Mit dem Buch „Sommer“ ist die Jahreszeiten-Tetralogie der schottischen Schriftstellerin Ali Smith nun auch auf Deutsch vollständig erschienen. Konrad Holzer hat die in England lebende Erzählerin, die es wie kaum eine andere versteht, aktuelle Themen zu Geschichten zu verknüpfen, zu einem Interview gebeten. Sie erzählt darin warum sie ihre Übersetzerin Silvia Morawetz so schätzt, von „Wegwerfmomenten“ und der Macht des Narrativs. Foto: Imago Images/Italy Photo Press, Übersetzung: Martina Gort.


Buchkultur: Es ist vielleicht eine redundante Frage, aber ich würde sie trotzdem gerne stellen: Gibt es einen bestimmten Grund dafür, dass Sie Ihre Bücherreihe mit der Jahreszeit Herbst begonnen haben? Wollten Sie, dass die Geschichte – wie bei Shakespeare – mit dem „leuchtenden Sommer“ zu einem Ende kommt?

Ali Smith: Mein Plan war es, mich durch die natürliche Verfinsterung und Dunkelheit des Winters bis hin zur hellsten Jahreszeit vorzuarbeiten. Letztendlich wandern die Jahreszeiten aber durcheinander und so spielt das Buch „Frühling“ im Herbst, während „Sommer“ größtenteils im Winter/Frühlingsbeginn beheimatet ist.

Als begeisterter Leser von Ihren Büchern würde ich gerne wissen, wie ich mir Ihre Arbeitsweise vorstellen kann. Angesichts der Tatsache, dass der „Sommerbruder“ bereits im ersten Buch erwähnt wird, nehme ich an, dass Sie schon während des Schreibens von „Herbst“ eine Vorstellung von den weiteren Büchern hatten. Stimmt diese Vermutung?

Nein, ich hatte keine Ahnung, echt gar keine. Ich wusste bei keinem Buch, als ich es angefangen habe zu schreiben, was es mit sich bringen würde. Ich hatte keine Vorstellung davon, welchen Weg es gehen würde oder wer die Menschen wohl sind, die Teil der noch unergründbaren Geschichte werden würden. Aber jedes Buch hat mir Momente geschenkt, die auf den ersten Blick zum Wegwerfen ausgesehen haben. Als ich sie dann geschrieben habe, waren sie auch Wegwerfmomente, sie haben dann aber eine Türe für weitere Verbindungen eröffnet. So wie es manche von unseren Wegwerfmomenten in unserem Leben auch tun. Nichts ist nicht miteinander verbunden. Zum Beispiel stammt die Grundidee von „Sommer“ aus einem Moment, in dem die Pflegekraft eines Altersheims einem Besucher über den schlafenden Kopf eines Mannes hinweg dessen Lebensgeschichte erzählte; und so etwas in der Art ist bei jedem Buch passiert.

Also war die Handlung von allen vier Büchern nicht geplant, als Sie angefangen haben das Erste zu schreiben?

Nein, wie bereits oben gesagt, ich hatte echt keine Ahnung, wohin mich die Bücher bringen würden, oder auch in welcher Art und Weise sie mich dahin bringen würden. Jedes Mal, wenn ich am Beginn des Schreibens dachte, ich wüsste was passieren wird, entglitt das Buch fast schon spöttisch meinen Vorstellungen.

Dementsprechend hat sich die Bücherreihe eher natürlich entwickelt. Denken Sie, dass die Entwicklungen von aktuellen Umständen – wie beispielsweise der Brexit, Migrationspolitik oder Boris Johnson, etc. – abhängig waren?

Es war eher eine Entdeckung, dass Themen wie Brexit, Migration, Politik, Johnson, etc. die entscheidende Relativierung ermöglichen, die nur das Narrativ schafft. Sobald wir diese Themen auch nur in die Nähe von Geschichten und Erzählungen bringen, werden sie weniger befremdlich und ihre wahren erschreckenden Auswirkungen ersichtlich. Das wahre Ausmaß, die Konsequenzen und die Bedeutung dieser Themen für unser Leben werden klar erkennbar, und zwar nicht in einem Nachrichtenkontext oder einem oberflächlichem Informationskontext, sondern in einem menschlichen Kontext. Geschichten lassen uns Dinge als das sehen, was sie wirklich sind.

Während ich Ihr Buch gelesen habe, habe ich mich gefragt, ob der Inhalt und die Personen mit der Zeit unabhängiger von Ihnen geworden sind und sich sozusagen von ihrer Autorin losreißen konnten. Vom ersten Buch an wurden immer mehr und mehr Personen eingeführt, aber ich hatte auch das Gefühl, dass Sie mehr und mehr von sich selbst und Ihren persönlichen Perspektiven preisgegeben haben. Würden Sie sagen, dass dieser Eindruck richtig ist?

Es gibt keinen richtigen oder falschen Weg einen Roman zu lesen! Wenn eine Person einen Roman liest und völlig in die Geschichte eintaucht, verfließt das Selbst und die Geschichte, das Selbst und das Andere, das Selbst und die Erzählstruktur, das Selbst und die Frage nach allen Strukturen: narrative, soziale sowie persönliche. Ich mag Cynthia Ozick’s Definition der Kurzgeschichte und des Romans. In meinen eigenen Worten wiedergegeben, schlägt sie vor, dass eine Kurzgeschichte wie ein Glücksbringer ist, den du findest und in deine Tasche gibst, um durch einen dunklen Wald zu reisen. Ein Roman hingegen ist die Reise selbst, die dich am Ende verändert haben wird, die sich am Ende aber auch durch dich verändert haben wird. Ich denke, wie stark die Veränderung ist, hängt davon ab wieviel Aufmerksamkeit du ihr, aber auch sie dir geschenkt hat.

Hinsichtlich des Romans „Sommer“: Allem voran hat die Frage nach den unterschiedlichen Generationen mein Interesse geweckt. Hegen Sie Hoffnung, dass junge Frauen wie Florence und Sacha die Welt zu einem besseren Ort machen werden? Oder denken Sie, dass diese nur den älteren Generationen Vorwürfe machen werden? Sacha bringt es einmal im Buch auf den Punkt, als sie auf Seite 75 sagt: „Gebt uns die Verantwortung für alles, was ihr vermasselt habt, aber gebt uns keine Macht, irgendwas zu verändern.“

Ich denke, die Generation, die sich gerade in Richtung junges Erwachsenenalter bewegt, wird sich reingelegt und betrogen fühlen, genau das ist uns ja allen passiert. Der Planet, den sie von uns erben, wurde von falschen, miesen Menschen – viele von ihnen momentan die mächtigsten Personen der Welt – verkauft und geht jetzt den (vergifteten) Bach runter. Aber wir werden das schaffen. Die Entschlossenheit der jungen Menschen zeigt, dass wir das werden. (Nichtsdestotrotz hoffe ich, dass das bald passiert. Bald genug.)

Ihrer Zukunftspläne betreffend: Wird diese Tetralogie Ihre zukünftige Arbeit beeinflussen? Und falls ja, wie? Haben Sie geplant, weiterhin soziale und politische Strukturen in Ihren Büchern zu kommentieren und werden diese Themen auch in Zukunft eine so große Rolle in Ihrer Arbeit einnehmen?

Solche Dinge können nicht wirklich geplant werden. Wenn über eine bestimmte Zeit geschrieben wird – und in keinem fiktiven Werk lässt sich Zeit ausblenden – dann formen und erzählen diese Dinge automatisch die Geschichte dieser Zeit.

Inwiefern haben Sie mit der deutschen Übersetzerin Ihrer Bücher Silvia Morawetz zusammengearbeitet?

Überhaupt nicht. Aber wir hören immer wieder mal voneinander, wir haben über die Jahre oft miteinander gesprochen und sie ist eine liebevolle, scharfsinnige, kluge, unterstützende und vor allem verstehende Übersetzerin. Ich denke nicht, dass ein Buch richtig existiert bevor es auch in einer anderen Sprache existiert. Alle Sprachen sind wie eine Familie, denn Sprache ist ein riesiger, verwobener Organismus, der lebt, weil wir immer, wenn wir Bedeutung kreieren, auch unaufhörlich übersetzen. Und deshalb liebe und verehre ich die Personen, die meine Arbeit übersetzen.

Ich selbst bin ein großer Fan von Silvia Morawetz und ihre Übersetzung liest sich für mich wie ein deutsches Original. Sie hat wirklich gute Arbeit geleistet. Nichtsdestotrotz könnte und sollte meiner Meinung nach die Rezeption Ihrer Bücher im Deutschen größer sein. Haben Sie eine Idee, wieso das so ist?

Ich denke manchmal brauchen Bücher ihre Zeit. Es gibt kein Grund zur Eile.

Außerdem nehme ich an, dass die Beliebtheit der Bücherreihe mit der jetzigen Veröffentlichung des neuen und letzten Romans „Sommer“ weiter steigt.

Es genügt mir, wenn auch nur eine Person das Buch liest und eine Art zuhause darin findet.


Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht und zahlreiche Preise erhalten. Ihr Roman „Beides sein“ wurde 2014 vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Costa Novel Award, dem Goldsmiths Prize und 2015 mit dem Baileys Women’s Prize for Fiction. Mit „Herbst“ kam die Autorin 2017 zum vierten Mal auf die Shortlist des Man Booker Prize sowie auf Platz 6 der SWR-Bestenliste.

Ali Smith
Sommer
Luchterhand
Ü: Silvia Morawetz, 384 S.