In einer nahen Zukunft haben Digitalkonzerne eine „sanfte globale Herrschaft“ errichtet. „Innere Dateien“ speichern das Leben der Menschen, lassen Digitales und Analoges, Tod und Leben, Erinnern und Vergessen verschwimmen und ermöglichen auf diese Weise ungeahnte Glücksgefühle. Claudia Tieschky hat in „Die silbernen Felder“ unsere Welt noch weiter ins Digitale gerückt und erzählt im Interview von ihrem persönlichen Bezug zu Glück, Realität und Erinnerung. Foto: Stephanie Füssenich.


Buchkultur: „Die silbernen Felder“ liest sich wie eine dunkle Vision digitaler Totalität, in der nur wenige Inseln bleiben, auf denen man sich selbst gehört. Viel mussten Sie nicht zu unserer Realität hinzuerfinden, nur einige Schrauben etwas weiterdrehen. War das nicht auch beängstigend?

Claudia Tieschky: Nein, nicht beängstigend, ich fand das eher faszinierend. Wir deuten die Gegenwart als etwas, das unserer Welterfahrung entspricht. Insofern passen wir Entwicklungen in unsere Weltdeutung ein. Aber es ist ganz und gar möglich und sogar wahrscheinlich, dass wir Dinge aus der Vergangenheit her deuten, während sie eigentlich Teil eines ganz anderen Bildes sind. Ich denke, wir stehen an so einer Schwelle.

In Ihrem Roman ermöglicht das sogenannte Liebseligkeitsprogramm u.a. in virtuellen, digitalen Realitäten alles auszublenden, was das Glücksempfinden stören könnte. Einmal heißt es, einige Familien seien nicht „auf die vorgeschriebene Weise glücklich“. Was bedeutet Glück für Sie? Und glauben Sie, dass Glück (es zu empfinden, zu erreichen, zu halten, darzustellen, zu teilen) heute zu wichtig genommen wird?

Gegenfrage: Was würden wir von einem Menschen halten, der bekennt, dass es ihm vollkommen gleichgültig ist, ob er glücklich ist? Es ist normal, dass man glücklich sein möchte in seinem Leben. Vielleicht gibt es heute besonders viele Glücks-Angebote, die nicht halten, was sie versprechen, kann sein. Fiona hätte darauf ihre eigene Antwort, nehme ich an. Was Glück für mich bedeutet, kann ich schwer sagen, möglicherweise bin ich nicht sehr glücksbegabt. Man weiß nie vorher, was einen glücklich macht, oder?

Deswegen fand ich übrigens auch die Vorstellung interessant, dass die Möglichkeit, wirkliches Glück für jeden Einzelnen berechnen und liefern zu können, eine hohe Überzeugungskraft und großen Reiz besitzen würde.

An einer Stelle im Roman schildert Margarethe ihren Besuch in einer Shopping-Mall mit den Worten „Keiner scheint froh über die erworbenen Sachen, alle sind einfach nur schlapp“. Sie selbst allerdings liebt es, dort zu sein, weil die Produkte, so sagt sie, schon allein ihrer schieren Menge wegen dort, „real“ sein müssen. Ist Virtualität irreal? Wenn ja, was charakterisiert eine „reale“ Erfahrung?

In diesem Moment ist Margarethe glaube ich ein bisschen beschwipst von der kollektiven Realität des hemmungslosen Konsums. Das Gegenteil davon ist aber nicht Irrealität oder Verzicht, sondern ihre selbstgewählte Einsamkeit.

Die Überlegung, ob Virtualität irreal ist, wirft im übrigen interessante Fragen auf. In manchen Bereichen lässt sich klar sagen, dass Virtuelles im Konflikt mit der Realität steht, bei deep fakes zum Beispiel. Aber Gefühle, die durch virtuelles Erleben ausgelöst werden, sind ja echte Gefühle. Wie bei den Reisen, die wir beim Lesen oder in Filmen unternehmen. Das innere Erleben eines Menschen war noch nie an die Realität gebunden.

In einen für alle zugänglichen Speicher werden Erinnerungen und Gefühle jedes Menschen geladen, das ist einerseits eine Form von Unsterblichkeit, andererseits eine Weiterentwicklung dessen, was das Internet heute schon ist. „Das Internet vergisst nichts“, heißt es ja. Das Vergessen ist allerdings auch eine wichtige Kulturtechnik.

Vergessen ist für die Kurzstrecke tatsächlich manchmal prima und erleichtert Dinge ungemein. Ich nehme an, Sie spielen auch auf das Recht auf Vergessen an, ein wichtiges Thema. Mir ging es allerdings tatsächlich um die Idee des Erinnerns. Der Tod begrenzt dummerweise die Zeitspanne, in der ein Mensch kommunizieren kann. Aber wir wissen dennoch aus Literatur, Kunst, Wissenschaft, was Menschen im 16. Jahrhundert dachten, wir lesen Romane und Gedichte oder schauen auf Bilder und bekommen konservierte Erzählungen.

Mich hat sozusagen die Konkurrenz-Idee interessiert, die eigentlich auf der Hand liegt, wenn man sieht, wie nach und nach die Bereiche des Lebens digitalisiert werden – warum also nicht irgendwann auch die Erinnerung eines Menschen? Eine Überlieferung über den Tod hinaus, sozusagen ohne den Umweg des künstlerischen Prozesses, ohne künstlerische Form, ohne ein Subjekt namens Autor. Das ist die Idee der „Inneren Dateien“.

Die digitale Sphäre hat im Roman gleichsam die analoge abgelöst und wer sich ihr verweigert, macht sich verdächtig. Aus den guten, vielleicht sogar unschuldigen Intentionen einiger Silicon- Valley-Pioniere ist eine digitale Diktatur für alle geworden. Fast liest es sich wie ein Versehen, wie eine Idee, die außer Kontrolle geraten ist. Wie viel Digitales verträgt ein Leben?

Schwer zu sagen. Neue Kulturtechniken werden erfunden, verfeinert, integriert und schließlich normal.

Als Medienredakteurin befassen Sie sich auch beruflich viel damit, auf welche Weise sämtliche Medien unseren Alltag und unser Erleben prägen, nicht zuletzt sind Sie selbst Teil der Medien. In sozialen Medien aber sind Sie selbst nicht sehr aktiv. Spielen da auch Bedenken eine Rolle, die Sie mit Ihrem Roman auf die Spitze getrieben haben?

Nein. Ich bin nur manchmal Twitter-faul.

In der Verlagsvorschau wird der Roman mit der „Black Mirror“-Serie verglichen. Haben Sie sie gesehen und finden Sie sich in diesem Vergleich wieder?

Was ich an Black Mirror interessant fand, ist diese irritierende Überlappung von digitalen Gewohnheiten, die wir jetzt schon haben, und dem Bild, das sich ergibt, wenn die Erzählung ein wenig damit spielt. Insofern: Ja. Aber natürlich ist mein Roman etwas ganz anderes.


Claudia Tieschky, geboren 1968 in Augsburg, studierte Germanistik und Geschichte und ist seit 2003 Medienredakteurin der «Süddeutschen Zeitung». 2016 wurde sie mit dem Bert-Donnepp-Preis, dem Deutschen Preis für Medienpublizistik, ausgezeichnet. Claudia Tieschky lebt in München. 2018 erschien ihr vielgelobter Debütroman «Engele» (Rowohlt).

Claudia Tieschky
Die silbernen Felder
Rowohlt, 192 S.