Mareike Fallwickl nähert sich in ihrem neuen Roman „Die Wut, die bleibt“ dem Tabu Mutterliebe. Ihre Protagonistin springt eines Tages vor den Augen ihrer Familie vom Balkon – sie konnte nicht mehr, schlitterte durch die Pandemie und die Aufgaben, die an ihr hängen blieben, in ein tiefes Loch. Mit Buchkultur spricht Fallwickl über destruktive weibliche Wut, über Extrembelastungen der Mutterschaft – vor allem in Zeiten von Corona – und über Schwesterlichkeit, die männlichen Seilschaften entgegengestellt werden muss. Foto: Gyöngyi Tasi.


Buchkultur: Die Wut steckt im Titel, die Wut ist ein zentrales Motiv im Roman. Worin liegt die Kraft der Wut und wann ist Wut vor allem destruktiv?

Mareike Fallwickl: Das ist exakt die Frage, die der Roman stellt. Um etwas zu zerstören – sagen wir einmal: das Patriarchat – braucht es eine destruktive Art von Wut. Aber was, wenn man dabei zu weit geht? Wie lässt sich eine Balance finden? Wie lässt sich der Zorn der Frauen, der so angeschwollen ist, weil er seit Jahrtausenden unterdrückt wird, in eine sinnvoll nutzbare Form kanalisieren – oder geht das gar nicht, weil er eruptiv ausbricht?

Du hast dich bewusst dafür entschieden, die Pandemie in die Handlung einzubauen, samt Lockdown und Long Covid. Weshalb war dir das so wichtig?

Die Pandemie ist im Hintergrund eingeflochten, weil sie seit zwei Jahren unsere Lebensrealität ist, aber sie ist nicht ausschlaggebend für die Handlung. Die Blitzidee zum Buch ist im Lockdown im Februar 2021 entstanden, als ich täglich Nachrichten bekommen habe von Frauen, die auch Mütter sind und mir geschrieben haben: „Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, ich spring einfach vom Balkon.“ Da habe ich plötzlich gedacht: Was, wenn eine das wirklich tut? Wenn ich vom krassestmöglichen Punkt ausgehe und anfange zu erzählen, was geschieht dann, welche Geschichte entsteht? Also habe ich diesen hypothetischen Satz literarisch in die Tat umgesetzt.

Sofern du dazu etwas sagen möchtest: Wie hast du selbst die Pandemie und ihre Anforderungen insbesondere an Frauen und Mütter erlebt?

Auch wenn das Ganze mit Lockdown und Homeschooling für meine Familie und mich natürlich eine Herausforderung war, lebe ich mit meinem Mann ein ganz anderes System der Kinderbetreuung, als es üblich ist: Einer verlässt das Haus und macht Erwerbsarbeit, der andere bleibt daheim und macht Care-Arbeit (kochen, Haushalt, Kinderbetreuung, Hausaufgaben, Musikunterricht usw.) – am nächsten Tag tauschen wir. Gleichberechtigung ist für unsere Kinder kein theoretisches Konstrukt. Sie erleben im Alltag, wie das aussieht, wenn beide Eltern sich zu gleichen Teilen kümmern. In meinem Umfeld hat die Rollenverteilung ganz anders ausgesehen. Manches, was im Buch vorkommt, ist so passiert: All die Männer, die morgens ins Arbeitszimmer gegangen und mittags herausgekommen sind in der Erwartung, dass ein warmes Essen auf dem Tisch steht, und die Sache mit dem Urlaubshemd. Der Satz „Ich habe drei Kinder, mein Mann hat keine Kinder“ ist ein Zitat einer Freundin von mir. Jedes Mal, wenn sie das sagt, lacht sie. Und ich denke: Das ist doch nicht lustig.

Weshalb reden wir so selten über den Erwartungsdruck, dem Frauen noch immer ausgesetzt sind?

In meiner Bubble wird darüber sehr viel geredet. Und das ist gut so. Ich denke, es setzt sich langsam immer mehr das Bewusstsein durch, dass die Erwartungen an Frauen überzogen und nicht erfüllbar sind. Besonders bei jungen Frauen bemerke ich massiven, berechtigten Widerstand – der so weit geht, dass viele von ihnen sagen, sie werden in einem Gesellschaftssystem wie dem unseren mit Sicherheit keine Kinder bekommen.

Wann sind dir diese Erwartungen so richtig bewusst geworden? Gab es einen Auslöser, nach dem diese Belastungen weniger selbstverständlich waren? Oder kam das für dich eher nach und nach?

Im Vergleich zu den heute jungen Frauen, die Zugang zu allen Informationen haben, bin ich von der klassischen patriarchalischen Schulbildung geprägt, für die es kein Gegengewicht gab. Erst viele Jahre später habe ich, wie die meisten von uns, erahnt, dass irgendwas nicht stimmt – und habe mich gegen diese Prägung gestemmt, mir entsprechende Literatur gesucht, mir Wissen angelesen, alles neu eingeordnet. Dafür ausschlaggebend war, wie bei vielen Frauen, dass ich Mutter geworden bin. Bis zu dem Zeitpunkt – ich war 27 Jahre alt – hatte ich wenig Kontakt mit feministischen Themen. Die ganze Welt – sämtliche Filme, Bücher, mein direktes Umfeld in dem kleinen österreichischen Bergdorf – hat mir vorgegaukelt, es sei normal, dass Frauen sich aufopfern. Dann habe ich ein Kind bekommen und festgestellt: Oha. Dieses Konstrukt, das ist ein Käfig.

Das Reden über Mutterschaft und Erwartungsdruck hat sich in den letzten Jahren gewandelt, von #RegrettingMotherhood über das jüngst erschienene „Die Erschöpfung der Frauen“ von Franziska Schutzbach. Erlebst du das auch so, dass da etwas aufbricht und neue Debatten ermöglicht?

Ja. Aber: Damit ist es nicht getan. Denn die Realität sieht nach wie vor anders aus: In Elternzeit gehen 98% Mütter, die Corona-Arbeitslosen waren zu ca. 80% Frauen, eine Frau, die drei Kinder bekommt, verliert etwa 70% ihres potenziellen Vermögens im Vergleich zu einem Mann, Herzinfarkte werden bei Frauen nicht erkannt, beim Autobau werden Frauenkörper nicht berücksichtigt, Frauenthemen werden nicht erforscht, 2020 haben Frauen weltweit 12 Milliarden Stunden unbezahlte Care-Arbeit geleistet, in der Universitätslehre sitzen 75% Männer, die Entscheider in den Medien sind zu 75% Männer, Geschichte und Geschichten werden einseitig repräsentiert – ich könnte ewig so weitermachen. Darüber zu reden, ist ein Anfang, aber es ist nicht genug.

Sarah übernimmt nach Helenes Suizid ihre Rolle, sie kümmert sich um die Kinder, sie schmeißt den Haushalt, sie zehrt sich selbst aus, auch aus dem Schuldgefühl heraus, Helene nicht besser unterstützt zu haben. Die hingegen hat immer geschwiegen oder ihre Überforderung sofort mit einem lockeren Spruch relativiert. Warum?

Jein. Helene im Buch hat sehr wohl ihre Überforderung in Worte gefasst – aber begegnet ist sie dem klassischen Spruch „stell dich nicht so an, du hast es dir so ausgesucht, du bist jetzt eben Mutter“. Das ist eine perfide Strategie: Das Patriarchat verknüpft Fürsorgearbeit mit Mutterliebe, auf der ein extrem starkes Tabu liegt. Um es zu umgehen, hat Helene dann oft so getan, als wäre das alles lustig gewesen. Das beobachte ich bei vielen Frauen. Wünschen würde ich mir, dass wir einen Raum schaffen, in dem Mütter sagen dürfen, dass sie überfordert sind – dass sie erschöpft sind, müde, ratlos –, ohne dass sie dafür verurteilt und abgestraft werden.

Lolas Körper verändert sich im Laufe des Romans stark. Nach dem Tod ihrer Mutter ist sie extrem dünn und erhält dafür Anerkennung, mit Beginn des Kampfsports legt sie deutlich an Gewicht zu und wird dafür sogar von einer Lehrerin abgewertet. Es scheint so, als säße das Idealbild der zierlichen, schlanken Frau noch immer tief?

Ja. Und auch das ist ein schlauer Trick: Frauen, die damit beschäftigt sind, schön zu sein, Lippenstift zu kaufen, den neuesten Trends nachzujagen, dünn zu bleiben, Frauen, die permanent Hunger haben, die gefallen wollen, haben keine Zeit und keine Kraft, eine Revolution anzuzetteln.

Im Roman spielt auch der Riss zwischen den feministischen Bewegungen eine Rolle. Lola macht Sarah Vorwürfe, sie sei zu wenig solidarisch und stärke mit ihrer Hilfe die schädlichen Strukturen. Sarah hält sich dennoch für feministisch und erinnert sich an vergangene Kämpfe, die Wege geebnet haben. Was kann die eine Generation jeweils von der anderen lernen?

Ich wünsche mir, dass Frauen erkennen, dass das Patriarchat sie in ein Klima der permanenten Konkurrenz zwingt und ihnen einredet, sie wären einander die schlimmsten Feindinnen. In Wahrheit gibt es so vieles, das uns verbindet und eint – egal, welcher Generation des Feminismus wir angehören. Da ist eine Schwesterlichkeit, die in meinen Augen weit über die Seilschaften der Männer hinausginge, wenn wir ihre Kraft sehen und nutzen könnten. Um etwas zu bewegen, müssen wir zusammenhalten.


Mareike Fallwickl, 1983 in Hallein bei Salzburg geboren, ist freie Autorin und Literaturvermittlerin. Ihr Debüt „Dunkelgrün fast schwarz“ (FVA) war sowohl für den Österreichischen Buchpreis als auch für das Lieblingsbuch der Unabhängigen nominiert. Nach „Das Licht ist hier viel heller“ (FVA) ist „Die Wut, die bleibt“ ihr dritter Roman. Fallwickl lebt mit ihrer Familie im Salzburger Land.

Mareike Fallwickl
Die Wut, die bleibt
Rowohlt Hundert Augen, 384 S.