Fiston Mwanza Mujila ist ein literarischer Vermittler zwischen den Kulturen – der Schriftsteller aus dem Kongo lebt seit 2009 in Graz. 2021 wurde er für seinen zweiten Roman „Tanz der Teufel” (Zsolnay) mit dem Prix Les Afriques ausgezeichnet, wie auch schon in „Tram 83“ ist es darin vor allem die Musik, die den Rhythmus vorgibt. Inspiriert vom kongolesischen Tanz, der eng mit der Identität des Landes verknüpft ist, verdichten sich im Roman die Auswirkungen von Kolonialisierung, Bürgerkrieg und Armut. Im Interview spricht der Autor über die Kunst der Übersetzung, kulturelle Unterschiede im Theater und warum man nicht immer alles verstehen muss. Fotos: Beatrice Signorello.


Buchkultur: Sind Sie oft im Kongo?

Fiston Mwanza Mujila: Ja, mindestens einmal im Jahr. Ich möchte diesen Nabel zu meinem Heimatland behalten. Ich finde, das ist wichtig als Mensch und auch als Schriftsteller und eine Inspirationsquelle. Jedes Mal, wenn ich im Kongo bin, werde ich viel gefragt, Lesungen zu halten. Und meine Familie lebt in Lubumbashi, ein paar Geschwister sind in Südafrika. Ich bin der Einzige aus meiner Familie, der in Europa ist.

Wie findet das Ihre Familie?

Es ist schon seltsam für sie. Meine Familie reist sehr wenig. Lubumbashi ist eine Minenstadt im Süden. Dort stellt sich das Leben einfacher dar: Man studiert, man heiratet, man findet einen Job. Man arbeitet, zu Hause wartet die Frau oder der Mann und die Kinder, und fertig.

Arbeiten Ihre Eltern noch?

Nein. Mein Vater ist letztes Jahr verstorben. Davor war er schon seit ein paar Jahren pensioniert.

Kommen wir zu Ihrem neuen Roman. Wenn man den Titel „Tanz der Teufel“ googelt, kommt als Erstes der deutsche Titel von „The Evil Dead“, einem amerikanischen Horrorfilm.

Das wusste ich gar nicht. Aber ich finde es sehr interessant, was bei der Übersetzung passiert. Übersetzung ist auch eine Kunst. Ich denke, mein Text auf Deutsch ist nicht unbedingt mein Text, sondern ein anderes Werk.

Die deutsche Übersetzung stammt von Katharina Meyer und Lena Müller. Die beiden haben schon Ihren Debütroman „Tram 83“ übersetzt und dafür mit Ihnen zusammen 2017 den Internationalen Literaturpreis für übersetzte Gegenwartsliteraturen erhalten. Inzwischen können Sie sicher noch besser Deutsch als damals. Haben Sie an der neuen Übersetzung stärker mitgearbeitet?

Ich stehe allgemein sehr ungern im Rampenlicht. Sie sind professionelle Übersetzerinnen und sollen meine Romane so bearbeiten, wie sie es für richtig halten. Man übersetzt ja nicht nur eine Sprache, man übersetzt eine Kultur, eine Stimmung, die Atmosphäre, Geräusche, Charaktere und Protagonisten. Meine Charaktere sprechen vielleicht besser Deutsch oder Englisch oder Spanisch als ich. Deshalb ist mein Buch auf Deutsch oder Englisch eher wie eine Reise in meinen eigenen Charakter, raus aus meinem eigenen Universum.

Aber Sie haben die Übersetzung bestimmt gelesen, oder?

Natürlich, ich habe auch mit den Übersetzerinnen darüber gesprochen. Es war wirklich spannend, denn sie mussten viele Wörter auf Deutsch erfinden. Ich habe nämlich viele Wörter geschaffen, die nicht realistisch sind. Die deutsche Fassung klingt in meinen Ohren ganz anders als die französische, sie hat ihre eigene Musikalität und Sensibilität. Die Übersetzerinnen sollten ihre eigene Musikalität und Sprache finden. Das ist nicht meine Sprache. Wenn meine Sprache ein Saxofon ist, dann ist die deutsche Übersetzung vielleicht eine Trompete, eine Violine oder eine Bassklarinette.

Aber sie spielt trotzdem eine ähnliche Melodie. Es kommt ja beispielsweise sehr häufig der Ausdruck „Bier spritzen“ für „Bier trinken“ vor. Wie kommt es zu diesen Wortschöpfungen?

Bevor ich zu schreiben beginne, ist mir wichtig, zunächst Charaktere und eine Sprache für sie zu schaffen. Die Sprache existiert vor dem Text, vor der Geschichte, deshalb haben die Charaktere ihre eigene Musikalität. Meine Romane sind auch so geschrieben, dass sie laut gelesen werden können. Ich stelle mir immer vor, dass ich der Erzähler bin und meine Romane laut erzähle.

Das tun Sie dann auch bei Ihren recht legendären Lesungen. Tragen Sie im deutschsprachigen Raum dann manchmal auch aus der Übersetzung vor?

Manchmal lese ich auf Deutsch, zum Teil auch Französisch und Deutsch gemischt. Für mich gehört die Lesung zum Schreiben. Ich sage oft, dass die Wörter, die Schrift, das Schreiben allgemein, wie ein Gefängnis sind. Wenn man sie für sich liest, bleiben die Worte im Gefängnis, aber wenn man sie laut liest, leben sie, man befreit sie. Bei der Performance kann man lachen, schreien, flüstern, es gibt so viele Möglichkeiten, die Sprache zu beleben.

Was macht Ihre Lesungen so besonders?

Ich improvisiere Geräusche. Ich improvisiere auch den Text. Es gibt Elemente, die sind wichtig für die Improvisation. Wenn ich lese, kann ich auch improvisieren, deshalb ist jede Lesung ganz anders. Es hat zu tun mit der Stimmung, dem Raum und dem Publikum. Es kommt auch darauf an, wo ich lese. Wenn man im Kongo eine Lesung hält, dann lesen die Leute mit. Sie kennen den Text, sie sprechen mit dir, flüstern oder wiederholen deine Sätze. Das Publikum ist aktiv, sie schreien, sie lachen, sie rufen nach Zugaben. Es ist eine kollektive Zeremonie. Wie bei einem Popkonzert. Und wenn den Leuten dein Text nicht gefällt, dann werfen sie dich raus. Oder wenn sie einen Schauspieler nicht mögen, sagen sie: „Du spielst falsch!“ oder „Geh zurück in die Schauspielschule!“

Ist es da nicht riskant, aufzutreten?

Nein, ich glaube, die Leute sind sehr engagiert und fühlen mit, es gibt eine enge Verbindung. Die Literatur lebt, und sie soll auch leben. Schreiben ist wie meine Kirche, meine Religion. Wenn ich schreibe, lebe ich. Für Coltrane war Jazz die Religion. So ist meine Beziehung zum Schreiben. Wenn ich schreibe, ist das wie ein Gebet. Ich spüre, dass ich mich in keinem normalen Zustand befinde, sondern wie auf einer Reise. Ich glaube, Literatur soll auch Gefühle vermitteln, denn es geht um die Menschheit, um Liebe und Leben, um alles.

Wie kann ich mir Ihren Schreibprozess vorstellen? Sperren Sie sich in Ihrem Zimmer ein und sind ganz in Ihrer eigenen Welt?

Ich habe ein Ritual, bevor ich zu schreiben beginne: Ich muss sauber sein. Die Wohnung und auch ich selbst müssen sauber sein. Bevor ich zu schreiben beginne, muss ich duschen. Denn das Schreiben ist verbunden mit einer saintété, einer Heiligkeit, einer Reinheit.

Mit Buchkultur-Redakteur Martin Thomas Pesl

Sie haben ja auch Familie. Ist es mit Kindern nicht schwierig, alles immer sauber zu halten?

Ich habe ein Arbeitszimmer zuhause, und ich arbeite viel draußen. Im Sommer gehe ich sehr gerne in den Grazer Stadtpark, wo es ruhig ist. Danach lese ich den Text noch einmal laut, um Wörter zu prüfen. Wenn ich schreibe, bin ich auch wie ein Automechaniker: Man muss überprüfen, ob der Text funktioniert. Deshalb überprüfe ich die Wörter, die Stimmung, die Sätze.

An so einem Schreibtag kommen bestimmt viele Seiten zustande.

Sehr viele. Manchmal ist es auch so, dass ich nur alles herunterschreibe und dann nach ein bis zwei Tagen noch einmal durchlese. Vielleicht schmeiße ich dann auch alles wieder weg.

Sie beschreiben den Tanz der Teufel sehr genau. Gibt es ihn wirklich?

Er ist inspiriert vom kongolesischen Tanz. Das Zitat „One Love“, das öfter vorkommt, ist ein Titel aus dem Reggae-Bereich. Im Kongo ist die Musik sehr wichtig, weil es ein kaputtes Land ist. Man hat dort viele Bürgerkriege erlebt, Diktaturen, Malaria und andere Probleme. Deshalb ist die Rumba unsere einzige Identität. Rumba ist das, was bleibt nach dem Krieg. Der Kongo war eine belgische Kolonie, dann 32 Jahre lang eine Diktatur unter Mobutu, dann kam Kabila, der Vater, der Sohn. Viele von ihnen haben die Gesellschaft kaputt gemacht. Was bleibt ist die Rumba, das ist unsere Identität. die Leute tanzen viel, auch weil sie ihre Probleme vergessen möchten. Sie sagen: „Ich tanze, deshalb existiere ich.“ Deshalb war die Rumba von Anfang an sehr wichtig.

Eigentlich muss man beim Lesen eine Playlist abspielen?

Ja, ich höre beim Schreiben auch viel Musik. Daher kommt der Rhythmus im Text. Ich bin Jazzliebhaber und versuche auch die Musik und die Malerei ins Schreiben einzubinden. Selbst male ich nicht, aber ich gehe gerne ins Museum. Ich arbeite auch mit vielen Jazzmusikern zusammen und spiele auch selbst Pfeife, wie in Südafrika. Ich singe auch gerne auf der Bühne. Ich nutze meine Stimme als Saxofon und arbeite wie ein Performer.

Als Kind wollten Sie Saxofonist werden, aber es gab keine entsprechende Musikschule im Kongo. Haben Sie es inzwischen gelernt?

Es war kein Thema für mich, Saxofon hobbymäßig zu lernen, ich wollte professionell als Musiker spielen. Heute ist die Literatur mein Saxofon. Wenn ich schreibe, ist es, als würde ich komponieren. Deshalb soll mein Text auch laut mit Musik gelesen werden. Ich schreibe auch seit Jahren Lyrik. Und die Lyrik ist wie die Küche, wie das Laboratorium für meine Romane. Viele Sätze aus „Tanz der Teufel“ habe ich meinen Gedichten entnommen, auch die musikalischen Impulse kommen daher.

Und auch Theaterdialoge kommen im Roman vor, mehrere Genres werden vermischt. Welche Rolle spielt die Textgattung für Sie?

Das macht für mich keinen Unterschied. Ich versuche, diese Gattungen zu dekonstruieren. Ich bin ja selbst eine Mischung: Ich bin ein Schwarzer Schriftsteller, ein Grazer Schriftsteller, ein österreichischer Schriftsteller, ein afrikanischer Schriftsteller … Das alles beeinflusst mein Leben und meinen Weg. Ich lebe in Österreich, ich habe in Deutschland, in Belgien gelebt, ich reise viel und spreche viele Sprachen. Alle meine Erfahrungen als Mensch sind Material für meine Romane. Deshalb versuche ich auch mit all diesen Gattungen zu arbeiten. Man muss auch wissen, dass der Roman eine europäische Gattung ist. Aber ich komme aus dem Kongo, aus einer anderen Kultur, aus einem kaputten Land. Ich schreibe mit meiner eigenen Subjektivität. Es ist mir wichtig, den Roman zu dekolonialisieren. Als Kongolese habe ich den Eindruck, ich brauche mehr Lyrik, mehr Musikalität und eine neue Sprache, um über den Kongo zu schreiben. Als Schriftsteller bin ich in der Genealogie der Gruppe 47, also von Günther Grass, Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger, weil der Kongo heute ist wie Deutschland oder Österreich nach dem Krieg. Alles ist kaputt, die Infrastruktur, der Mensch, deshalb brauchen wir eine Literatur, die ein Land aufbauen kann. In Deutschland und Österreich haben die Schriftsteller nach dem Krieg versucht, die Sprache zu entnazifizieren. Als französischsprachiger afrikanischer Schriftsteller versuche ich, die französische Sprache zu entzaubern, denn es ist eine Sprache des Kolonialismus, der Gewalt und der Brutalität. Auch heute ist Französisch im Kongo immer noch die am häufigsten gesprochene Sprache. Deshalb versuche ich die Sprache menschlicher zu machen, sie zu reparieren.

In „Tanz der Teufel“ kommt zum ersten Mal ein Österreicher vor, noch dazu ein österreichischer Schriftsteller. Warum kommt der ausgerechnet aus St. Pölten?

Weil ich noch nie in St. Pölten war, aber oft auf dem Weg nach Linz oder nach Deutschland dort vorbeikomme. Während ich den Roman geschrieben habe, war ich oft unterwegs und dachte mir: Warum soll der Charakter nicht einfach aus St. Pölten kommen?

Aber Sie waren immer noch nicht dort?

Nein, noch immer nicht. Der Schriftsteller Franz im Roman ist wie mein Zwillingsbruder. Ich habe viel gemeinsam mit Franz: Er ist im Kongo und soll einen Roman mit kongolesischen Protagonisten schreiben. Aber er fragt sich, ob er denn überhaupt dazu legitimiert ist, denn er ist nicht Schwarz und er hat keine Kolonialisierung erlebt. Auch seine Großeltern haben mit dem Kongo nichts zu tun. Mich beschäftigt die umgekehrte Frage: Als Grazer möchte ich einen Roman mit jüdischen Österreichern als Protagonisten schreiben. Alle sind weiß. Aber habe ich die Legitimation dazu? Ich bin kein Österreicher, ich bin nicht weiß, und ich bin auch kein Jude, aber ich komme auch aus einem Land mit vielen Kriegen. Ich spaziere auch sehr gerne durch Graz und überall gibt es diese „Stolpersteine“ im Gedenken an die Opfer der Nazis. Ich lese ihre Namen und stelle mir vor, wie wohl das Leben so eines 20-Jährigen war, der damals ermordet wurde. Franz hat das gleiche Problem.

Der Unterschied ist nur, dass Franz ein Schriftsteller ist, der nicht schreibt. Sie schreiben sehr viel.

Ich glaube, am Ende ist mein Roman der Roman von Franz. Denn am Ende beginnt er im Gefängnis zu schreiben. Das Gefängnis ist wie eine Art internationale Realität, das macht es einfacher.

Wenn wir schon von Schriftstellern sprechen: Die Figur des Monsieur Guillaume liest sehr viel, besonders gerne einen slowenischen Dichter, den ich ehrlich gesagt erst nachschlagen musste: Srečko Kosovel (1904–1926). Was verbindet Sie und Ihre kongolesische Figur mit ihm?

Nach dem Krieg wurde Afrika, wie die ganze Welt, in zwei Teile geteilt: Es gab Länder, die waren pro-amerikanisch, andere waren pro-russisch. Viele Kongolesen haben in Russland, in Kroatien, im Osten studiert, da gab es viele Verbindungen. Vor 40 Jahren gab es mehr Kontakt zwischen Afrika und Osteuropa als heute. Vielleicht haben sie da auch die dortige Literatur entdeckt. Außerdem habe ich mich in meiner Jugend sehr für Dichter interessiert, die sehr jung verstorben sind. Es ist erstaunlich: Alle diese Dichter waren großartig, als wäre der Tod mit dem Talent verbunden. Sie haben so viel geschafft in so wenigen Jahren. Wie Ingeborg Bachmann, dieser Kosovel oder Arthur Rimbaud. Sie konnten einfach sterben, weil sie alles schon gemacht hatten. (Lacht.)

Ihr Roman ist historisch auch in der Übergangszeit angesiedelt, als das vormals Zaire genannte Land zur Demokratischen Republik Kongo wurde. Sie selbst wurden ja 1981 noch in Zaire geboren. Haben Sie Erinnerungen an diese Zeit?

Ich habe nur wenige Erinnerungen, aber es war mir trotzdem sehr wichtig, diese Geschichte zu verarbeiten. Denn immer, wenn wir im Kongo eine neue Regierung bekommen, sagt die, dass wir versuchen müssen, unsere Geschichte zu vergessen und ein neues Land aufzubauen. Jedes Mal, wenn eine neue Regierung an die Macht kommt, erhalten auch die Straßen und Regionen neue Namen. Es gibt einen Konflikt der Erinnerungen. Meine Generation und ich haben einen anderen Blick auf die Ereignisse der Geschichte als die Generation meines Vaters. Es gibt nicht die eine Geschichte, sondern viele Versionen von Erinnerungen.

Da fällt mir ein: Als ich in Kinshasa war, konnten die Taxifahrer mit den Adressen auf Google Maps nichts anfangen.

Ja, manche Straßen wurden schon zwei oder drei Mal unbenannt, trotzdem nutzen die Leute noch die alten Namen.

„Tanz der Teufel“ wurde mit dem Prix Les Afriques ausgezeichnet. Damit wurden Sie, der sich ja als österreichischer, Grazer, kongolesischer Schriftsteller bezeichnet, als afrikanischer Schriftsteller gelabelt. Was bedeutet das für Sie?

Es hat mich sehr gefreut, diesen Preis zu erhalten. Heutzutage geht die Literatur über Grenzen, sie hat keine Nationalität. Ich kann Kongolese sein, aber als Schriftsteller Deutscher oder Österreicher. Die Nationalität eines Schriftstellers ist nicht physisch. Zum Beispiel wurde ich oft eingeladen als „österreichischer Schriftsteller“. Ich habe dann oft gesagt: „Ich bin kein Österreicher“, aber sie meinten: „Du lebst hier, deshalb ist uns das egal.“ Inzwischen habe ich die österreichische Staatsbürgerschaft. Dieser Preis bedeutet für mich, dass man Schriftsteller sein und zu verschiedenen Ländern gehören kann. Ich bin afrikanischer Schriftsteller, aber ich lese, was Österreicher lesen, und schreibe in Graz, publiziere in Europa. Ich bin im deutschsprachigen Raum als Schriftsteller tätig, im Kongo bin ich nur Kongolese. Man kann mehr sein, eigentlich alles zusammen. Ich glaube, in meiner Karriere gibt es mehrere Etappen: Als ich nach Österreich kam, war ich ein kongolesisch-afrikanischer Schriftsteller. Jetzt bin ich ein österreichischer, Schwarzer Schriftsteller. Als ich nach Österreich gekommen bin, habe ich mich nicht Schwarz gefühlt. Meine Eltern im Kongo haben mir das nie gesagt, man erfährt das erst im Ausland. Früher habe ich gedacht, ich würde Europa irgendwann wieder verlassen. Aber jetzt wohne ich in Graz und fühle mich als Schwarzer.

Das ausführliche Porträt von Fiston Mwanza Mujila lesen Sie in der Titelstory von Buchkultur Ausgabe 201!


Was bedeutet das für Sie?

Schwarz zu sein? Das bedeutet, anders zu sein. Das bedeutet, dass es viele Klischees noch aus der vorkolonialen und aus der Kolonialzeit gibt, die leben über die Geschichte, über die Leute hinweg. Und dass man immer erklären muss, warum man in Österreich lebt. Man kann auch in Österreich leben, ohne Flüchtling zu sein. Man kann auch Schwarz sein und Schriftsteller sein. Man kann Schwarz sein und Muslim oder Christ oder Jude sein.

Es ist also vor allem lästig für Sie?

Ja, manchmal hat man keine Lust, zu erklären. Trotzdem sollte man es immer tun, weil es so viele schlechte Vorurteile gibt. Man kann nicht umhin, pädagogisch vorzugehen: In Afrika gibt es 55 Länder, und in nur sieben davon gibt es wirklich Probleme. Deshalb sollte man immer mit den Leuten sprechen. Was sie über Afrika wissen, kommt viel über Medien. Aber auch Musik und Literatur sind eine gute Möglichkeit, um etwas über einen Kontinent zu lernen.

Als Sie entschieden haben, nach Europa zu gehen, haben Sie wahrscheinlich nicht geahnt, dass Sie in Graz landen würden, oder?

Zunächst dachte, dass ich, wenn ich ins Ausland gehe, in Frankreich, Belgien oder Kanada, vielleicht auch in den USA, leben möchte. Es ist einfacher, vom Kongo nach Belgien oder nach Frankreich zu reisen, denn da gibt es eine große Diaspora. Die sind wie der Kongo, nur in Belgien.

Wie ging es dann weiter?

Dann bin ich nach Deutschland gegangen als Heinrich-Böll-Stipendiat, dann nach Österreich als Grazer Stadtschreiber. Anschließend bin in wieder nach Frankreich und Belgien gegangen, aber nach Graz zurückgekehrt, weil ich schon gute Kontakte als Schriftsteller hatte. Außerdem ist die Stadt sehr angenehm zum Leben. Ich wurde im Süden des Kongo geboren. Die Leute dort stellen sich Europa völlig anders vor als die Leute in Kinshasa. Dort glauben viele, Europa ist nur Frankreich oder Belgien. Aber Europa kann auch Kroatien oder Graz sein. Auf Swahili bedeutet Europa „Ulaya“, das heißt so viel wie „kalt“ oder ein Ort, an dem man nur schwer leben kann. Auf Lingala hat Europa über 20 Bedeutungen und heißt zum Beispiel „Paradies, wo es Brot und Milch gibt“. Also sehr viele positive Bedeutungen.

Lubumbashi ist ja dennoch eine sehr große Stadt. Im Verhältnis dazu ist Graz sehr klein.

Deshalb bin ich oft unterwegs. Ich lebe gerne in Graz, Graz ist für mich wie meine zweite Heimat, aber morgen könnte ich auch in Berlin oder in Brüssel sein.

Sie haben mittlerweile auch schon Theaterstücke auf Deutsch geschrieben. Bei der Figur der „Madonna der Minen von Cafunfo“, die kein Alter hat, denkt man sofort an die Titelfigur aus „Aus der Zeit der Königinmutter“, das 2019 am Burgtheater uraufgeführt wurde.

Die Königinmutter habe ich schon in meiner Lyrik erwähnt. Meine Lyrik, mein Schreiben sind die Zutaten meines Romans und meiner Theaterstücke. Ich mag es, wenn meine Figuren miteinander kommunizieren können. Der Schriftsteller Franz heißt in „Tram 83“ Lucien. Ich mag es, mit den gleichen Motiven zu arbeiten. Auch im Jazz gibt es diese Themen und Variationen.

Sprechen wir ein wenig über das Theater. Sie haben vorhin die turbulenten Theateraufführungen im Kongo beschrieben. Im Vergleich dazu muss das Theater hier geradezu langweilig sein. Sie erhalten viele Stückaufträge, Ihre Lyrik und Prosa werden für die Bühne adaptiert. Wie erleben Sie das Theater im deutschsprachigen Raum?

Es gibt hier viele Institutionen und Stipendien, es gibt Nachwuchsautor/innen, und man spielt Klassiker. Das Theater im Kongo funktioniert vollkommen anders. Die Infrastruktur ist nicht so gut, es gibt wenig an Ressourcen, aber die Leute machen Theater, mit dem was zur Verfügung steht. Dadurch bleibt es viel näher an den Menschen. Wenn die Schauspieler auf der Bühne spielen, glauben die Leute, das ist kein Theater, sondern es ist Realität. Ich kenne eine Frau, die auf der Bühne immer die böse Rollen spielt. Sie hat in einer Fernsehsendung davon berichtet und geweint, denn die Leute halten sie für wirklich böse und beschimpfen sie auf der Straße. Im Kongo vergisst man einfach diese Brücke zwischen dem Theater und dem realen Leben.

Versuchen Sie, diese Nähe auch hier zu erzeugen? Sprechen Sie darüber mit Regisseur/innen?

Jede/r liest ein Stück mit der eigenen Erfahrung. Wenn du viel Literatur aus Afrika oder Europa gelesen hast, liest du das mit der jeweiligen Vorstellung im Hinterkopf. In meinen Texten gibt es viele Ebenen. Ich schreibe mit afrikanischen Mitteln, mit kongolesischen Mitteln, mit vielen unterschiedlichen Mitteln. Das kann ein Regisseur nicht alles finden. Aber im Kongo sicher schneller.

Carina Riedl hat letzten Herbst in Berlin bereits zum dritten Mal einen Text von Ihnen zur Premiere gebracht, „Der Garten der Lüste“. Sie scheint eine bevorzugte Regisseurin für Sie zu sein. Woran liegt das?

Sie war schon im Kongo und hat viel mit mir geredet, deshalb findet sie die verschiedenen Ebenen leichter. Nehmen wir „Aus der Zeit der Königinmutter“: Wenn dieses Stück im Kongo gespielt wird, ist es vollkommen anders als in Europa. Die Bedeutung der Großmutter weicht beispielsweise komplett ab: Im Kongo würde eine Großmutter zum Beispiel niemals in ein Seniorenheim gehen. Sie ist ein wichtiger Teil der Gesellschaft und kümmert sich um die Enkelkinder. Oder: Ein Charakter in „Tanz der Teufel“ heißt Ngungi. Nur Kongolesen wissen, was der Name bedeutet, nämlich „Echse“.

Das passt gut zu seinem Charakter.

In Afrika fliegen Echsen jede Nacht und brauchen Blut von Menschen, um gesund zu bleiben. Wie eine Mücke. In dem Roman ist es wie in einem Supermarkt: Es gibt viele Produkte, und du kaufst, was für dich wichtig ist.

Stört es Sie nicht, wenn in Europa Ihre Stücke von Leuten auf die Bühne gebracht werden, die sie nie ganz begreifen können?

Zum Theater führen viele Türen. Jeder kann eine Tür, einen Zugang wählen, aber das Stück bleibt gleich. Ich glaube auch, dass mein Werk sehr europäisch geprägt ist. Als Theaterautor bin ich Österreicher. In meinen Stücken gibt es keine Schwarzen Charaktere, und sie haben wenig mit Afrika zu tun. Im Gegenteil, es freut mich, wenn der Regisseur oder die Regisseurin nicht alles versteht. Denn wenn wir im Kongo Robert Musil oder Peter Handke sehen, verstehen wir auch nicht alles. Aber wir verstehen, was wir eben verstehen, und es interessiert uns trotzdem. Ich bin zufrieden, wenn der Regisseur vergisst, was wichtig für mich ist. Ich brauche diese Intimität als Schriftsteller, aber auch als Kongolese. Wenn du im Kongo eine Stadt besuchst, dann werden alle sehr gerne ihr Essen mit dir teilen, aber sie werden dir keine Geheimnisse erzählen, denn sie wissen, dass du wieder gehst. Wenn du bleibst, werden sie dir anvertrauen, wie das Leben dort funktioniert. Es gibt in meinen Texten Dinge, die nur Kongolesen, teilweise sogar nur Leute aus meiner Heimatstadt Lubumbashi verstehen.

Haben Sie das Gefühl, hier in Österreich alles zu erfahren? Oder haben die Leute auch Geheimnisse vor Ihnen?

Die Leute hier haben keine Geheimnisse vor mir, weil sie mittlerweile wissen, dass ich hierbleibe. Im Kongo hat das mit Macht zu tun: Wenn du alles weißt, dann nimmst du den Leuten ihre Seele, ihre Macht. Deshalb wollen viele die Restitution der Raubkunst, denn die bedeuten das afrikanische Geheimnis. Wer die Kunstschätze nach Europa mitgenommen hat, hat einen Teil der afrikanischen Seele entführt.

Es gibt ja gerade sehr viele Diskussionen zum Thema Cultural Appropriation und Authentizität. Zum Beispiel sollte Helen Mirren keine israelische Politikerin spielen. Oder nur Schwarze Übersetzerinnen sollten Amanda Gorman ins Niederländische übersetzen. Verstehe ich richtig, dass Sie das das Gegenteil finden? Die Leute, die mit Ihren Texten arbeiten, sollen sich möglichst von Ihnen unterscheiden und müssen auch nicht alles verstehen?

Ich finde diese Debatte wichtig, denn sie wurde von Aktivist/innen ins Leben gerufen. Sie haben ihre eigene Sprache. Wie die Frauen, die ohne Kleidung in die Kirche gehen.

Femen.

Femen, genau. Diese Aktivistinnen haben ihre eigene Sprache. Die Themen, die sie auf den Plan bringen, sind nicht nur literarisch. Da geht es um die Repräsentation von Schwarzen in Kino, Theater und so weiter. Es gibt so viele Städte, in denen Schwarze nicht zu sehen sind, obwohl es sie gibt. Meine Übersetzer/innen sind zum Beispiel alle weiß, vor allem im deutschsprachigen Raum übersetzen nur wenige Schwarze. Das sollte man schon hinterfragen.

Hätten Sie lieber Schwarze Übersetzer/innen?

Für mich ist die Qualität wichtig. Letztes Jahr habe ich zum Beispiel eine Anthologie herausgegeben, die erste Anthologie einer jungen europäischen Schwarzen Lyrik. Mit 33 Autor/innen aus ganz Europa. Die Frage war: Wer soll das übersetzen? Also habe ich die Dichter/innen gefragt, und sie haben gesagt, sie wollen eine/n gute/n Übersetzer/in. Ich glaube, hier geht es um Sensibilität, Erfahrung: Man muss alle einzeln fragen und keine Pauschalentscheidungen treffen. Besser eine gute Übersetzung als eine schlechte von jemandem mit Schwarzer Hautfarbe.

Sie lieben Listen: von Länder, Tiernamen, Biermarken usw. Woher kommt das?

Es gibt in Afrika eine literarische Gattung, die heißt „Kasala“. Da gilt es, alles zu erwähnen. Mein Name allein: Fiston Mwanza Mujila … Ich habe eine Liste von Namen, ein Repertoire. Das kommt von diesem Erwähnen. Es ist eine lange Geschichte, die man an Abenden erzählt und die Leute schreien und trinken. Auch, wenn ich einen Text performe, gibt es immer Listen. Ich kann sie lesen und dabei improvisieren.

Sie haben auch einen Text für das Wiener Volkstheater geschrieben, der Anfang 2023 zur Aufführung kommen wird, und zwar zusammen mit einem Stück von Elfriede Jelinek aufgeführt. Auf Jelineks „In den Alpen“ folgt Ihr „Nach den Alpen“. Ist das wirklich eine Antwort auf Jelinek?

Nein, nein, es ist ein Kommentar von mir, eine Überlegung über die Alpen. Ich kenne Jelineks Arbeit, also war für mich klar: Ich kann nicht wie sie schreiben. Für mich als Afrikaner, als Schwarzen, als Grazer, als Kongolesen, haben die Alpen eine ganz andere Bedeutung als für sie. Wenn ich Jelinek nachmachen würde, würde es falsch werden. Also muss ich nach meinem eigenen Gefühl, meiner Subjektivität schreiben. Zum Beispiel kann ich nicht Ski fahren. Im Kongo haben wir keinen Schnee, es ist extrem heiß.

Würden Sie denn gerne Ski fahren können?

Ich habe es zwei, drei Mal versucht, aber ich kann ohne Skifahren ganz gut leben. Manches ist für mich interessanter in Österreich. Ich habe angefangen, einen Roman zu schreiben, aber ich bin noch viel mit „Bildern“ beschäftigt, dem Bild von Österreich im Ausland. Zum Beispiel glauben im Kongo alle, in Österreich gibt es nur Berge, man spielt nicht Pop oder Elektro, man spielt nur klassische Musik. Aber das stimmt nicht.

Waren Sie denn schon in den Alpen?

Ja, und ich habe auch mit Leuten geredet, die oft in den Alpen waren. Und überlegt, was die Alpen für mich bedeuten. Im Kongo sind zum Beispiel unsere Minenressourcen wie die Alpen. Die Verbindung der Österreicher/innen zu ihren Alpen ist wie die Verbindung von Kongolesen mit dem Rohstoff. Ich frage: Was ist meine Mythologie? Jede Person hat eine Mythologie, einen Impuls. Dazu gibt es eine kollektive Mythologie, eine internationale Mythologie.

Und als nächstes kommt dann der Österreich-Roman?

Vielleicht! Ich vertraue da meinem Charakter. Vielleicht beginnt er in Österreich und endet im Kongo oder in Sansibar.


Fiston Mwanza Mujila wurde 1981 in Lubumbashi, Demokratische Republik Kongo, geboren. Er schreibt vorwiegend auf Französisch Lyrik, Prosa und Theaterstücke. Mit “Zu der Zeit der Könginmutter” entstand sein erstes Stück in deutscher Sprache. Mujila erhielt u. a. den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt, den Peter-Rosegger-Literaturpreis und 2021 den Prix Les Afriques. Mit seinem Debütroman “Tram 83” (Zsolnay) gewann er u.a. den Internationalen Literaturpreis Mujila lebt in Graz. 

Fiston Mwanza Mujila
Tanz der Teufel
Ü: Katharina Meyer, Lena Müller
Zsolnay, 288 S.