sie nannten: Frauen sind diejenigen, die aus dem Arbeitsleben ausscheiden, als Vollzeit-Mütter nach Hause zurückkehren – und viele Einflüsse unterstützen das. Aber das ist es nicht allein. Ich habe eine Freundin, die wissenschaftliche Zeitschriften verlegt. Sie erzählt, dass während der Pandemie die Zahl der Einsendungen von Männern sprunghaft angestiegen ist. Die der Frauen dagegen ist komplett zurückgegangen, weil Frauen ihrer wissenschaftlichen Arbeit, ihren Forschungsarbeiten nicht nachgehen können. An die 30 Wissenschaftlerinnen verfassten einen prominenten Brief, in dem sie sagten, dass ihre Arbeit vollkommen an den Rand gedrängt wurde, während die Männer für Experten gehalten wurden. Das Coronavirus hat alle Ungleichheiten offengelegt und einige dieser Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, Forschern und Forscherinnen, und die in der Zuständigkeit für den Haushalt verschärft.
Auch wenn solche Vergleiche ein bisschen hinken: Während des Zweiten Weltkriegs mussten die zurückgebliebenen Frauen die Arbeit der Männer erledigen und die Familie durchbringen. Danach – in den konservativen Fünfzigern – wurden sie wieder an den Herd zurückgedrängt.
Das ist ein interessanter Vergleich, auch wenn er, wie Sie sagen, ein bisschen heikel ist. Er führt zurück zu dem, worüber wir vor wenigen Minuten gesprochen haben. Die wirtschaftlichen, die rechtlichen Errungenschaften für Frauen sind so fragil. Sie stehen fast nirgendwo schon auf festem Boden.
Weshalb entzünden sich die Konflikte immer an den Reproduktionsrechten der Frauen?
Nun, es ist in allen Lebensbereichen von Frauen ziemlich offensichtlich: Wenn man keine Autorität über seinen eigenen Körper hat und über sein Vermögen, Kinder oder keine zu haben – wie man es in seinem Leben will und braucht –, dann folgt nichts weiter, dann ergibt sich nichts anderes. Man kann wirtschaftlich nicht unabhängig sein, wenn man keine Autonomie über seinen Körper hat. Das liegt allem zugrunde, was dann folgt.
Was mich bei der Durchsicht des „Frauenatlasses“ überrascht und schockiert hat, war die Tatsache, dass Buben nicht nur in den armen oder scheinbar weniger oder am wenigsten entwickelten Ländern Mädchen vorgezogen werden, sondern auch in reichen Industrieländern.
Das ist auch überraschend! Es scheint von unserer Position aus paradox, bis man erkennt, dass die extra Wertschätzung von Buben teilweise eine wirtschaftliche ist. In allen Kulturen wird angenommen, dass Buben, die einmal Männer werden, dann wirtschaftlich aktiver sein können, bessere Jobs haben werden, Familien und Eltern unterstützen können. Und wenn noch mehr Geld und Prestige auf dem Spiel stehen, kann der Druck, Buben zu bevorzugen, noch größer werden. Ja, es ist eine sehr interessante Entdeckung. Die feministische Forschung verfolgt das seit einigen Jahren. Wenn man sich die USA und Kanada anschaut – ich weiß nicht, wie es in Österreich ist, das schauen Sie sich an: Immer noch werden dort Buben Mädchen vorgezogen. Das passiert nicht so sehr auf reproduktiver Ebene, indem man Mädchen abtreibt. Aber auch in unserer Kultur werden Buben Mädchen auf vielerlei Weise immer noch stark vorgezogen. Wenn man Leute fragt, welches Geschlecht sie sich wünschen, wenn sie nur ein Kind haben könnten, dann ist die Antwort: einen Buben. Buben werden in Familien immer noch bevorzugt behandelt. Die gesellschaftlichen Signale männlicher Bevorzugung sind universeller, als wir annehmen. Angenommen, dass die meisten Leserinnen und Leser dieses Buchs aus reicheren industrialisierten Ländern sind und Menschen, die bestimmte Privilegien haben: Eines der Ziele dieses Atlasses ist es, Vergleiche zu ziehen. Denn wir in der sogenannten reichen „Ersten Welt“ sind es so oft gewohnt, auf bestimmte Praktiken in anderen Ländern zu schauen und mit dem Finger darauf zu zeigen und zu sagen: Oh, es ist schrecklich, wie sie Mädchen dort behandeln, oh, es ist schrecklich, was dort passiert. Und Ziel des Buchs ist es auch, zu zeigen: Natürlich ist es schrecklich, wie sie dort behandelt werden. Aber sie werden auch hier so behandelt, selbst wenn es sich vielleicht bei uns anders manifestiert. Aufzuzeigen, dass auch hier bei uns – ob das nun in den USA, Kanada oder Österreich ist – nicht alles o.k. ist und das Problem nicht nur dort drüben ist –, ist die zugrundeliegende Absicht dieses Buchs.
Auch das hat mich schockiert: Die Müttersterblichkeit nimmt fast überall auf der Welt ab, nur nicht in den USA, wo afroamerikanische Frauen in großer Zahl im Kindbett sterben. Liegt das auch an dem amerikanischen Gesundheitssystem, das Schwarze Menschen benachteiligt? Auch an Covid-19 sterben sie in deutlich höherer Zahl als Weiße Menschen.
Ja, es ist schockierend. Tatsächlich sind die Statistiken mittlerweile noch schockierender, als sie in meinem Atlas dargestellt sind. Die Trends halten an. Das Verständnis dessen, dass afroamerikanische Frauen in großer Zahl im Kindbett sterben, wird nun Teil des öffentlichen Bewusstseins und des öffentlichen Diskurses, wie es das bis vor kurzem nicht war. Verantwortlich für diese schockierenden Zahlen sind zwei Dinge: der Rassismus und das sehr problematische amerikanische Gesundheitssystem, das ein privates und kein öffentliches ist. Ich lebe schon lange in den USA, aber für mich als Kanadierin ist das amerikanische Gesundheitssystem ein Alptraum. Es ist absolut verdreht: Wenn man Geld, Verbindungen und einen guten Job hat, bekommt man gute medizinische Versorgung. Wenn man nicht in dieser Kategorie ist, dann ist es ein Wahnsinn!
Dann stirbt man.
Ja, es ist wahr. Afroamerikanische Frauen sterben wegen der Ungleichheiten dieses nur privaten Krankenversicherungssystems. Und noch etwas zum Coronavirus: Ich weiß nicht, ob es da geschlechtsspezifische Unterschiede gibt, aber wenn man in den USA an Covid-19 erkrankt war und nicht daran gestorben ist, dann hatte man eine sogenannte Vorerkrankung, eine Krankheit, die einen von vielen Krankenversicherungen ausschließen könnte. Wenn du jetzt Corona hattest, wird das sehr wahrscheinlich künftig deinen Zugang zur Gesundheitsversorgung beeinträchtigen. Die USA sind so eine Anomalie in der post-industrialisierten Welt, unter reichen Ländern. Es ist bizarr.
Der „Frauenatlas“ widmet sich auch dem Kapitel „Kleidervorschriften“ für Frauen: In manchen Ländern müssen oder sollen sich Frauen verhüllen. In Österreich und Frankreich ist das Tragen der Burka verboten. Die Meinungen zum sogenannten Burkaverbot gehen auch unter Feministinnen auseinander. Manche sagen, es ginge auch hier wiederum nur um die Kontrolle der Frauen durch Männer. Es wird auch kritisiert, dass sich die Diskussion immer nur um Kleider dreht.
Es ist sehr komplex. Auf der einen Seite ist es vielleicht eine wichtige Beobachtung, wenn westliche, nicht praktizierende Frauen eine bestimmte religiöse Bekleidung als Signal der Unterdrückung der Frauen kommentieren. Auf der anderen Seite berücksichtigt es in kultureller Hinsicht nicht, was wirklich vor sich geht. Es ist sehr schwierig für westliche Feministinnen zu verstehen, wann Restriktionen Frauen wirklich unterdrücken, oder wann sie ihnen das Recht geben, ihre eigenen Werte und ihre eigene Handlungsmacht auszudrücken.
Was muss sich ändern, damit es Frauen wirklich besser geht? Was wünschen Sie sich?
Das kann ich auf viele Arten beantworten. Auf einer utopischen Ebene würde ich sagen: Dass Frauen als gleichwertig angesehen werden und zu allem gleichen Zugang wie Männer haben müssen und es keine Diskriminierung gibt. In meiner idealen Welt sind alle gleich, über alle Unterschiede und Verschiedenheiten hinweg. Auf einer praktischeren Ebene würde ich sagen, eines der wichtigsten Dinge ist, dass Frauen wirtschaftliche Parität haben müssen. Sie müssen Zugang zu denselben Arbeitsbedingungen und derselben Entlohnung haben. Lohngleichheitsgesetze sind wirklich wichtig. Wie man an der Coronakrise sieht: Wir müssen wirklich untersuchen, welche die zugrundeliegenden Strukturen in den unterschiedlichen Erfahrungen von Frauen und Männern als Wirtschaftsbeteiligte sind. Wirtschaftliche Gleichheit ist also eines der wichtigsten Dinge. Aber zugleich auch die Autonomie der Frauen über ihre eigenen reproduktiven Rechte. Diese zwei Dinge sind die wichtigsten, an denen wir arbeiten müssen, um die Gleichstellung zu verbessern.
Auch die digitale Kluft ist nach wie vor gegeben?
Ja. Die Handy-Lücke wird zwar in fast allen Ländern der Welt kleiner. Aber es gibt immer noch große Lücken. In Amerika gibt es diesen Witz: Wer kontrolliert die Fernbedienung des Fernsehers in einer Familie? Normalerweise ist das der Mann. Legt man diese Beobachtung nun auf den Handy-Kontext um und nimmt an, dass es nur ein Handy im Haus gibt: Wer nimmt es mit, wenn er das Haus verlässt? Wer bestimmt, wer es verwenden darf und wie lange und für welche Zwecke? – Sogar in Haushalten mit Handy gibt es sehr starke Hinweise auf geschlechtsspezifische Unterschiede beim Zugang und bei der Benützung.
Wie schwierig ist es, frauenbezogene Daten in einer Welt zu bekommen, die auf männerbezogenen Daten basiert? Gibt es auch hier eine Datenlücke?
Absolut. Es gibt noch immer eine sehr große Lücke in der Aufschlüsselung nach Geschlechtern. Es gibt so viele Informationen, die nicht nach Geschlechtern aufgeschlüsselt sind. Es wurde jetzt in den USA viel darüber diskutiert, dass Coronavirus- und Gesundheitsdaten nicht nach Geschlechtern aufgeschlüsselt werden. Es ist erstaunlich, wie oft das Geschlecht nicht als Bezugspunkt in Daten herangezogen wird.
Haben Sie selbst in Ihrem Leben Diskriminierung erfahren?
Für viele von uns war die Diskriminierung, die wir erlebten, zum damaligen Zeitpunkt vielleicht unsichtbar. Oder wir waren uns dessen nicht bewusst oder nur im Rückblick bewusst. Ich führe ein privilegiertes Leben. Ich bin Kanadierin, ich habe eine Hochschulausbildung bekommen, ich habe einen sehr guten Job als Professorin, ich lebe in einer sehr privilegierten Gegend. Aber habe ich im Laufe des Lebens eine Lehrmöglichkeit nicht bekommen, weil ich Feministin oder eine Frau bin? – Ja, ich denke schon. War es mir damals bewusst? – Nein, nicht wirklich. Mir geht es wie allen Frauen: Fühle ich mich wohl, um Mitternacht zu Fuß durch die Straßen der Innenstadt zu gehen? – Nein. Ich bin mir dessen sehr bewusst, wo ich gehe, an welchen öffentlichen Plätzen sich zu welchen Uhrzeiten Männer aufhalten. Diese Zwänge betreffen mich genauso wie alle anderen Frauen. In professioneller Hinsicht war ich sehr privilegiert. Aber was zur ersten Ausgabe des „Frauenatlasses“ führte, den ich mit einer befreundeten Kollegin machte, war das: Wir sind beide Geographinnen, und es gab so wenig feministisches und Gender-Bewusstsein in unserer Ausbildung, dass es uns ankotzte.
Wie darf man sich Ihre Beratungstätigkeit für die UN vorstellen?
Ich arbeite mit der UN viel zu Umwelt und Gender, Klimawandel, Naturschutz und Katastrophen. Und ich versuche auch, verschiedenen Einrichtungen der UN bei der Produktion von geschlechtsspezifisch aufgeschlüsselten Daten zu helfen.
In den westlichen Ländern hört man oft, dass es uns Frauen ja hier so gut geht und wir so viele Rechte, dass wir alles haben, und wir darüber doch froh sein und uns nicht dauernd beklagen sollten.
Nein, haben wir nicht. Und der Kampf für Menschenrechte ist kein finaler. Man kann nicht sagen: Ich habe diese Leistung erreicht, und jetzt ruhe ich mich darauf aus. Frauenrechte in den Vordergrund zu rücken, heißt auch, Menschenrechte in den Vordergrund zu rücken. Man muss diesen Garten immer pflegen. Man hat vielleicht einen wunderschönen Garten, aber man muss ihn immer pflegen und darf nicht damit aufhören. Ich finde diese Haltung ziemlich traurig, wenn Leute so etwas sagen. Ja, in vielerlei Hinsicht sind die Dinge hier gut und haben sich verbessert, aber in anderer Hinsicht haben sie es überhaupt nicht. Und wenn wir uns von dem, was wir erreicht haben, abwenden, dann ist es, wie man sieht, sehr leicht, das Erreichte zu unterminieren.
Glauben Sie, dass sich Frauen durch die jüngsten Entwicklungen nun bewusster sind, wie fragil ihre Rechte sind?
Es gibt ein breiteres Bewusstsein dafür, auch wenn zur selben Zeit einige jüngere Frauen sagen, dass sie keine Feministinnen sind oder keine sein wollen. Aber ja, es gibt ein Bewusstsein für die Rechte und für die Anfechtungen dieser Rechte. Wir müssen ein wachsames Auge auf Frauenrechte, Menschenrechte haben. Sie sind keine singuläre Errungenschaft, von der man danach zu einer anderen Aufgabe weitergehen kann. Sie müssen kontinuierlich gehegt, gepflegt und verbessert werden.
Was erhoffen Sie sich?
Am meisten erhoffe ich mir eine immer weitere Verbesserung der Frauenrechte. Dazu gehören eine Abnahme der Gewalt gegen Frauen und eine Zunahme der Autonomie über ihren Körper und ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit. In Zeiten wie diesen habe ich auch ein Auge auf die Umwelt. Wenn wir weg von den fossilen Brennstoffen kommen – und das müssen wir –, dann muss diese Energiewende eine gerechte sein. Eine, die auch andere Gerechtigkeit inkludiert. Wir brauchen eine feministische, gerechte Wende. Darauf lege ich jetzt meinen Fokus: Feministisches Bewusstsein auf eine ökologische Wende weg von fossilen Brennstoffen zu lenken.
—
Joni Seager, „Der Frauenatlas. Ungleichheit verstehen“ (Hanser),
Übers. v. Renate Weitbrecht, Gabriele Würdinger, 208 S.