Die besten Krimis für den Sommer 2022:

Riku Onda, Die Aosawa-Morde
Ü: Nora Bartels
Atrium, 400 S.

Platz 1

Der 2006 in Japan unter dem Titel »Eugenia« erschienene Krimi »Die Aosawa-Morde« sorgt nun, 16 Jahre später, auch im deutschsprachigen Raum für Furore.


Es ist eine der Stärken der neueren japanischen Kriminalliteratur, Skurriles, bisweilen Bizarres im scheinbar harmlosen Alltag zu entdecken, sich zu befragen, ob davon wohl etwas in einem selbst stecken könnte, und diese Frage, subtil im Text versteckt, an den Leser weiterzugeben. In einem Krimi hat das dann ungewöhnliche Folgen. Man kommt dem Täter als Individuum so nahe, dass der Mord selbst, so brutal er auch sein mag, nicht mehr im Zentrum steht und der Überlegung weicht: Was hätte ich in dieser Situation getan?

Als Riku Onda Michel Petruccianis Musikstück »Eugenia« hört, ist sie sofort fasziniert. Der französische Jazzpianist, kleinwüchsig und an der Glasknochenkrankheit leidend, spielt kraftvoll, die melancholisch swingende Komposition klingt in kurzen Läufen aus, wie Wassertropfen, die sich im Raum verlieren. »Eugenia, meine Eugenia … Heute ist das Ende gekommen.« Für ihr zartes Gedicht, das davon inspiriert entstand, suchte Onda lange nach dem passenden Kontext. Sie hatte eine ganz bestimmte Vorstellung davon, in welche Stimmung sie die Zeilen einbetten wollte. Es wurde ein Kriminalroman, auch wenn der Text das nicht sofort preisgibt: Wenn er beginnt, liegt der Mord schon Jahrzehnte zurück. Das Meer, Sehnsuchtsort der Autorin, hat ebenfalls seinen Platz im Buch gefunden.

Das Buch setzt mit dem Prolog ein: Jemand befragt ein Kind. Kann es sich an etwas erinnern? Wovor hatte es damals Angst? Spannender kann man nicht einführen! Bevor irgendetwas über Zeit, Ort und Grund dieses Gesprächs erklärt wird, schwenkt der Text wie in einer Kameraführung über in eine Stadt. Dort trifft sich ein nicht näher beschriebener Interviewer mit verschiedenen Menschen. Seine Fragen erschließen sich vage aus den Antworten, die wiederum schweifen ab in Schilderungen aus dem jeweiligen Privatleben. Noch ist nicht zu erkennen, worauf das hinausläuft. Langsam kristallisiert sich der Grund für die Befragungen heraus: Vor Jahrzehnten luden die Aosawas, durch ihre Bildung in der Stadt Außenseiter, zu einer Geburtstagsfeier in ihr eigenwilliges, von einem Architekten entworfenes Haus. 17 Gäste und Familienmitglieder kamen ums Leben, sie starben zum Teil sehr qualvoll durch eine Zyanidvergiftung. Nur die blinde zwölfjährige Tochter des Hauses, Hisako, überlebte. Der Kurier, der die todbringenden Getränke geliefert hatte, beging Selbstmord, die Polizei betrachtete das als Schuldeingeständnis. Dass sich der junge Mann schuldig gefühlt hatte, bewies auch sein Abschiedsbrief. Es fehlte allerdings ein Motiv. Nun wird der Sache wieder nachgegangen. Die Befragten standen zur Tatzeit alle in irgendeiner Beziehung zur Familie Aosawa. Manchmal war es eine persönliche Bekanntschaft, oft beschränkte sie sich auf Blicke über den Zaun und auf das Haus.

Am besten informiert scheint Makiko Saiga zu sein, zur Tatzeit ein unauffälliges, ruhiges Kind; später sammelte sie alles, was sich an jenem Tag ereignet haben könnte, und veröffentlichte ein Buch, ihr einziges, über die Recherchen. Seltsamerweise kommt darin ein Schriftstück nicht vor, das am Tatort aufgefunden worden war: ein Gedicht – oder ist es eine Nachricht, ein Liebesbrief? – in weiblicher Handschrift. Laut ihrer damaligen Verlegerin ist Frau Saiga wahrscheinlich auf den Täter gestoßen, oder zumindest auf die Person, von der sie glaubt, sie sei verantwortlich, sie hätte sich auch über Verjährungsfristen erkundigt. Mehr wisse auch sie nicht. Die Aussagen über die blinde Hisako werden widersprüchlich. Kann es sein, dass dieses hochbegabte Kind in Wirklichkeit eine gefühllose Bestie ist? Wollte Makiko Saiga mit der absichtlichen Verfälschung bestimmter Beschreibungen in ihrem sonst so detaillierten Buch jemandem etwas mitteilen?

»Wer wen ermordet hat, ist vielleicht eine Tatsache, aber die direkt Beteiligten kannten wahrscheinlich weder alle Fakten noch konnten sie die Situation zum damaligen Zeitpunkt korrekt interpretieren und alles wissen, was zu dem Ereignis führte.«

In einem Interview für Publishers Weekly erklärt Riku Onda, mit ihrer Technik, von verschiedenen Perspektiven aus zu erzählen, wolle sie die Leser/innen verunsichern, sie immer mehr in eine Grauzone ziehen, wo die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen und nichts mehr eindeutig ist. Das ist ihr in den »Aosawa-Morden« gelungen. Mehr noch: Mit zunehmender Unsicherheit nimmt die Spannung zu.

Das steigende Interesse des Buchmarkts für japanische Literatur beobachtet Katja Cassing, die den einzigen deutschen Verlag für japanische Literatur leitet und für ihre Übersetzungen von Keigo Higashino und Arimasa Osawa einen Preis der renommierten Japan Foundation bekommen hat, schon länger. Es beschränkt sich nicht nur auf Krimis: »Inzwischen hat fast jeder große Verlag einen oder mehrere Japaner im Programm.« Ein Trend, der absolut zu begrüßen ist: Er bringt neue Namen auf die Bestsellerlisten. Die Klassiker wie Ōe Kenzaburō, Kawabata Yasunari oder Yukio Mishima waren schließlich nie Geheimtipps, Haruki Murakami wird auf der ganzen Welt gelesen. Ganz nebenbei ein interessantes Detail: Natsuo Kirino, Jahrgang 1951 und Schöpferin der ersten japanischen Privatdetektivin à la V. I. Warshawsky oder Kinsey Millhone, ist die erste direkt aus dem Japanischen ins Deutsche übertragene Kriminalschriftstellerin. Vor allem die Qualität der Übersetzung sei eine andere geworden, bemerkt Robert F. Wittkamp. Er lehrt in Osaka Literatur- und Kulturwissenschaften und widmet in seinem 2002 erschienen Buch »Mord in Japan« den schreibenden Frauen ein interessantes Kapitel. Der neue, weibliche Blick ins Private wurde anfangs gar nicht goutiert. Riku Onda erweitert ihn: Um eine Tat vollständig erfassen zu können, muss man über sie hinaus denken, zum Beispiel mit Kant: Nicht alles, was sinnlich wahrgenommen wird, ist zwangsläufig auch wahr. Und die Überlegung, ob ein unentdeckter, nie aufgeklärter Mord für die Welt »real« sei, also tatsächlich stattgefunden hat, leitet zu Kōan über. Im Westen häufig verstanden als absurde Frage, die nicht zu beantworten ist; in einer Richtung des Zen bedeutet es hingegen die Vereinigung von Gegensätzen. Und stellt die Welt nicht eine solche dar?

Riku Onda ist mit ihrer Verknüpfung widersprüchlicher Elemente der Wirklichkeit näher, als es vielleicht den Anschein hat: »Japanische Gärten erzeugen eine starke Spannung durch ihre klare Trennung zwischen dem Betrachter und dem Betrachteten. Eine tödliche Atmosphäre, wie ein Spiel um Leben und Tod.«

Riku Onda, Berufsname der japanischen Autorin Nanae Kumagai, wurde 1964 in der japanischen Stadt Aomori geboren und wuchs in Sendai in der Präfektur Miyagi auf. Zahlreiche ihrer Werke wurden verfilmt und fürs Fernsehen adaptiert. Onda wurde mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Japan Booksellers’ Award. Ihr nun auf Deutsch erschienener Krimi »Die Aosawa-­Morde« (Atrium) wur­­de 2006 mit dem Mystery Writers ­of Japan Award ausgezeichnet.


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