Provokant, scharfsinnig, tragikomisch, klug, ironisch und ungeheuer witzig: Nell Zinks »Avalon« ist eine böse Abrechnung mit unserer ellbogenkapitalistischen Gesellschaft, eine Absage an eine (Un-)Kultur, die Gewalt, Kitsch und Erfolg verherrlicht, hoffnungsvoller Coming-of-Age-Roman und zugleich eine verquere Liebesgeschichte. Foto: Francesca Torricelli.


Die Protagonistin Bran hat im Leben nicht gerade die Poleposition gezogen: Sie wächst in Südkalifornien als Halbwaise in ärmlich-kriminellen Verhältnissen auf und verliebt sich spontan in einen jungen Studenten von der Ostküste. Peter erkennt ihr Talent und ermuntert sie zu schreiben. Wenn er nur nicht mit einem bruneiischen Mädchen verlobt wäre. Das Interview mit der seit vielen Jahren im brandenburgischen Bad Belzig ansässigen US-Amerikanerin, die schreibt wie niemand sonst.

Buchkultur: Ihr wunderbarer Roman »Avalon«: Bran, die Ich-Erzählerin, wäre von ihrem Intellekt und ihrer Kreativität her sehr wohl in der Lage, zu studieren oder eine künstlerische Karriere einzuschlagen. Aber ihre soziale Herkunft, ihre dysfunktionale »Familie« (die nicht einmal ihre ist) verhindert das. Was verkörpert Peter für sie? Weshalb lässt sie sich auf ihn ein? Ist er für Sie ein Weg, sich Bildung anzueignen und aus ihrem Elend rauszukommen? Erhofft sie sich, durch ihn an dieser ihr verschlossenen Welt teilhaben zu können?

Und was für ein Mensch ist Peter, der, trotz allem, zu ihr hält und sie nicht zurücklässt wie ihre anderen Highschool-Freunde?

Nell Zink: Peter ist gutaussehend und nett zu ihr. Er schenkt ihr Aufmerksamkeit, die sie so gar nicht kennt, aber er hält sich auf Distanz. Für ein einsames Mädchen ist das erst mal eine Herausforderung. Sie verliebt sich spontan und muss damit klarkommen. Sie hat dabei das Glück, dass er hoffnungslos verkopft ist. Er will sie nicht ausnutzen. Er führt sie in eine Welt voller Systeme und Strukturen ein, in der jedes Ereignis erst mal einer Analyse unterzogen wird. Sie ist selbst so schüchtern, dass sie sein Versteckspiel durchschaut, aber sie weiß nicht, ob er sich – und sie – nicht damit auch schützt.

Wie ausgeprägt und bestimmend für das weitere Leben ist in den USA die soziale Herkunft, die »Klasse«? Ist die soziale Kluft unter/seit Trump noch größer geworden?

In den USA ist die Oberschicht offen für jeden, der reich ist, ein Klassensystem ist es nicht. Die soziale Kluft ist nichts anderes als die Einkommensschere, die wir dem Neoliberalismus verdanken – nicht Trump. Durch Peter hat Bran bloß Kontakt zu einer Art akademischer Oberschicht, die nicht so durchlässig wie die finanzielle ist, aber immerhin weniger endogam.

Bran wird von den Männern ausgenützt: zuerst von den Männern »ihrer« Familie und später auch von Jay (für den sie Drehbücher schreibt, die er als seine ausgibt) und Peter, der sich in ihrer Bewunderung und Liebe für ihn suhlt. Peter verlobt sich mit Yasira, weil sie »einfach« ist und ihm einmal alles »Unangenehme« wie Haushalt und Kindererziehung vom Leib halten soll (in dieser Hinsicht ist er ja ein ziemlicher Macho). Wie würden Sie Brans Entwicklung im Laufe des Romans beschreiben? Können Sie sich mit ihr und ihren Kämpfen identifizieren? Welche Entwicklung macht sie durch? Glauben Sie, dass sie sich eines Tages emanzipieren wird – aufblühen wie die Pflanzen, für die sie sorgt? Dass sie ihren Platz im Leben finden wird?

Ich glaube auf jeden Fall, dass Bran glücklich wird! Mit Peter wird sie schon fertig. Sie kann ihn umerziehen. Am Schluss wirft er quasi das Handtuch. Die Frage ist, ob die zwei zusammenbleiben. Aber da soll sich das Publikum selber fragen, ob das wünschenswert wäre. Bran blüht unter seinem Einfluss auf, weil er ihr ein Selbstwertgefühl gibt, das ihr vorher gefehlt hat. Nur dann fängt sie an, auch von anderen Hilfe entgegenzunehmen. Das ist ein Hauptthema des Buchs: Dass sie es nicht alleine schafft, weil es niemand alleine schafft. Die Erfolgreichen sind die, denen von Anfang an geholfen wird. Sie kann dem Peter nur helfen, ein integrer Mensch zu werden. Am Schluss weiß er das auch.

Was bedeutet Avalon, der mythische (Sehnsuchts-)Ort für Bran? Ist Avalon ihre Rettung in schweren Kindheits- und Jugendtagen?

Es war die Zuflucht ihrer Mutter, bis der tibetische Buddhismus dazwischenkam. Für Bran ist es denkbar zweideutig – Utopie heißt ja nicht »Paradies«, sondern »nirgendwo«. Was ist denn die Welt der Kunst, in die Peter dem Leben entkommen möchte – ein würdiges Ziel oder ein Ausweg? Wenn ich die Antworten auf solche Fragen wüsste, müsste ich darüber keine ganzen Romane schreiben.

Wie autobiografisch ist »Avalon«? Was ist der Hintergrund des Romans?

Und was waren Sie für ein Kind?

Ich war scheu und unangepasst, ähnlich wie Bran, aber im gänzlich anderen Kontext einer intakten Familie. Doch autobiografisch oder genauer gesagt biografisch ist das Porträt von Peter. Da gibt es wirklich ein konkretes Vorbild, wenn er auch durch die Geschichte sehr verfremdet wird. Südkalifornien kenne ich aus erster Hand, ich bin da geboren und hatte in den letzten Jahren oft meinen Onkel in L.A. besucht, bis er an Corona starb. Wie in allen meinen Romanen fließen reelle Erfahrungen ständig mit rein, sonst wäre das alles Kitsch aus vorgefertigten Versatzstücken, wie bei einem Krimi.

Sie haben jahrelang nur für die Schublade oder für Ihren Freundeskreis geschrieben und waren bereits über 50, als Sie Ihren fulminanten Debütroman »Der Mauerläufer« veröffentlichten. Wie kam es dazu und welche Rolle spielte Jonathan Franzen dabei?

Franzen schrieb 2010 für den New Yorker ein Stück über die illegale Vogeljagd in der EU. Daraufhin schrieb ich ihm einen Brief über die Zustände bei den Beitrittskandidaten auf dem Balkan. Ich war über die Arbeit als Übersetzerin mit einem Vogelschützer befreundet, der sich eine breitere Öffentlichkeit für die Probleme dort wünschte. Meine Hoffnung war, dass Franzen sich dann mit ihm kurzschließt und noch einen prominenten Artikel schreibt. So kam es auch. Nebenbei hat er dann auch meine Karriere als Schriftstellerin lanciert. Er ist eben sehr nett.

Was war das für ein Gefühl, zum ersten Mal ein gedrucktes Buch mit Ihrem Namen darauf in den Händen zu halten? Sind Sie noch immer mit Jonathan Franzen befreundet, in Kontakt?

Die gedruckten Bücher finde ich weniger aufregend als die ersten Rezensionen. Mich interessiert ja der Text und nicht die Verpackung. Mit Franzen habe ich seit bald einem Jahr nicht mehr geplaudert, aber ich habe keine Zweifel, dass wir uns gut finden. Wenn ich das nächste Mal in Kalifornien bin, schaue ich bei ihm vorbei.

Im »Mauerläufer« geht es u. a. auch um Klimaaktivismus und den Schutz der Natur (und auch darum, dass wir dabei vielleicht oft auch vieles falsch machen). Was halten Sie von den Klimaprotesten z.B. der Letzten Generation, von den Klebeprotesten, die auch vor Gemälden, vor Kunst nicht Halt machen usw.?

Sie engagieren sich für die Grünen. Haben Sie noch Hoffnung, dass Klimaschutz funktioniert, dass wir die Katastrophe aufhalten können?

Die Katastrophe ist schon da. Die Gelbwesten in Frankreich – eine rechte Bewegung – griffen zur Gewalt und haben viel erreicht; die viel breitere friedliche Bewegung gegen Macrons Rentenreform wird hingegen politisch kaum beachtet. Da darf man sich schon überlegen, ob es nicht Zeit wäre, den Klimakampf ein wenig zu eskalieren. Fridays for Future agiert gewaltfrei, aber frag Greta Thunberg lieber nicht, was sie bisher konkret erreicht hat. Das Problem ist nur, dass die Letzte Generation weder eskaliert noch konsequent denkt. Ihr »ziviler Ungehorsam« verstößt ausschließlich gegen vernünftige Gesetze, ihr Vandalismus attackiert die Kunst und das Grundgesetz, und statt in die Schlacht zu ziehen, lassen sie sich von der Polizei auf Märtyrer-Art verletzen und wimmern dabei wie Hündchen. Die Taktik ist so verblüffend doof, dass ich mich frage, ob da nicht Provokateure eine Rolle spielen.

Ihre Romane sind großartige Satiren auf unsere Gegenwart, voller schwarzem Humor und politisch inkorrekt. Helfen Witz und Ironie, um das Leben in all seinen, auch bitteren, Momenten auszuhalten?

Sie helfen gar nicht, aber sie schützen vor Gefühlen, die zu schmerzhaft sind. Irgendwann muss man sie überwinden. Mir gefällt ja alles Paradoxe, und dazu gehört auch der Humor als Begleiterscheinung des Horrors.

Ich habe aber auch das Gefühl, dass der Humor Ihre zweite Natur ist. Ist da so?

Leider ja!

Was halten Sie von der Cancel Culture? Von politischer Korrektheit in der Literatur? Geht das nicht zu Lasten des Humors und der Ironie? Was darf/soll Literatur, was nicht?

Literatur darf alles, und die Kritik auch. Die Grenzen des guten Geschmacks bleiben in Bewegung. Frauenfeindlichkeit scheint noch problemlos durchzugehen, Rassismus schon nicht mehr. Es sind ohnehin selten Autoren, die wegen ideologischer Vergehen »gecancelt« werden, sondern Lehrkräfte. Studis versuchen, ihre frisch entwickelten ethischen Grundsätze sowohl gegen Einzelpersonen als auch gegen Strukturen durchzusetzen, das ist nichts Neues, über Verantwortung kann man debattieren. Und währenddessen lesen die meisten Leute sowieso keine Belletristik, sie streamen erotische Thrillerserien und spielen Ego-Shooter und lesen höchstens mal einen Krimi oder eine minderwertige Mord-Orgie wie »Das Parfum«, und gerade deswegen regen sie sich so auf, wenn doch mal ein Autor wegen bigotter Äußerungen oder Nähe zu rechten Kreisen »vernichtende« Kritik erfährt. Wegen mir darf die Kunst gerne eine linke Avantgarde sein, oder zumindest den Versuch wagen. Ich hätte kein Problem damit!

Ihre Protagonistinnen und Protagonisten sind alle mehr oder weniger Außenseiterinnen und Außenseiter oder Angehörige einer Subkultur. Empfinden oder empfanden Sie sich selbst auch als Außenseiterin? Welche Kraft liegt in der Subkultur?

Schon in jungen Jahren fiel mir auf, dass Menschen sich gerne anpassen, wenn es klappt. Es lebt sich sicherer in der Herde. Wenn man einen interessanten Gedanken hören will, muss man zu den Ausgestoßenen gehen, die sich weder anpassen können noch dürfen – sprich den diskriminierten Minderheiten –, da sind die Reichtümer zu finden. Ob sie Subkulturen darstellen, weiß ich nicht, aber der Mainstream wäre ohne die Vereinnahmungen kulturell super-mega-öde. Nur noch Verdienstkreuzverleihungen an staatstragende Kulturhelden.

Im Buch diskutieren Bran, Jay und Peter auch über unsere »faschistoide« und Gewalt verherrlichende Kultur: Wenn man Erfolg haben will, müsse man dem Markt genau das geben. Wie dürfen wir das verstehen? Was sind die Folgen einer solchen (Un-)Kultur und wie können wir gegensteuern?

Das ist ein Hauptthema im Buch, ich will nicht alles vorwegnehmen, aber die Bran beschäftigt sich sehr intensiv mit der Frage, wie man kreativ tätig werden kann in einer Welt, die nur auf Gewalt, Kitsch und Erfolg ermutigend reagiert. Auf einer Meta-Ebene schwingt es auch mit. Ich lasse sie nicht umsonst in dieser harten Umgebung als Versagerin aufwachsen!

Im Internet oder im Film sehen wir das ja häufig. Sehen Sie diese Entwicklung auch in der Gegenwartsliteratur gegeben? Was kann man dagegen tun bzw. wie gehen Sie dagegen vor? Und vor allem: Wie kann man denn kreativ tätig werden in so einer Welt? Wie versuchen, machen Sie das?

Haben Sie Sorge, dass vor allem junge Menschen durch diese Entwicklung abstumpfen und welche Folgen hat das?

Ziemlich jedes Kunstwerk wird eher dann ernstgenommen, wenn es traditionell männliche Motive zeigt. Nur für »Erwachsene«, nichts für die »Familie« – expliziten Sex, expliziten Krieg usw. Das stumpft manche ab, die meisten macht es bloß deprimiert und ängstlich und damit konservativ. Ich glaube kaum, dass das außerhalb von totalitären ästhetischen Systemen je anders war. Die »Ilias« ist ja keine Netflix-Produktion. Gegen den Militarismus kann die Unbewaffnete wenig ausrichten, aber einen Versuch ist es wert, schon wegen der Selbstachtungsfrage.

Haben Sie Sorge, dass Trump in den USA wieder an die Macht kommen könnte? Was würde das bedeuten?

Wer sich Sorgen um die USA macht, sollte sich besser über die EU informieren! Wussten Sie, dass im Obersten Gericht von Frankreich nur eine einzige Person eine juristische Ausbildung hat? Ich empfehle immer noch das schöne Buch »Herr Sonneborn geht nach Brüssel« (2019).

Sie sind seit vielen Jahren in Deutschland zuhause. Wie kamen Sie nach Bad Belzig? Könnten Sie sich vorstellen, jemals wieder in den USA zu leben? Anders gefragt: Wie europäisch fühlen Sie sich inzwischen?

Belzig wurde aufgrund der Lage ausgesucht, nur eine Stunde von Berlin, aber ländlich und billig. Ich werde mich nie als Deutsche empfinden, auch wenn ich irgendwann mal die doppelte Staatsbürgerschaft annehme, aber Europäerin bin ich jetzt schon – ich schätze die körperliche Unversehrtheit und vergöttere den Sozialstaat. Die USA waren schon immer ein hartes Pflaster. Die Entwicklungen seit 2001 haben sie zu einem mehr oder weniger unbewohnbaren Ort gemacht, den man auch nur mit Vorsicht besucht. Es war schon immer so, aber seitdem ich hier wohne, fällt mir das auch pausenlos auf.

Welche österreichischen Autorinnen und Autoren kennen, schätzen, mögen Sie?

Zu wenige! Mir fallen nur Adalbert Stifter und Jana Volkmann ein. Bestimmt sind sie nicht die einzigen.


Nell Zink wurde 1964 in Kalifornien geboren und wuchs im ländlichen Virginia auf. Sie studierte Philosophie in Williamsburg und Medienwissenschaften in Tübingen und arbeitete als Maurerin am Bau, Sekretärin, technische Zeichnerin in Tel Aviv und Übersetzerin, ehe Jonathan Franzen auf sie aufmerksam wurde. Die Folgen: das furiose Debüt »Der Mauerläufer« (auf Englisch: »The Wallcreeper«, 2014). Es folgten die beißenden Realsatiren »Virginia«, »Nikotin«, »Doxology« und das prophetische »Hohe Lied«, das mit Trump endet. Nell Zink engagiert sich für die Grünen und ist eine passionierte Vogelbeobachterin – wie ihr Mentor Jonathan Franzen.

Nell Zink
Avalon
Ü: Thomas Überhoff
Rowohlt, 272 S.