Prolog: Anlässlich H. C. Artmanns 100. Ehrentages am 12. Juni hat Michael Horvath sich den Dichter wieder herbei-imaginiert. 1. Mai 2021, kurz vor Sonnenuntergang. H. C. Artmann erscheint. Er trägt Donegal-Tweed, im Knopfloch eine rote Nelke. Noch einmal ein Buchkultur-Gespräch. (Titelfoto: Otto Breicha / Imagno / picturedesk.com)


Hat sich denn viel geändert durch deine neuen … Lebensumstände?

Na ja … so viel nicht. Ich beweg mich halt durch Landschaften und Zeiten …

Ein Glas vom Eisenberger?

Gern. Ich sags mal so: dem Flanör ist nichts zu schwör, und das Stromern und Strolchen, Flanieren, Spazieren & Flibustieren hab ich ohnehin stets den Hohen Künsten zugerechnet. Ohne sie kämen wir ja niemals dorthin, wohin wir nie gelangen sollten.

Auf die Insel Nantucket?

Zum Beispiel. Aber nur mit robuster Kenntnis des Piktischen.

Eine Sprache, die du bereits zu Lebzeiten gepflegt hast.

Und deren Studium – wie auch die des Dacischen, Kymrischen, Yukatanischen – mir gerade im Nicht-jetzt, Nicht-hier, gute Dienste leistet. Man glaubt ja im Leben gar nicht, wie viel danach auf einen zukommt.

Kommst du denn zum Lesen und Schreiben?

Nein, nein, das ist hier – also dort – anders. Ich bin jetzt Geschichtenerzähler, Schwadroneur … ein Fabulant halt.

Was genau ist da anders als früher?

Also da sind einige Trollfamilien …

Trolle?

Ja. Die sehen wirklich aus wie die Figuren dieser finnischen Autorin, wie heißen die bloß …

Mumins?

Genau, Mumins. Sehr aufmerksame Gesellen. Dann (zählt nachdenklich an den Fingern ab) Feen, Kobolde, Heinzel, Goblins und Hinkepanks. Ein paar Menschen kommen auch manchmal. Hin und wieder lässt sich ein Vampyr blicken.

Also, alles in allem: gute Truppe?

Doch, doch. Einmal hatten wir eine Veranstaltung auf Kallisto …

Dem Jupitermond?

Der Mondin. Das war eine Show. Seither bin ich auf Kallisto der Chief (lacht).

Mündliche Überlieferung, wie vor Homer?

Eher wie nach – wie heisst das bei euch? – Facebook. Man hat in Anderwelt halt irgendwann aus der Erfahrung gelernt.


Foto: Martin Vukovits.

dicht/er/leben

VIVAT H. C.

Er bedarf keiner besonderen Präsentation ­­– Hans Carl Artmann, von Freunden H. C. genannt, in einem Buchkultur-Gespräch 1996 mit Michael Horvath.


Liebe Ratte komm zu mir,
gerne spiele ich mit dir,
bind dir Engelsflügeln um,
trag dich ins Panoptikum


Buchkultur: Ich erinnere mich an eine Artmann-Lesung, die 1989 am 17.3. stattfand – am St. Patrick’s-Day, einem wichtigen irischen Feiertag. Du hast ja, etwa in UNTER DER BEDECKUNG EINES HUTES, immer wieder Irland thematisiert. Ist diese Liebe zum Land geblieben?

H. C. Artmann: Ja, die Mythen und die Märchen … aber am meisten liebe ich doch die Landschaft. Aber es ist halt so, wenn man zehn Jahre nicht mehr dort war, dann ist es schon schwierig, Erinnerungen zu Wort zu bringen. Und dann hat natürlich jeder sein eigenes Irland. Also der große deutsche Irland­Dichter, wie heißt er schnell…

Böll …

… genau. Der Böll hat ein völlig anderes Irland als ich.

Ernster?

Viel ernster. Nein, mein Irland ist ein Feenland, regenbogig, magisch. Bei Böll ist es ein armes, schweres Irland. Ich habe nie ein armes, schweres Irland erlebt.

Und die Menschen?

Was heißt Menschen … ich kenn ja keine. Ja, man geht da vielleicht in ein Wirtshaus hinein, und dann sind die Leute sehr lieb. Aber kennen … ich kenne praktisch nur Deutsche, Schweizer und Österreicher. Das ist mir erst vor einiger Zeit aufgefallen, aber meine besten Freunde habe ich eben in diesen Ländern. Höchstens noch zwei, drei Franzosen. Leseländer sind das halt keine.

Was ist für dich ein Leseland?

Italien zum Beispiel. Da kann ich auf jedem Bahnhofskiosk Bücher kaufen. Wer kauft bei uns schon Bücher am Kiosk … da kauft man den Spiegel und Heftln.


Unhold läuft die Trepp hinab,
Blut tropft ihm vom Händchen ab,
vom Messerchen in der Taschen.
Sag, wo willst dich waschen?


Du hast bei allen deinen Veranstaltungen und Lesungen durch die Jahrzehnte ein ausgesprochen junges Publikum. Worauf führst du das zurück?

Ich weiß nicht … weil ich selbst nicht so alt bin. (Beide lachen)

Daran muss es wohl liegen.

Ja, es muss irgendetwas dran sein, ich biedere mich ja schließlich nicht an.

Du hast ja immer einen sehr spielerischen Zugang zur Literatur gehabt …

… mir geht es ums Spiel.

… ein Ansatz, den man in der zeitgenössischen Literatur nicht mehr sehr oft findet. Denkst du, dass das die jungen Leute anlockt?

 Das mag wohl sein… Manchmal sind dann auch so ältere Herren darunter…

Ältere Herren?

So fünfzig, sechzig Jahre vielleicht …die sehen aus wie Schuldirektoren. Da hab´ ich dann immer ein bissl Prüfungsstreß, weil ich mich in meine Schulzeit zurückversetzt fühle. Meine Sehnsucht vor zwanzig, dreißig Jahren war immer, Lesungen zu machen, die wie eine Pop-Veranstaltung ablaufen; und es gab das ja zum Beispiel im Metropol, dass eine Lesung dem Wunsch schon sehr nahekam.

Woran arbeitest du gerade?

Also ich zeichne jetzt.

Zeichnen?

Ja, ja. Und dann schreibe ich kurze Texte dazu. Aber bisher habe ich fünfzig Zeichnungen und noch zu wenig Texte.

Fällt dir das Zeichnen leicht?

Und wie. Der Witz daran ist, dass ich blind zeichne, und wenn ich dann die Augen aufmache, muss mir dazu etwas einfallen.


Der poetische Act ist die Pose
in ihrer edelsten Form,
frei von jeder Eitelkeit
und voll heiterer Demut


Wird ein Buch daraus werden?

Ja, das soll im Renner Verlag erscheinen.

Und hast du schon einen Titel für deine „Kopflandschaften“?

Wie?

Für deine Kopflandschaften.

Momenterl … das ist ja ein Titel! Mir ist nämlich bisher noch keiner eingefallen. Also ich glaube, den könnten wir nehmen.

Gern.

Also das sieht dann so aus … (zeigt eine Zeichnung, auf der drei Männer mit Kochmützen zu sehen sind) Dazu heißt der Text: ,,Zwei Köche verderben den Brei, drei verursachen den Weltkrieg“. Dann viel, leicht noch dieser hier (sucht, findet): „Lilo Pulver und Goethe durchqueren den Spessart gen Mespelbrunn“. Übrigens, da wollte vor kurzem eine Dame ein Autogramm von mir, die hat mir eine Flasche Bordeaux geschenkt. Magst du den aus der Küche holen? Gläser sind im schwarzen Kastl. Also Prost.

Prost. Warum bist du jetzt wieder nach Wien gezogen?

Wegen meiner Tochter. Die hat die Aufnahmsprüfung für die Filmakademie bestanden und studiert jetzt dort. Ich bin ja damals auch wegen ihr nach Salzburg gezogen.

Magst du Salzburg?

Na ja, dort bin ich halt der King…

Stört dich das?

Nein, nein, die sind eh sehr lieb. Da hab‘ ich halt immer mit dem Auto in die Stadt fahren müssen, wenn ich ins Kino wollte, zum Beispiel. Und wo findest denn dann einen Parkplatz.

Nach allen Gratulationen zum 75. – noch einmal: Vivat H.C. Foto: Martin Vukovits.

Gehst du gern ins Kino?

(Deutet aufs Nebenzimmer, wo ein Fernseher steht) Nur mehr Patschenkino. Akte X schau ich mir gern an, die Scully gefällt mir. Es ist halt bequemer so, und ich seh ja nicht mehr so gut. Da hab‘ ich irgendwann die Brille zu Hause vergessen und wollte bei einer Gegensprechanlage anläuten – ich hab´ einfach den Namen nicht gefunden; und wie ich einen Passanten fragen wollte, hat der geglaubt, ich will ihn anschnorren und ist weitergegangen. (Lacht) Eine blöde Situation. (Schaut zum Bücherregal:) Hast einmal Fantomas gelesen?

Nein, nur Philip Marlowe.

Na, den gibt’s ja wirklich. Wie Robin Hood.

Robin Hood gibt es nur, wenn ihn Errol Flynn spielt.

Genau. Und Basil Rathbone den Sherriff. Das muß man sehen. Wie findest den Wein?

Großartig. Wie geht’s dir denn in letzter Zeit finanziell?

Na ja … nicht so schlecht. Natürlich muss ich so siebzig Lesungen im Jahr machen. Und wer macht das schon in meinem Alter? Der Jandl höchstens.

Der Jandl ist jünger.

Aber sicher. Um fünfzehn Jahre. (Beide lachen – Ernst Jandl ist tatsächlich vier Jahre jünger.)


Die Geschichte ist aus,
dort läuft ´ne Maus
wer sie fängt,
darf sich einen haltbaren Schulterhalfter daraus machen


Was liest du in letzter Zeit?

Viel von den alten Sachen. Den Bulwer-Lytton wieder … oder James Fenimore Cooper. Da kannst dir die Ausgaben anschauen.        So etwas wird halt heute nicht mehr gemacht. Und die Übersetzungen sind großartig. Ich war ja einmal in Arno Schmidts Bibliothek in Bargfeld und hab gesehen, dass ich ein paar von den gleichen alten Ausgaben habe, die er auch für seine Übersetzungen verwendet hat. Und Musik höre ich viel.

Welche Musik?

(Spielt eine Kassette an) Weißt du, welche Sprache das ist?

Altes Englisch?

Das dürftest´ ihnen nicht sagen. Das ist Schottisch. Prost!


Hans Carl Artmann, geboren 1921 in Wien und verstorben 2000 ebenda, war Lyriker, Schriftsteller und Übersetzer. 1945 geriet er in amerikanische Kriegsgefangenschaft, wo er zu dolmetschen und zu schreiben begann. Er war Präsident und Gründungsmitglied der Grazer Autorenversammlung und unter anderem Preisträger des Österreichischen Staatspreises für Literatur und des Georg Büchner Preises. Am 12. Juni 2021 würde er sein 100. Geburtstag feiern.