Filmemacherin und Autorin Iris Blauensteiner hat im März mit „Atemhaut“ ihren zweiten Roman veröffentlicht. Ein Gespräch über den Status von Arbeit in der heutigen Zeit, über Parallelen von Filmemachen und Literatur, über die Rückeroberung des Ich in unsicheren Zeiten. Fotos: Marisa Vranješ.
Von heute auf morgen verliert der junge Edin seinen Job als Lagermitarbeiter in einem Logistikunternehmen. Er drückt sich davor, es seiner Freundin Vanessa zu erzählen, verbarrikadiert sich lieber in virtuellen Welten und wird rasch hinuntergezogen vom Orientierungsverlust, vom Identitätsverlust, die mit dem Verlust seiner Arbeit einhergehen. »Atemhaut« setzt sich mit dem modernen Prekariat auseinander, in dem der Mensch nur allzu leicht von Maschinen ersetzt werden kann und die Digitalisierung ihm gefährlich zu Leibe rückt. Blauensteiner verwebt in ihrem Text das Schicksal ihres Protagonisten mit dem ihrer Leser/innen, sie spricht sie mit der Du-Perspektive direkt an und entwirft eine modern-poetische Identitätssuche – untermalt vom metallenen, extra komponierten Soundtrack zum Buch.
Buchkultur: Wie gestaltet sich dein Schreibprozess, wie fügen sich deine Ideen zusammen? Hast du gewisse Routinen, die dich beim Ideenfinden, oder auch beim Schreiben unterstützen?
Iris Blauensteiner: Ich notiere sehr viel, lese, erlebe erstmal, um zu einem Gefühl oder zu einer Atmosphäre zu gelangen. Am Beginn ist das (noch) Unbekannte, das mich anzieht.
Mein Schreibprozess ist eine assoziative Methode, in der sich Fragmente nach und nach durch Montage, Streichungen und Ordnungen im Laufe des Schreibens verbinden. Ich halte Augen und Ohren offen, entdecke. Begegnungen können sich überall entfalten. Der Zeitpunkt der gezielten Suche kommt erst eher spät. Das Sprachliche und das Inhaltliche wachsen gemeinsam. Ich arbeite eigentlich immer über mehrere Jahre an Werken, allerdings an mehreren parallel, auch an Filmen z.B. Ich hoffe, dass ich so etwas hervorbringe, das komplex genug ist, um andere Menschen emotional und intellektuell zu berühren.
„Atemhaut“ ist ja, nach „Kopfzecke“, dein zweiter Roman. Hast du da einen Unterschied zum Schreiben an deinem Debüt wahrgenommen und wenn ja, welchen? Wie bist du an das Projekt herangegangen?
Mit jeder künstlerischen Arbeit beginnt etwas ganz Neues. Ich habe eine Arbeitsmethode, auf die ich mich mittlerweile verlassen kann. Allerdings versuche ich, mich auch nicht daran zu klammern und keinen Druck aufzubauen, sondern dem Lebendigen und Unerwarteten genug Vertrauen zu schenken – was im maximalen Widerspruch zu den Rahmenbedingungen der freischaffenden Arbeit steht, wo Zeit knapp ist und das Organisieren die Energie aufsaugt. Da ist es für mich ganz wichtig, eine Balance zu finden, was mich anhaltend auch sehr beschäftigt.
Die erste Idee zu „Atemhaut“ war eine ganz andere: Es sollte um eine WG gehen. Allerdings hat sich aus dem Text besonders eine der Figuren herausgeschält: Edin wurde zum Protagonisten. Ich habe an ihm starke gesellschaftliche Diskurse erkannt und mich gefragt, wann sie sich in ihm geformt haben könnten. Ich kam auf seine jungen Jahre in den späten 90er Jahren als Ausgangspunkt.
„Du fühlst dich wie Ausschussware“ oder es fehlt die „Motivation für das Motivationsschreiben“: Dein Buch hangelt sich am Thema Arbeitslosigkeit entlang und beschreibt oft passgenau, wie sich Protagonist Edin fühlt, ohne sich dabei jedoch abgedroschener Phrasen zu bedienen. Was hat das Thema für dich virulent gemacht? Haben die vergangenen zwei Jahre und Corona dazu beigetragen oder ist es vorher schon in deinem Kopf herumgeschwirrt?
Automatisierung und Digitalisierung schafft viele Berufe ab und zugleich wächst der Druck von Prekariat, Eigenverantwortung und Leistungsmaximierung. Ich habe mich gefragt: Was macht das mit Menschen? Welche Plätze in der Gesellschaft, die sich so sehr über Arbeit und Leistung definiert, bleiben?
Ich habe mir bei Edin vorgestellt, wie es für jemanden sein kann, der die Forderung des Arbeitsmarktes nach Eigenverantwortung schlagartig erlebt, der zum ersten Mal in dieser Lage ist, in dieses freie Feld geworfen zu sein. Bisher hatte Edins Leben gerade Bahnen, er hatte eine deutliche Vorstellung von Glück, von Zukunft, er hat sich eingerichtet, erhielt Sicherheit von seinen Routinen, auch wenn sie von anderen vielleicht nicht als erfüllend gewertet werden würden, gaben sie ihm Halt und strukturierten sein Leben. Automatisierungsprozesse treten in Konkurrenz zu ihm. Und damit auch in seinen Lebensrhythmus. Als er entlassen wird, ist alles anders, er muss sich Fragen stellen, ob und wie und wo er sich anpassen kann, ohne einen Sinn für sein Selbst zu verlieren. Er muss einschätzen, wie viel Veränderung er aushält. Alternativen zu entwickeln, braucht erstmal enorm viel Fantasie und Stärke, und dann tatsächliche Handlungsschritte. Das ist der innere Zwist, den ich in Edin spannend finde.
Es geht um Arbeit, Arbeitslosigkeit, um einen Shift, wenn Maschinen bzw. maschinelle Prozesse auf verschiedenen Ebenen immer mehr in Menschenleben einziehen, und was das mit menschlichen Beziehungen und Identität(en) macht. Auf bestimmten Ebenen arbeiten die Maschinen durchaus auch für ihn, z.B. in Computerspielen oder am Ende, als er selbst eine Maschine baut. Wobei ich den Begriff „Maschine“ hier auf sehr abstrakt-allgemeine Art einsetze.
Auch wenn es eine ganz andere Branche mit ganz anderen Voraussetzungen und Umständen ist, in der Edin arbeitet – er ist Arbeiter in einem Logistikunternehmen –, gibt es Aspekte der prekären Arbeit, die ich selbst nur zu gut von der künstlerischen Arbeit kenne, z.B. den Zustand von unsicheren Arbeitsverhältnissen, permanent erwarteter Flexibilität, das Zurückgeworfen sein auf die eigene Leistung. Nun, ich habe mir meinen Beruf ausgesucht und mit dem, was ich mag oder was ich liebe zu tun, ist auch vieles verbunden, das ich gar nicht mag. Das permanente Suchen, Klären und Schaffen von Rahmenbedingungen ermöglicht erst das Schreiben, das Filmemachen. Durch Corona hat sich für mich eigentlich nichts in dieser Hinsicht geändert, zuvor war es genauso. Da kommen schon oft Zweifel auf. „Man muss frustrationstolerant sein“, das habe ich oft zu hören bekommen. Mit freischaffender künstlerischer Arbeit schwebe ich in permanent unsicheren Arbeitsverhältnissen, ich kenne das leider gar nicht anders. Und damit bin ich auch nicht allein. Fair Pay und Initiativen für grundlegende Verbesserungen verfolge ich mit allergrößtem Interesse.
Besonders stark ist im Roman eine Art „multiple Zukunft“ herausgearbeitet. Du betonst dadurch die existenzielle Bedeutung von Arbeit, Sätze wie „Versionen deines Ichs warten auf nicht gegangenen Wegen.“ heben das hervor. Warum arbeitet Edin sich so sehr an der Zukunft ab?
Der Roman spielt kurz vor der Jahrtausendwende. Im Roman ist Gegenwart, für uns heute ist es die Vergangenheit. Die damalige Zukunft ist unser Jetzt.
Es war damals nicht klar, wie es heute sein würde, natürlich war vieles offen, es war ja noch nicht eingetreten, Schienen waren vielleicht gelegt, die manchmal benutzt wurden, manchmal ins Nirgends führten. Das Spiel mit der Zeitlichkeit finde ich einen faszinierenden Gedanken. Geschichten verändern sich, je nachdem von welchen Punkten in der Zeit man sie betrachtet und interpretiert. Ich finde es spannend mit Formen zu experimentieren und damit auch den Inhalt zu bewegen.
Von der Figur aus betrachtet, ist für Edin als jungen Menschen die Vorstellung von Zukunft besonders ausschlaggebend, die Zukunft dauert für ihn noch lange und besteht aus Möglichkeiten, aus vielen kleinen Entscheidungen in der Gegenwart, die dorthin führen.
„Atemhaut“ ist – fast durchgehend – in der Du-Perspektive geschrieben. Diese Perspektive wirkt auf mich wie ein vor den Text gestelltes „Stell dir vor“, wie eine Spielart des Lebens, die einen auch selbst betreffen kann. Warum hast du dich für diese Erzählperspektive entschieden? Und was mich auch interessiert, so banal es klingt: Inwiefern war es für dich neu, aus männlicher Perspektive zu schreiben?
Danke für diese schöne Interpretation der Du-Perspektive. Genau, so würde ich es auch beschreiben: Es ist eine Erzählung aus der Ich-Perspektive, das Ich wird allerdings als Du angesprochen. Das Gesagte oder Gedachte verhält sich sozusagen entrückt zum Ich, wird surreal, was mit Edins Eigenwahrnehmung in Korrespondenz steht. Er ist neben sich. Im Laufe des Textes ist es seine Aufgabe sein Ich zurückzuerobern.
Ich mag es auch aus männlicher Perspektive zu schreiben, einerseits weil es mich in diesem Fall interessiert hat, welche Identifikationsangebote die Figur zur Verfügung hat, über welche Werte – Gender, Milieu, Biografie, etc. – er seine Werte generiert und wie er damit umgeht. Und andererseits schreibe ich gern Männerfiguren, genauso wie auch andere Figuren, die über viel Sensibilität verfügen, feinstoffliche Menschen sind, in ihren Höhen und Tiefen.
Über QR Codes gelangt man aus dem Buch zu eigens von Rojin Sharafi komponierten Tracks. Wie entstand hier die Idee dazu? Hat Rojin Sharafi zunächst das Buch gelesen oder hast du dich gar an ihrer Musik orientiert? Wie lief hier die Zusammenarbeit ab?
Die Idee kam zuerst, weil ich viele akustische Beschreibungen in meinem Text hatte. Ich habe Rojin, mit der ich schon bei meinem Film „die_anderen_bilder“ zusammengearbeitet habe, gefragt, ob sie Interesse hat und sich vorstellen könnte, Sound für einen literarischen Text zu machen. Rojins Musik schätze ich besonders, weil ich sie als sehr atmosphärisch und kraftvoll empfinde und in jedem Moment als überraschend und eigenwillig. Wir haben begonnen gemeinsam zu entwickeln, das ging ca. über ein Jahr, immer wieder in Phasen, wir haben Ideen ausgetauscht, probiert. Text und Sound entstanden teilweise auch parallel. Wir gelangten zu der Idee von metallischen Klängen, die im Kontrast zu menschlichen Geräuschen stehen.
Erweiternd zu einer Lesung gibt es auch die Möglichkeit einer Literatur/Sound-Performance von Rojin und mir, in der wir mit dem Lesungs/Konzert-Format experimentieren. Text und Musik sind dabei gleichberechtigt. Ich freue mich darauf, in verschiedenen Kontexten zu performen, die unterschiedliche spartenspezifische Wahrnehmungen mit sich bringen, z.B. im Literaturraum, im elektronischen Musikbereich, im Ausstellungsraum. Es werden unterschiedliche Elemente in den Vordergrund treten, je nachdem in welchem Raum wir uns bewegen.
Ich bin auch sehr dankbar, dass sich der Verlag auf dieses interdisziplinäre Experiment eingelassen hat und uns vertraut und unterstützt hat.
Der Titel referiert ja auf eine Maschine am Ende des Buches, die Protagonist Edin beim Atmen unterstützt. Das „Atmen“ ist sehr zentral in deinem Buch, so zum Beispiel während einer Panikattacke von Edin, bei der er kaum mehr Luft bekommt. Woher kam die Idee, dem Atmen so viel Raum in deinem Roman zu geben? Wie entstand die Wortkreation „Atemhaut“? Sie hat einen ganz speziell-eigenartigen Klang für mich.
Titel entwickeln sich bei mir immer aus dem Text heraus. Bei „Atemhaut“ war es so, dass ich im Atmen etwas grundlegend Körperliches sehe, etwas tief Menschliches und zugleich etwas so regelmäßig, rhythmisches, dass es auch maschinell interpretiert werden kann. Das Atmen eines Menschen, wenn man genau hört/schaut/fühlt, erzählt alles über seinen aktuellen körperlichen, emotionalen Zustand. Dem Roman ist auch die klassische Frage inhärent, was einen Menschen ausmacht, hier z.B. in Abgrenzung zu einer Maschine. Diese Konzeptionen sind natürlich verschwommen und widersprüchlich. Für mich hat der Titel auch etwas Unheimliches. Es fasziniert mich, wenn etwas auf den zweiten Blick plötzlich anders scheint.
Über deinen ersten Roman wurde von der Kritik gesagt, er sei „filmisch“. Kein Zufall, du bist auch Filmemacherin. Stimmst du dieser Aussage zu? Denkst du filmisch, während du schreibst? Oder sind das für dich zwei paar Schuh‘?
Text und Film sind, würde ich sagen, meine Sprachen, um ästhetisch auszudrücken, was ich, glaube ich, erzählen kann: Atmosphären – fragile Zwischenmomente, aus denen Situationen bestehen können, ambivalente Perspektiven, die Dynamiken, die sich daraus ergeben und intensive Sinneswahrnehmungen. Ich glaube schon, dass ich besonders über visuelle und akustische Eindrücke arbeite, auch das Prinzip der Montage habe ich definitiv vom Filmschneiden übernommen. Text ist ein sehr direkter Zugang, während beim Film der Text, also das Drehbuch oder Drehkonzept, erst der erste Schritt von vielen, vielen weiteren ist. Ich mag die Abwechslung einerseits komplett allein, wie beim Schreiben, und andererseits gemeinsam im Team und engem künstlerischem und persönlichem Austausch zu arbeiten. Meine Welt wird bedeutend weiter dadurch.
Am Ende gibt es eine kleine Szene, in der auf Erinnerungen aus dem Jugoslawienkrieg rekurriert wird. Warum hast du diesen Hintergrund gewählt?
Aus den späten 90er Jahren, in denen der Roman spielt, ist das Thema nicht wegzudenken, besonders auch in Wien. Edin, die Hauptfigur hat Fluchterfahrung. Sie ist Teil seiner Identität, macht ihn mit aus, neben vielen anderen Teilen. Für das Thema des Romans heißt das, dass eine sichere Arbeitsmöglichkeit als Existenzgrundlage für ihn aus seiner Geschichte heraus eine tiefgreifende Bedeutung hat.
Und zuletzt: Woran arbeitest du gerade? Welche Themen beschäftigen dich zurzeit?
„Die Welt ist an ihren Rändern blau“, der letzte Kurzfilm, den ich gemeinsam mit Christine Moderbacher gemacht habe, wird in der nächsten Zeit auf Festivals gezeigt. In diesem Essay-Film geht es um eine Schwangerschaft im Corona-Lockdown. Schon lange schreibe ich am Film „Gelbe Blätter“, der eine Online/Offline Liebesgeschichte erzählt. Nun arbeite ich daran, ihn in die Umsetzungsphase zu bringen. Natürlich freue ich mich auf die kommenden Performances und Lesungen von „Atemhaut“. Die Idee für den nächsten Roman formt sich gerade, ich schreibe, lese, assoziiere. Nach dem Roman ist vor dem Roman.
Nachgestirlt.
Dein Buch in einem Satz?
Ein multisensorischer Trip durch mögliche Welten.
Hast du einen Ort in Wien, an den du immer wieder gern zurückkehrst?
Auch wenn ich jetzt in einem anderen Bezirk wohne – ich bin im 10. Bezirk aufgewachsen, dorthin kehre ich auch immer wieder gern zurück.
Zu Unrecht unbekannte oder zurecht bekannte (Wiener) Autor/innen, die du gern hervorheben möchtest?
Das ist die schwierigste Frage, da ich doch relativ viele Wiener Autor/innen kenne und schätze. Generell kann ich Texten viel abgewinnen, wenn sie eigen, speziell und auf ihre Art konsequent seltsam sind.
Analog oder digital?
Analog und digital.
Zu welcher Tageszeit schreibt es sich am besten?
Zu Dämmerungszeiten.
Hast du Neuerscheinungen, auf oder über die du dich freust?
Seda Tunç: Welch (edition mosaik).
Die Autorin und Filmemacherin des Jahrgangs 1986 lebt und arbeitet in Wien. Iris Blauensteiner studierte »Kunst und digitale Medien« an der Akademie der bildenden Künste sowie Theater- Film und Medienwissenschaft an der Universität Wien, bevor sie sich seit 2004 dem Filmemachen widmete. Für ihr künstlerisches Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Förderungspreis der Stadt Wien 2018. Schon ihr Debütroman „Kopfzecke“ erschien 2016 bei Kremayr und Scheriau, »Atemhaut« ist ihr zweiter Roman.