Susan Taubes Roman »Nach Amerika und zurück im Sarg« ist ein radikales, nun neu zu entdeckendes Werk. Illustration: Falk Nordmann.
Sophie Blind spricht sich aus, gibt Auskunft über ihre unglückliche Ehe, rechnet ab mit überkommenen Vorstellungen, traditionellen Erwartungshaltungen und sprichwörtlich alten Säcken. Sophie kommt als Figur schreibend zu sich, konfiguriert ihre Existenz neu – als Mutter, Geliebte und nicht zuletzt als Autorin. Sie schreibt ein Buch über ihre Lieben, verfolgt familiäre Verzweigungen zurück, rekonstruiert transatlantische Bewegungen vor dem Hintergrund globaler Geschichte und dem Zivilisationsbruch der Shoah. Dieser Roman – der Text im Text – ist ihr gleichermaßen Instrument und Ausdruck von Befreiung von den Vorgaben des Patriarchats und der herkömmlichen Vernunft. Ihr Buch ist Mittel der Verortung und Verwandlung, Ausdruck eines individuellen Willens im Konflikt mit der Gesellschaft und ihren Prämissen. Und Sophie ist bereit, einen hohen Preis für die Möglichkeit des Entzugs aus allen Formen der Verfügung und Zähmung, für ihr Sichtbarwerden zu zahlen. So weit richtig und bemerkenswert, wenngleich auch wenig neu – aber, was nur eine der vielen Überraschungen dieses kaleidoskopartigen Romans aus 1969 ist, hier spricht und schreibt eine Tote. Sophie Blind, Hauptfigur in Susan Taubes’ Roman »Nach Amerika und zurück im Sarg«, ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Üblicherweise könnte eine Geschichte hier schon ihr Ende haben, für Sophie aber ist das Sterben erst der Anfang, ja geradezu die Voraussetzung, um zur (literarischen) Sprache zu finden, um sich in aller Radikalität auszudrücken ohne sich im klassischen Sinne erklären oder gar rechtfertigen zu müssen. Vielheit wird ihr zur Wahrheit des eigenen Selbst, in der Erfindung ihrer Geschichte und der Geschichten Dritter findet sie sich, bezeugt ihr Schicksal. Sophie gespenstert dabei über Kontinente und zwischen Textsorten. In Brief, Drama und vor allem Prosasequenzen bietet sie, Alter Ego der Philosophin und Autorin Susan Taubes (1928–1969), eine Achterbahnfahrt zwischen Erinnerungen, Träumen, realistisch anmutenden Momenten und surreal-absurden Episoden. Verknüpft durch die thematischen Konstanten des Todes und der Trauer, des Unsteten und des unaufhörlichen, mitunter schwindelerregenden Wechsels, spricht Susan Taubes durch Sophie Blind über weibliche Identität, jüdische Familiengeschichte, über eine Zerreißprobe, die durch äußere Zuschreibungen und den Wunsch existenzieller Selbstbestimmung bedingt ist. Was alles dabei noch besser und zugleich auch noch schlimmer macht, ist der Umstand, dass im Zentrum dieses wunderbaren Textmonsters ein zerbrechliches, vielleicht auch gebrochenes Herz sitzt, das von Romantik über die kurze Spanne eines menschlichen Lebens hinaus schlicht genug hat.
Diese Form einer auch von Motiven des Horrors und des Unheimlichen durchzogenen ungeschützten, ermächtigenden Rede mit den Mitteln der Literatur erlaubt nicht nur, wie Sigrid Wiegel in ihrem Vorwort bemerkt, einen Vergleich zu Ingeborg Bachmanns »Malina« (1971), sondern wohl auch zu Elfriede Jelineks eigentlichem Hauptwerk »Die Kinder der Toten« (1995), das gleichermaßen an Herk Harveys B-Movie »Carnival of Souls« wie auch Thomas Pynchons »Gravity’s Rainbow« geschult ist. Susan Taubes’ Roman kann neben diesen Werken bestehen – und die nun neu aufgelegte Edition ist darüber hinaus mit hellsichtigen Begleittexten versehen, die eine Einordnung dieses mitunter recht sperrigen Textes in Taubes’ Leben und Werk erlauben. Taubes’ einziger zu Lebzeiten publizierter Roman erschien zwei Jahre nach ihrer Scheidung vom gleichermaßen prominenten wie umstrittenen Philosophen Jacob Taubes und nur eine Woche vor ihrem Freitod. Es verwundert nicht, dass ihr Roman »Divorcing« deshalb lange Zeit ausschließlich als autobiografisches Werk gelesen wurde. Gewiss hat Taubes zwar Aspekte ihrer Vita darin verarbeitet, »Nach Amerika und zurück im Sarg« – so der ursprüngliche, von ihr gewünschte Haupttitel – geht aber weit über die Grenzen klassisch autobiografischer Texte oder sogenannter Schlüsselromane hinaus. »Scheiden tut weh«, so der Titel der ersten deutschsprachigen Ausgabe, kann mittlerweile auch als Summe von Taubes’ literarischen Arbeiten gesehen werden, die sie im Zeitraum ab 1957 vorantrieb, auch um sich als literarische Autorin vom akademischen Betrieb abzusetzen und zu emanzipieren. Aber anders als ihre wissenschaftlichen Arbeiten blieb der Großteil dieser Texte, trotz Fürsprechern wie Samuel Beckett, Susan Sontag oder Bernard Pomerance, unveröffentlicht – einzig die beiden Erzählungen »The Sharks« und »The Patient« konnten von einer literarischen Agentur zu renommierten Zeitschriften vermittelt werden. Die mittlerweile gesammelt vorliegenden Prosaarbeiten zeigen uns Taubes als produktive Autorin, die von einer Liebe zur Literatur erfüllt ist. Ihre Erzählungen mögen düster oder gar hart sein, lesenswert sind sie, auch als Schritte hin auf ihren Roman zu, allemal. Denkbar ist darüber hinaus auch das Nachwirken von Taubes’ religionswissenschaftlichen Arbeiten in ihrer Literatur: Nicht wenige ihrer Forschungen sind durch die Auseinandersetzung mit der frühchristlichen Gnostik bestimmt, in deren Zentrum der Sündenfall als Voraussetzung der Erlösung steht. Wenn Sophie Blind also rundum eingesteht: »Ich bekenne mich schuldig im Sinne der Anklage«, betreibt sie mit bitterer Komik und tragikomischer Bestimmtheit Selbsterlösung – durch Schreiben.
Susan Taubes
Nach Amerika und zurück im Sarg
Ü: Nadine Miller
Matthes & Seitz, 380 S.
Susan Taubes, Christina Pareigis (Hg.)
Prosaschriften
Ü: Werner Richter
Wilhelm Fink, 256 S.