Nach seinem Umzug von Graz nach Wien, erschrieb sich Gerhard Roth das Wiener-Sein in seinem Werk regelrecht. Genaueste Recherchen führten ihn quer durch die ganze Stadt: Durch seine Bücher ist Roth ein Wiener geworden. Sehr persönliche Erinnerungen an den am 8. Februar 2022 verstorbenen Schriftsteller: Ein Nachruf. Foto: Hans Peter Schaefer, 2008.


Es ist – fast auf den Tag genau – 44 Jahre her, es war am 6.3.1978, als ich Gerhard Roths Roman „Winterreise“ im Radio vorstellen durfte. „Sehr viel Gefühl ist in dieser Winterreise von Gerhard Roth“ schrieb ich damals, und: „Mehr als man bei einem jungen Autor unserer Tage eigentlich erwartet.“ Einen „kalten, mechanischen Ton“ unterstellten ihm andere. In dieser Winterreise war von Wien noch keine Rede. Sie nahm irgendwo in einem Dorf in der Steiermark ihren Ausgang, ging über Neapel und Rom nach Venedig. Ja, damals schon war Venedig einer der Orte, über die er einfach schreiben hat müssen. Und in einem der späteren Gespräche meinte er, dass sein Alters- und Abschiedswerk von Venedig handeln werde. Diese Vorhersage hat er mit seinen letzten drei Romanen („Die Irrfahrt des Michael Aldrian“ (2017), „Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier“ (2019) und „Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe“ (2021), wie alle seine Bücher bei S. Fischer) wahr gemacht. Aber sehr bald nach seiner Übersiedlung von Graz nach Wien begann diese Stadt in seinem Schreiben eine Rolle zu spielen. Das Haus, in dem er wohnte, Am Heumarkt 7, diente – so schreibt er in „Grundriss eines Rätsels“, Conrad von Hötzendorf im ersten Weltkrieg als k.u.k. Oberarmeekommando, „es bestand aus zwei Höfen, in denen alte Platanen und Kastanienbäume wuchsen und aus einer unüberschaubaren Anzahl von Wohnungen.“ Dort haben wir ihn oft besucht, um mit ihm über Gott und die Welt – und natürlich über sein Schreiben in Wien – zu reden. Wie er für seinen ersten Zyklus „Die Archive des Schweigens“ eine Reise in das Innere der Stadt antrat, auch in die Keller hinunterschlich. Ziel seiner Ausflüge waren Institutionen, in denen er für seine Romane recherchierte, die das Fundament, die Materialien für seine Bücher lieferten. Er war ein begnadeter Rechercheur. Seine Führung durch das k.k. Hofkammer-Archiv war ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde. Aber auch im Naturhistorischen Museum, dem Wiener Uhrenmuseum, dem Josephinum und in der Nationalbibliothek trieb er sich um, seine Forschungsreisen dehnte er über das Stadtgebiet aus, bis schließlich und endlich dorthin, wo in Wien alles endet, auf den Zentralfriedhof. Durch seine Bücher ist Roth zum Wiener geworden, hat den hier ansässigen Lokalpatriotismus übernommen, wenn er verkündet hat, dass solche Bücher über London zum Beispiel nicht geschrieben werden könnten, weil man dort nicht diese Vielfalt der Institutionen anträfe. Alles, was ihm bei diesen Ausflügen auffiel, wissenswert und schreibenswert erschien, notierte er in kleinen Notizbüchern. Was er sehenswert fand, fotografierte er. Er nannte es „aufnehmen“. „Die Aufnahmen belichten mein Erinnerungsvermögen!“ sagte er. Die Bilder wären eine Hilfe für sein Gehirn gewesen. Er fotografierte analog. Die Negative hat er behalten. „Man kann ja nicht wissen“, meinte er einmal lächelnd, „ob ich nicht auch noch in meinen späteren Jahren beginnen werde, Lyrik zu schreiben. Und dafür wäre so ein Bild sicher sehr wichtig.“

Dazu ist es dann nicht mehr gekommen.


Foto: Konrad Holzer

Ein Ende im Orkus

Gerhard Roth hat hinter seine beiden Romanzyklen „Die Archive des Schweigens“ und „Orkus“ einen Schlussstein gesetzt. Konrad Holzer sprach für Buchkultur Ausgabe 136 Juni/Juli 2011 mit dem Autor über diesen abschließenden Band.


Als Untertitel für „Orkus“ war ursprünglich geplant: „In die weite Welt, eine Erzählung in Bildern.“ Dem Fotoband, der am Beginn der „Archive des Schweigens“ platziert war, sollte ein abschließendes Pendant gegenüberstehen. Nun trägt das Buch den Untertitel „Reise zu den Toten“. Weil Gerhard Roth erkannt hat, wie wichtig die Toten für ihn sind. Die Toten, die in den Köpfen weiterleben, und die erfundenen Figuren spielen für ihn eine größere Rolle als die sogenannte Wirklichkeit.

Die Schwierigkeit beim Verfassen dieses Buchs lag für den Autor darin, dass es gleichzeitig Anfang und Schluss sein sollte. Es dauerte lange, bis er für diesen „Navigator“, diese „riesige Fußnote“ zu den übrigen Bänden des Zyklus’ eine dichterische Lösung gefunden hatte: Ein Tagebuch ohne Datumsangaben. Er, der mit seinen Romanfiguren ein intensives, fantastisches Leben geführt hat, konnte sie „guten Gewissens“ mit Personen aus dem realen Leben zusammenbringen, weil sie ihn ja mindestens genauso beschäftigt hätten wie diese. Und es in diesem Buch ohnehin ausschließlich um eine „literarische Wahrheit“ ginge. Auf die Frage, ob für die Lektüre des „Orkus“ einschlägiges Wissen aus den vorherigen Romanen nötig sei, meint Gerhard Roth, dass man dieses Buch, wie auch alle anderen, für sich allein lesen könne, dass es auch egal sei, mit welchem der Bände man begänne. Je mehr man sich aber darauf einlasse, desto mehr könne man über den ganzen Komplex des Roth’schen Universums erfahren. Natürlich stellt er sich die Frage – wie übrigens jeder Autor, meint er –, wer denn das alles lesen solle. Seine Antwort ist einfach: „dies ist eben mein Lebenswerk“.


Natürlich stellt er sich die Frage,
wer denn das alles lesen solle.
Seine Antwort ist einfach:
„dies ist eben mein Lebenswerk“.


Was aber ist nun dieses Buch, ein Roman, die Beschreibung einer letzten Reise? Man könnte es eine romanhafte Biografie nennen oder einen Erinnerungsband, am besten gefiele ihm aber die Bezeichnung „Der Kopf des Schriftstellers“. Beim Schreiben seiner Bücher habe er sich für eine gewisse Zeit immer wieder bestimmten Figuren hauptsächlich zugewandt, die anderen seien inzwischen im Hinterkopf verschwunden. Dann aber, wenn er ihnen wieder begegnet wäre, kamen die Überlegungen, was die denn inzwischen getan haben könnten und wie das in die große, ganze Handlung des Romans integriert werden könne. Da sei es aber mitunter vorgekommen, dass sich neue Tatsachen ergeben hätten, die der Ich-Erzähler im Roman nicht weiß. Es sind nicht nur die fiktiven Figuren aus seinen früheren Romanen, die den „Orkus“ bevölkern, sondern auch solche des öffentlichen Lebens. Das habe aber gar nichts – oder fast nichts – mit Sympathie zu tun, sie mussten einfach in den großen Handlungsablauf hineinpassen, in dem es ja immer wieder um die Fragen ginge: Was ist der Mensch? Wozu ist der Mensch fähig?

Als Leser wird man mit einer Unzahl von Szenen, Bildern, Begebenheiten, Büchern und Lebensläufen konfrontiert und sucht nach Ordnung, Zusammenhängen. Dazu stellt der Autor fest, dass er das Buch über mehrere Jahre im Kopf herumgetragen habe, schon während des Verfassens der Vorgängerbände. Er wurde sich klar darüber, dass er die Chronologie zerbrechen musste, anders wäre es nicht möglich gewesen, völlig „freihändig“, aus dem Kopf heraus assoziierend zu schreiben. Wie in einem Jazzstück improvisierend, sei er alles losgeworden, was ihn die letzten 32 Jahre gequält habe. Daher könne er auch keine Orientierung geben. Am Ende bliebe nur der Erzähler über, der in einer Welt, in der alles möglich wäre, ebenfalls zu einer literarischen Figur geworden sei.

Und das soll’s jetzt gewesen sein?

Natürlich nicht. Nach einer Untersuchung dessen, was er das Verschwinden des subjektiven, individuellen Lebens nennt und derdamit verbundenen „Transformierung der Sprache“, soll schließlich sein „Alters- und Abschiedswerk“ von Venedig handeln.


Gerhard Roth, geb. 1942, lebt in Wien und in der Steiermark. Veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Dramen und Essays. Darunter auch die zwei großen Zyklen „Archive des Schweigens“ und „Orkus“.

Gerhard Roth
Orkus. Reise zu den Toten|
S. Fischer 2011, 656 S.

Jürgen Hosemann (Hg.)
Die Zeit, das Schweigen und die Toten. Zum Werk von Gerhard Roth
Fischer Taschenbuch 2011, 256 S.