Die Buchkultur-Jury wählte die spannungsgeladene Geschichte nicht umsonst auf Platz 3 der besten Krimis für den Sommer 2022: In Dror Mishanis »Vertrauen« gehen das Private und das Politische eine hochdramatische Mischung ein. Foto: Lukas Lienhard/Diogenes Verlag.

Avi Avraham ermittelt in zwei Fällen, die nur auf den ersten Blick nichts miteinander gemein haben. In einem Tel Aviver Einkaufszentrum wird ein Baby ausgesetzt, Frucht der kurzen Verbindung zwischen einer jungen Jüdin und einem ebenso jungen Araber. Und ein Mann, der angeblich für den Mossad unterwegs war, verschwindet aus einem Strandhotel. Ein Krimi mit einer starken Botschaft, großartig erzählt und zutiefst berührend. Das Interview über Avi Avraham, die Genesis, den Nahostkonflikt, Vertrauen und Hoffnung.


Buchkultur: Was macht den großen Erfolg Avi Avrahams aus? Würden Sie ihn als eine Art Antiheld bezeichnen? Er erfüllt ja nicht gerade die üblichen Kriterien des »harten Cops«. Er ist empathisch, glücklich verheiratet. Was bringt die Zukunft für ihn? Was teilen Sie mit ihm? Was nimmt er aus diesem Fall mit?

Dror Mishani: Viele Fragen auf einmal … Es steht mir nicht zu, zu sagen, was Avi zu einem guten Charakter macht. Aber ich kann sagen, was ich an ihm mag: Sein Interesse an anderen Menschen ist echt. Er ist immer offen dafür, zu lernen, und bereit, es zuzugeben, wenn er etwas nicht weiß. Er engagiert sich emotional und versteckt es nicht. Ich kann auch sagen, was mir besonders viel Freude macht, wenn ich ihn beschreibe: die stillen Momente, wenn er einfach nur grübelt und seine Gedanken hin- und herwandern.

Was seine Zukunft betrifft: Ich schätze, er wird alt werden – wie die Detektive, die er bewundert (Maigret wurde alt, Wallander auch). Aber ich hoffe, dass er noch ein paar Fälle lösen wird und ich bin sicher, dass er weiterhin versuchen wird (vielleicht vergeblich?), sich selbst und andere zu heilen und zu trösten.

Er wurde Polizist, um das Böse zu bekämpfen. Aber was ist das Böse? Und was ist das Böse in einer Welt, in der die Grenzen zwischen Schwarz und Weiß immer mehr verwischen und es immer schwieriger wird, Gut und Böse zu unterscheiden?

Ich bin nicht sicher, ob das Böse wirklich so schwer zu erkennen ist. Aber es ist wahr, dass wir es heute dort finden, wo wir es nicht erwartet haben (manchmal in uns selbst). Und dass die meisten von uns nicht nur schlecht oder nicht nur gut sind. Aber die meisten von uns erkennen die bösen Momente in uns und bei anderen.

Was das Böse ist? Größere Philosophen als ich haben nach Wegen gesucht, es zu erklären. Meine Definition ist einfach (vielleicht simplifizierend?): Alles, was außerhalb von dir existiert, also alles, was nicht du selbst bist, als weniger wichtig, weniger menschenwürdig und weniger respektvoll zu behandeln als dich selbst.

Im Roman geht es auch um die vielen Gesichter der Gewalt; Gewalt zwischen Religionen, in Familien, zwischen Eltern und Kindern. Darum, wie der Konflikt eines Landes sich auf das private Leben auswirkt. Fast alle im Buch haben große Verluste und Gewalt erfahren (wie zum Beispiel Liora, die das an ihre Tochter weitergibt). Würden Sie das näher erläutern? Was ist der Ursprung der Gewalt?

Sie stellen mir sehr große Fragen, mit denen sich schon größere Denker/innen als ich auseinandergesetzt haben – und nicht einmal sie hatten damit immer Erfolg. Ich kann nur sagen, was ich glaube, dass die Ursachen für die Gewalt in meinem aktuellen Roman »Vertrauen« sind. Ich glaube, die Ursprünge der Gewalt der Charaktere im Buch sind einerseits sehr persönliche Enttäuschungen, Neid, Frustrationen, sogar Selbsthass. Diese Gefühle gären in ihnen und entladen sich dann explosionsartig an anderen Menschen. Auf der anderen Seite kommt die Gewalt im Roman von der Art und Weise, wie Nationen und staatliche Organisationen unsere Gefühle, unsere Sehnsucht nach Zugehörigkeit manipulieren und sie auf den Hass gegen andere lenken.

Das Motto Ihres Romans ist der Bibelvers aus dem 1. Buch Mose 12:1, wo es heißt: »Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus.« Was symbolisiert er? Wofür steht dieser Vers – in persönlicher und politischer Hinsicht?

Das ist einer der stärksten Momente in der Genesis, finden Sie nicht auch? Gott selbst offenbart sich Abraham und der gehorcht ihm und verlässt sein Vaterland und seine Familie und gibt seinen Glauben auf, um der Vater einer neuen Nation und der erste Monotheist zu werden. Es beinhaltet so vieles: Die Notwendigkeit, deine Nation zu verraten, um eine neue – bessere – zu formen; den Sprung über einen Abgrund der Angst und des Unbekannten, den jeder Akt des Vertrauens in Gott, einen Partner oder eine Partnerin oder einen Freund oder eine Freundin braucht.

Ihr Roman handelt auch von den Folgen des langen Nahostkonflikts, den Folgen, die er auf die Menschen und ihr tägliches Leben hat. Ein neugeborenes Baby, Frucht der Beziehung zwischen einer jungen Jüdin und einem jungen Araber, wird ausgesetzt. Es wird gefunden und überlebt. Was symbolisieren die Geburt, das Überleben dieses Babys? Darf es als ein Zeichen der Hoffnung auf möglichen Frieden und Versöhnung in Ihrem Land verstanden werden?

Ich bin nicht sicher, ob ich sagen kann, wofür das Baby symbolisch steht. Es ist die Aufgabe der Leser/innen, Symbole zu interpretieren. Ich kann aber sagen, was es für mich bedeutet: dass das Leben überall weitergeht und entsteht, ob wir es wollen oder nicht, mit unserer Unterstützung oder ohne sie, und dass es an uns liegt, wie verantwortungsvoll wir damit umgehen.

Ihr Roman endet mit einer ungeheuer berührenden Begegnung zwischen Avi und einem alten Mann. Hoffen Sie noch auf Frieden im Nahen Osten, auf eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts? Was bräuchte es, damit das möglich ist? Wie könnte eine solche Lösung aussehen? Der jüdisch-amerikanische Autor Michael Chabon sagte einmal im Buchkultur-Interview, dass zuerst die »Besatzung« enden müsse, ehe man über den Frieden verhandeln könne. Würden Sie ihm zustimmen?

Ich glaube, meine Antwort ergibt sich aus dem, was ich vorher gesagt habe, und wahrscheinlich auch aus dem Buch: Erst wenn Juden und Palästinenser in der Lage sind, ein gleichberechtigtes Leben zu führen, ist eine friedliche Koexistenz vorstellbar. Wenn jedem klar ist, dass kein Volk ein besseres Leben verdient als sein Nachbar. Das ist im Moment nicht der Fall.

Das Bild des ausgesetzten, verlassenen Kindes hat fast mythologische Dimension. Und es bekommt heute eine besondere Bedeutung, wenn wir an die Situation der vielen Geflüchteten denken, die in einem anderen Land ein neues Leben beginnen müssen. Wofür steht dieses starke und berührende Bild?

Dieses Bild, diese Szene eines ausgesetzten Kindes ist das Herzstück so vieler nationaler Mythen: zum Beispiel unseres eigenen Nationalmythos von Moses und wie er als Ägypter, von einer ägyptischen Frau, erzogen wurde, nur um später die Hebräer aus Ägypten weg-, hinauszuführen.

Wofür es steht? Vielleicht erzählt es uns, dass die Ursprünge von Nationen niemals »rein« sind – und Gott sei Dank dafür! Dass wir, wenn wir geboren werden – als Nation, aber auch als Individuen –, immer schon »gemischt«, hybrid sind und andere in uns tragen.

Es ist auch der Moment einer großen persönlichen und moralischen Entscheidung und Verantwortung, der uns zeigt, wie wichtig es sein kann, ein einziges Leben zu retten: Was für eine großartige Frau ist Pharaos Tochter, dass sie ihren Vater verrät und sich seinem Befehl, alle jüdischen Buben zu töten, widersetzt und das Leben eines einzigen kleinen Babys rettet –  aber sehen Sie nur, was das alles geändert hat!

In Wien trugen Impfgegner bei einer Corona-Demonstration Davidsterne mit der Aufschrift »ungeimpft«. Haben Sie Angst vor dem steigenden Antisemitismus in Europa, der während der Pandemie neue Nahrung erhalten hat?

Das zu beantworten, ist schwierig für mich, weil ich weit weg bin und die österreichische Gesellschaft und Politik nicht kenne und daher nicht wirklich sagen kann, ob und weshalb der Antisemitismus dort zunimmt. Was ich sagen kann, ist, dass jede Form von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus bekämpft werden muss – überall –, und dass das jede/r in seinem oder ihrem eigenen Land tun sollte: Meine Pflicht ist es, das in Israel zu tun und Ihre, es dort zu tun, wo Sie zuhause sind.

Russische Künstler/innen werden mit Auftrittsverboten im Westen belegt, weil Putin Krieg gegen die Ukraine führt. Sollte die Kunst nicht verbinden und die Menschen vereinen und Frieden bringen anstatt die Gräben zu vertiefen?

Das macht die Kunst ja auch sehr oft, aber nicht immer (manchmal macht sie auch das Gegenteil). Ich bin dagegen, andere auszuschließen, aber sehr dafür, aufzuklären. Und Kunst kann das sehr gut.

Wie sind Sie aufgewachsen? Woher kommt Ihre Familie? Darf ich Sie fragen: Gab es in Ihrer Familie Opfer der Schoah?

Mishani: Soweit ich weiß, nein. Meine Familie väterlicherseits kam aus dem Libanon und Syrien und sie war schon während des Kriegs in Palästina. Meine Mutter wurde nach dem Krieg in Bulgarien geboren und kam als Baby nach Israel.

Hoffen sie immer noch, dass Literatur, Kunst die Welt zum Besseren verändern kann?

Mishani: Ich bin nicht sicher, ob ich es tue. Aber ich werde mich ganz sicher weiterhin so verhalten, als würde ich glauben, dass es möglich ist.

Mehr dazu im Buchkultur Sonderheft Krimi 2022!

Dror Mishani
Vertrauen
Ü: Markus Lemke
Diogenes, 352 S.