Teilweise an der Grenze des Erträglichen: Die beiden letzten Romane von Ian McGuire schreien, stinken, starren vor Blut und Dreck – das alles bei zurückgenommenem Erzählgestus. Nun liegt sein neuer Roman vor. Ein Porträt. Foto: Paul Wolfgang Webster.


Ian McGuire, im nordenglischen Hull/East Yorkshire aufgewachsen, ist promovierter Literaturwissenschaftler und Schriftsteller. Er lebt mit seiner Familie in Manchester, wo er auch seinen jüngsten historischen Noir-Krimi »Der Abstinent« ansiedelt. An der Universität seines Wohnortes unterrichtet er kreatives Schreiben, als Spezialist für amerikanische Literatur des 19. Jahrhunderts lehrt er auch in diesem Bereich.

Das universitäre Leben spielt sich nicht nur in den vergeistigten Sphären der Wissenschaft ab – was amüsant in McGuires Romandebüt »Incredible Bodies« (2006, dt. »Klugscheißer«) nachzulesen ist und im Genre Campus-Roman wohlwollend von der Kritik aufgenommen wurde.

Nach diesem Einstieg über das satirische Fach wechselt der Autor das literarische Fahrwasser ganz und gar, setzt auf sein bevorzugtes Interessensgebiet – den Realismus, und legt mit »The North Water« einen bestürzenden Roman vor, der Elemente von Abenteuer-, Historien- und Kriminalroman kombiniert. Die drastische Zeichnung einer Walfangexpedition in die kanadische Arktis, Mitte des 19. Jahrhunderts, war 2016 für den Man Booker Prize nominiert, wurde von der New York Times zu einem der zehn besten Bücher des Jahres gekürt und erschien 2018 unter dem Titel »Nordwasser« auf Deutsch.

Unvermeidlich stellen sich beim Topos Walfang literarische Assoziationen her, allerdings legt McGuire seinen Plot anders an als Conrad und Hemingway. Bei ihm steht die Bestie Mensch, die so gut wie jede Moral abgelegt hat, im Mittelpunkt. Kein edler Kampf á la »man versus beast« wird zelebriert, die Crew des Walfängers ist fast ausnahmslos am Abschlachten interessiert, es ist egal, ob es sich um den begehrten Meeressäuger, um Robben, Eisbären – oder Menschen handelt. Weder den Bewohnern der eisigen Welten gegenüber noch untereinander herrscht eine Idee von Empathie, die Verrohung gibt den Takt der Begegnungen vor, dazu kommt ein abgefeimtes Spiel mit Versicherungsbetrug, dem der Seelenverkäufer von Schiff zum Opfer fallen soll. »Nordwasser« ist harte Kost, schonungslos und beeindruckend. Was McGuire mit diesem Titel unter anderem beweist, ist die atemlos machende Herstellung von Atmosphäre, die so intensiv ist, dass sich nicht nur alptraumhafte Bilder auftun, sondern auch haptische und olfaktorische Reize nach den Leser/innen schnappen.

Diese fatale, beklemmende Sinnlichkeit schreibt er im jüngsten Roman »Der Abstinent« fort. Hier zwingt sich auch noch ein Sound­track zwischen die Zeilen:
If you had the luck of the Irish / You’d be sorry and wish you were dead / You should have the luck of the Irish / And you’d wish you was English instead (John Lennon & Yoko Ono, 1970).

Allerdings geht es keineswegs um simples Schwarzweiß – hier die Helden, dort die anderen. Der bis heute nicht gelöste Konflikt zwischen England und Irland bildet den Ausgangspunkt des Erzählens. Beide Hauptprotagonisten des Romans, James O’Connor und Stephen Doyle, sind Iren, stehen aber auf verschiedenen Seiten der »Troubles«. Der eine, beinahe trockener Alkoholiker, arbeitet im Manchester des Jahres 1867 als Polizist, nachdem er in Dublin seinen Job aufgeben muss und als letzte Chance die Versetzung nach England angeboten bekommt. Er ist aufgrund seines Alkoholkonsums untragbar geworden, und man hofft, dass die neue Dienststelle in Manchester davon nicht Wind bekommen hat. O’Connor, verzweifelt nach dem Tod seines Kindes und seiner Frau, unterhält Kontakte zu Spitzeln, welche die Fenians, jene Untergrund-Organisationen, die in England, Kanada und den USA für ein unabhängiges Irland kämpfen, ausspionieren sollen. Sein Widerpart Stephen Doyle gibt sich als überzeugter Terrorist für »die revolutionäre Sache«, ist in Wahrheit ein wurzelloser, traumatisierter Kriegsheimkehrer, der in der Neuen Welt als einzigen Halt den Kampf im Bürgerkrieg erlebt hat. Beide Männer stammen aus brachia­len Familienverhältnissen, beide sind auf ihre Weise stigmatisierte Außenseiter. Der Polizist O’Connor ist seinen britischen Vorgesetzten und seinen neuen Kollegen suspekt, der ganzen Wache ein willkommenes Opfer für Ressentiment und Ausgrenzung. Als O’Connors Neffe, der aus einem nach Amerika ausgewanderten Zweig der Familie stammt, eines Tages unangekündigt auf der bescheidenen Schwelle seines Onkels steht, der bei einer »Landlady« seine karge Unterkunft gefunden hat, bildet er die erste Schnittstelle zwischen O’Connor und Doyle – der Neffe und der Untergrundkämpfer sind mit demselben Schiff aus Übersee in England eingetroffen. Den narbengesichtigen, skrupellosen Doyle fürchten die eigenen Mitverschwörer, während O’Connor zunehmend unter seiner Rolle im Dienst leidet, das Mantra »Ich erfülle meine Pflicht« wird täglich brüchiger, »beiden sitzt die Möglichkeit im Nacken, dass sie in Wahrheit immer nur das alte Muster aus Vergeltung und Gewalt reproduzieren, das ihnen nun mal vorgegeben wurde«, stellt der Autor im Interview fest. Ausgehend von der historisch verbrieften Hinrichtung dreier Iren (1867), die einen britischen Polizisten getötet haben, stellt McGuire die Frage nach Nationalismus und Terrorismus, die bis heute brisant ist.

Am Ende des Romans fährt nur der Tod die Ernte ein, es ist ihm gleich, von welcher Seite sie ihm zufällt, ob sie grüne Armbinden oder englischen Tweed trägt in den rußigen, regendurchweichten Straßen von Manchester, die nach Kohle, Armut und Gerberei stinken, und der seinen kompromisslosen Knochenarm bis über den großen Teich ausstreckt. 

Ian McGuire
Der Abstinent (dtv)
Ü: Jan Schönherr
dtv, 336 S.