Unser vereinbarter Treffpunkt liegt an einer stark befahrenen Straße im Wiener Gewerbegebiet. Wetter und Gegend übertreffen sich gegenseitig an Grautönen, ich stehe vor einer durch ein Schild ausgewiesenen Blitzschutz-Firma. Es dauert nicht lange, da winkt mir schon Peter Marius Huemer, bedeutet mir durch das Tor zu kommen und führt mich ins Hausinnere. Fotos: Beatrice Signorello/Buchkultur.


Eine Passage am Anfang von „Dies unfassbare Ding“ (Septime), dem neuen Roman des Autors und zugleich auch der Grund für unser Treffen, könnte die ungastliche Ausfahrtsstraße, an der wir uns befinden, beschreiben: „Je weiter man der Straße von der Stadt fort Richtung Süden folgte, umso zahlreicher mischten sich diese Etablissements, die einander ebenso glichen wie der Rest der Händler, Handwerker und Bars. Je länger man ihnen folgte, umso mehr verloren sie sich ineinander, wurden zu einander, als bewegte man sich auf einem aufgeschnittenen und flach ausgelegten Armband, dessen Muster sich selbst replizierte.“ Auch Johannes, Protagonist des Romans, fährt tagtäglich auf dem Weg in die Arbeit eine solche Straße entlang, verirrt sich gerne in eines dieser Etablissements im Süden der Stadt, um dort seine Vertraute Rebecca zu besuchen – einfach nur, um mit jemandem zu reden. Johannes ist Sprengmeister und soll als Angestellter eines desolaten Unternehmens einen Turm abreißen, dessen Schatten sich über die ganze Stadt gelegt hat und der für den Niedergang der Umgebung gesorgt hat. Der angrenzende Bahnhof, wie auch das Hotel haben nicht überlebt: „Das Gebäude steht nicht nur den verarmten Menschen, sondern aller Zukunft in der Sonne“. Im Zuge der Vorarbeiten für die Sprengung stößt er in den oberen Stockwerken auf seltsam schräge Wände und Formen ohne erkennbare Funktion. Der vom Leben geplagte Johannes, der mit 45 bereits „viel zu müde ist, um ein anderer zu sein“, bringt sein letztes Bisschen Energie auf, will unbedingt das Geheimnis des Turmes lüften, denn es ist ganz klar: Irgendetwas stimmt hier nicht. Huemer zeichnet in „Dies unfassbare Ding“ eine beinahe mystische Atmosphäre der Hoffnungs- und Trostlosigkeit, begleitet von Depression und Einsamkeit. Allein das Rätsel, das der Turm birgt, sorgt für ein kleines Aufflackern in Johannes, für seine Bemühungen um dessen Aufklärung.

„Eigentlich ist es ganz einfach“, erzählt der Autor. Wir haben mittlerweile in einem kleinen Raum, maßnahmenkonform weit entfernt voneinander, Platz genommen. Mittlerweile weiß ich auch, warum wir uns hier getroffen haben: Wir sitzen in der Wiener Zweigstelle der Firma seines Großvaters, für die Peter Marius Huemer tätig ist. Das Schriftsteller-Dasein wirft nämlich noch nicht so viel ab. Er trägt einen schicken Anzug, da wir Fotos machen werden – seinen Hochzeitsanzug, wie er später verrät – und spricht gerne über seine Arbeit und seine Inspirationen. In breitem Oberösterreichisch, das hat er über all die Jahre in Wien behalten.„Wenn mir etwas ins Auge fällt, bleibt der Gedanke hängen. Und wenn der Funken schlägt, dann beginne ich weiter zu überlegen.“ Liest er etwas konzentriert, oder setzt sich mit etwas genau auseinander, dann wisse er es auch zehn Jahre später noch bis ins Detail. „Da bleibt alles hängen, was mich interessiert.“


Buchkultur: Wie sah dann Ihr Prozess der Themenfindung aus? Gibt es reale Vorbilder für diesen Turm? Ein Turm, der, noch nicht einmal fertig gebaut, schon wieder abgerissen wird, das klingt recht absurd.

Peter Marius Huemer: Vor ein paar Jahren war ich eine Woche lang mit meinem Opa in Japan auf einer Internationalen Blitzschutznormung-Konferenz. Dort haben wir von Sapporo aus, wo die Konferenz stattgefunden hat, einen Ausflug zur Hafenstadt Otaru gemacht – der früheren Hauptstadt von dieser Insel. Offenbar dachte man damals, dort würde eine Metropole erwachsen, mit einem Fischereihafen und allem drum und dran, doch dann wurde Sapporo die Hauptstadt. Otaru sieht bis heute so aus, als hätte es eine „richtige“ Stadt werden können, die nicht ganz fertig geworden ist. Überall gibt es kleine Einfamilienhäuser, alles ist ein bisschen verarmt und schaut, naja, grindig aus. Im Zentrum sind lauter Gebäude im westlichen Stil des vorigen Jahrhunderts, es gibt auch eine Einkaufspassage, unglaublich pompös – aber leer. Zwei Geschäfte dort drin sind offen, vielleicht ein Blumengeschäft, und alles wirkt so… Unfertig. Was ich da gesehen habe, hat mich inspiriert: Als wir mit dem Zug wieder weggefahren sind, habe ich gesehen, dass sie ein Gebäude einreißen, gerade haben sie die Abrissbirne hingebracht. Es war unglaublich absurd, ein Gebäude mit vielen würfeligen Formen, gut, das ist vielleicht modern – aber es hat einfach so gewirkt, als ob es noch nicht einmal fertig wäre und sie reißen es schon ab… Über diese Beobachtung habe ich dann eine dreiseitige Kurzgeschichte geschrieben, die hat aber weder zu etwas geführt, noch hat sie eine Bedeutung gehabt. Ich war mir immer sicher, dass das Thema mehr verdient hat. Allein der Gedanke ist interessant, er eröffnet so viel Neues und passt auch gut ins übergreifende Thema zwischen meinen beiden Romanen.

Außerdem ist mir in den letzten 10 Jahren, in denen ich in Wien bin, aufgefallen, dass man kaum eine Straße entlanggehen kann, wo nicht etwas abgerissen wird und dann ein Lidl hineinkommt. Auch in Wien habe ich erlebt, dass ein Haus renoviert wurde und sie es ein halbes Jahr später abgerissen haben.

Wie kann man sich Ihren Alltag vorstellen? Haben Sie Schreibroutinen? Und haben die sich durch die mittlerweile schon ein Jahr lang andauernden Umstände verändert?

In der Coronazeit habe ich wahrscheinlich im ganzen Jahr dreißig Seiten geschrieben, das funktioniert überhaupt nicht. Die ganze Zeit daheimsitzen… Man glaubt zunächst, man hat Freizeit, die Arbeit wird weniger und man kann sich konzentrieren, aber in Wirklichkeit wird alles mehr und dieses Gefühl hört nie auf. Das Gefühl, ich müsste immer etwas tun, obwohl ich die ganze Zeit daheim bin, streckt sich über den ganzen Tag. Um zwei Uhr in der Früh denke ich mir dann: „Jetzt fange ich auch nicht mehr an“. Früher habe ich frühestens um elf zum Schreiben angefangen, bis spät in die Nacht hinein, wenn alle schlafen und Ruhe ist…

Das funktioniert dann noch so?

Gerade dann! Früher bin ich oft erst um eins aufgestanden… Studentenrhythmus halt. Irgendwie ist da vieles durch Corona mittlerweile aus den Fugen geraten und ich weiß nicht, wie es genau weitergehen wird.

Sie haben Komparatistik studiert, sind dafür vor zehn Jahren aus Wels nach Wien gekommen. Heute sind Sie hier freier Schriftsteller. Was sind da die Herausforderungen?

Mein Plan war immer schon, ich studiere Literaturwissenschaft zwar, damit ich mich besser mit Literatur auskenne und nicht, weil ich in der Literaturwissenschaftswelt arbeiten will. Das wäre zwar schön, aber ist nicht meins. Sondern, weil ich bessere Bücher schreiben wollte. Es war mir immer schon wichtig, nicht nur Sachen zu schreiben, bei denen sich Schritt für Schritt im Prozess herausstellt, was sie einmal sein könnten, was man daraus interpretieren kann und so weiter. Ich wollte das vorher schon wissen, ich wollte etwas konstruieren, wollte etwas bauen und ich wollte die Theorie zumindest verstehen. Die Herausforderung dabei ist – wenn das der einzige Plan ist und das einzige, was man machen möchte –, dass alles unheimlich lange dauert. Und dass die meiste Zeit nichts passiert. Man schreibt ein Buch und schickt es aus und dann wartet man erstmal sechs Monate. Dann bekommt man vielleicht von der Hälfte Antworten, alles Formbriefe – eh verständlich. Das Problem ist, dass man einfach monatelang wartet und das Gefühl hat, man bringt überhaupt nichts weiter.

Wie nehmen Sie insofern die Wiener Literaturszene wahr?

Ich bin mir sicher, es gibt einen Haufen unbekannter Schriftsteller da draußen. Im digitalen Zeitalter ist es schwer, sich als Literaturentität zu verankern, ich bin da selbst ein bisschen zu inaktiv. An sich ist die Szene recht gut, aber besser machen könnte man sicher vieles. Oft ist eine gewisse Resignation problematisch, man weiß einfach, dass alles immer auf einem sehr improvisierten Produktionslevel bleiben wird, wir haben grundsätzlich kein Geld und keine Ressourcen. Natürlich, das, was wir bekommen, ist super, man muss sich ja echt über jede Kleinigkeit freuen, weil wir im Grunde nur durch Gnaden der Stadt existieren können. 


Peter Marius Huemer erzählt mir später, dass er erst vor Kurzem aus dem Zehnten in den Vierzehnten übersiedelt ist, er und seine Frau haben im Sommer geheiratet. Sie wohnen jetzt in einem Haus mit Garten, er, seine Frau, Übersetzerin aus dem Deutschen ins Ukrainische, und sein Hund. Als ich wissen möchte, was seine Frau übersetzt, lacht er und verrät ein fun fact. Sie habe unter anderem seinen ersten Roman übersetzt, er verkauft sich in der Ukraine doppelt so gut wie hier. Die Ukrainer sind wohl einfach lesefreudiger, stellt er belustigt fest.


Ihr Protagonist Johannes Eichinger scheint alle Lebenslust verloren zu haben. Er ist unaufmerksam, nachlässig und unzuverlässig, wirft den Wohnungsschlüssel weg, wandert nächtens durch die ganze Stadt, wurde von seiner Frau verlassen. Er ist eine hoffnungslose Persönlichkeit, wirkt wie die Verkörperung der Atmosphäre des ganzen Buches. Woher kommt seine Apathie?

Er ist bestimmt die Verkörperung vom Stadt-Teil des Romans. Die Hoffnungslosigkeit der Sinnlosigkeit: Man macht halt einfach weiter. Man muss sich dabei nicht unbedingt etwas antun beim Weitermachen… Wobei: es ist ihm ja nicht alles wurscht. Früher war er ja der bravste Arbeiter aller Zeiten, er war immer dort, immer pünktlich. Irgendwann aber hat er gemerkt, dass nichts passiert ist. Dass es auch nicht schlechter geworden ist, wenn er es nicht getan hat. Und dass er sich mit seiner Frau nicht mehr verstanden hat, oder dass sie nicht mehr kommunizieren konnten, rührt von der gleichen Stimmung. Es gibt einfach keine großen Emotionen mehr, die einen irgendwie dazu motivieren können, etwas zu tun. Und wenn es nicht so ist, ist es eben nicht so. Dann geht es halt so dahin. Was die Gesellschaft von ihm verlangt, weiß er zwar, aber alles ist immer von Hoffnungslosigkeit überschattet.

Das Fehlen der Selbstwirksamkeit.

Genau, das ist eine Depression, die sich über die ganze Stadt zieht. Eine Machtlosigkeit.

Dazu passt, dass Johannes an einer Stelle versucht, seinen eigenen Schatten mit dem Schatten des Turmes zu verschmelzen.

Er will sich zudecken. Das Sprengen ist jetzt seine Aufgabe, die will er so schnell wie möglich durchziehen, sein eigenes Handeln darunter verstecken.

Der Turmschatten, der sich über die Stadt legt – kann man das auch im wörtlichen Sinne verstehen, dass Gebäude oft eine symbolische Last darstellen?

Natürlich. Er hat einen echten Effekt auf die Leute, der Turm hat einen tatsächlichen und nicht nur einen metaphorischen Effekt. Man sieht immer den Schatten, er steht gegen das Licht, rundherum sind hässliche Lagerhallen und verfallene Wohnhäuser. Seit es den Turm gibt, ist auch der Bahnhof geschlossen worden, weil es die große Entwicklung, auf die gehofft wurde, nie gab. Er hat also einerseits die tatsächliche Wirkung auf die Stadt und gleichzeitig auch die metaphorische, die Sinnlosigkeit. Er hat niemandem auch nur irgendetwas gebracht.

Rebecca, die in einem Bordell an der Bar arbeitet, wird zu Johannes Vertrauter. Er inspiriert sie zu einem Psychologiestudium, hat jedoch große Probleme damit, ihre beiden Lebenshälften zu einem Ganzen zu bringen. Auch Johannes sagt einmal: „Die Einzelteile sind doch nicht das Ganze“. Würdest du Johannes Recht geben?

An dem Punkt hat Johannes schon nachgeforscht, er merkt: Selbst mit jedem einzelnen Teil ergibt sich ihm der Sinn nicht. Das Ganze ist ja die Form und der Sinn. Selbst wenn er also jeden Einzelteil der Form versteht, ergibt das nicht den Gesamtsinn. Die Rebecca will ihre beiden Lebenshälften trennen, dadurch wird es unmöglich, den Sinn ihres Lebens, oder zumindest ihr Ziel zu definieren, was sie überhaupt erreichen will. Sie sieht jedes einzelne Puzzleteil, aber es ergibt einfach kein Ganzes.

Das Element des Rätselhaften beginnt im Buch mit einer Kammer, von der selbst der Architekt vorschützt nichts zu wissen. Dann entdeckt Johannes eine Vielzahl an seltsamen Wänden, an Polyedern in den obersten Stockwerken. Warum reagiert nur Johannes und nicht die Arbeiter auf diese seltsamen Gebilde?

Bis zu einem gewissen Punkt wissen die Arbeiter, dass es komisch ist. Genauso sind sie aber gleichgültig, sie machen einfach nur ihren Job. Für Johannes hingegen ist die Struktur des Gebäudes wichtig, er erstellt ja den Abrissplan. Was ihn aus der Bahn wirft, ist, dass die Realität nicht mit seiner Vorstellung von Bedeutungslosigkeit zusammenpasst. Es passt nicht in das Schema, alles andere ist in gewissem Sinne vorhersehbar. Es ist aggressiv sinnlos, während alles andere in seinem Leben einfach nur sinnlos ist. Das hier aber ist komisch und hat obendrein auch noch keine Funktion. Logisch wäre: Wenn ich die Funktion nicht kenne, muss sie zumindest etwas bedeuten. Alles hat in sich selbst einen klaren Sinn, der dann in weiterer Folge nichts bedeutet, das hier aber hat gar keinen Sinn.

Kommt da dann die Kunst ins Spiel?

Nicht unbedingt. Also natürlich ist es etwas Künstlerisches, der Architekt hat es gemacht, weil er sich als Künstler fühlt und in dem Moment, wo ihm keiner mehr etwas vorgeschrieben hat, weil das Gebäude bereits aufgegeben wurde, hat er diese Betonstrukturen eingebaut – er erinnert sich dann aber auch gar nicht daran. Auch ihm war es eigentlich egal, insofern vielleicht: Kunst im negativen Sinne. Künstlerischer Selbstzweck – Kunst um den Anschein von Kunst willen.

Einmal fällt der Satz: „Einsamkeit, die er Langeweile nannte“. Er gilt für den Hotelier, dessen Hotel auch abgerissen wird, er verbringt ganze Abende damit, in eine Kerzenflamme zu starren.

Was ich da ausdrücken wollte, gilt generell nicht nur für die Einsamkeit, sondern für schlechte Zustände: Dass man seinen Zustand oft einfach umetikettiert in etwas, worüber man sich nicht so grämen muss. Wenn einem fad ist, ist einem fad. Wenn man einsam ist, ist das etwas Schlimmes. Etwas, was über das ganze Buch hinweg ständig vorkommt, ist, dass die Leute Sachen sehen, identifizieren, und dann aber meinen „eigentlich ist es ja etwas ganz anderes“ und damit die eigene Realität verändern. Das trifft auch das letzte Jahr recht gut: Weil das, was man sieht, so Beschissen ist, nennt man es anders und überlegt sich neue Worte dafür, die vielleicht besser klingen. Da gibt es so viele unterschiedliche Motivationen, ein Politiker will etwas anders verkaufen, Verschwörungstheorien, … Der Verschwörungstheoretiker hat nicht weniger Recht, als der Politiker, der Sachen anders benennt. Das geht bis ins Private hinein, etwa: „Mein Knie ist nicht kaputt, ich muss gar nicht zum Arzt“. Bis ins Kleinste wird ständig uminterpretiert. Und das merke ich, weil ich es selber die ganze Zeit mache. Die Komischheit des Turms wirft Johannes also auch aus der Bahn, weil sich nicht so eine alternative Erklärung finden lässt.

Johannes findet nach und nach heraus, wer für diesen Turm erbaut und geplant hat. Eine heiße Spur führt zur Künstlerin Rachel Elijah, mit deren Bild „time forward“ auch zugleich die Theorie eingeführt wird, dass sich Moleküle immer wieder neu zusammensetzen, ein Abbruch quasi immer ein Neustart ist …

Ich habe eine Kurzdokumentation über Quantenphysik gesehen, da ist der Quasikristall eine unmögliche Form, die es theoretisch gibt, aber nicht in drei Dimensionen – damit also nicht beobachtbar ist. Die Künstlerin Rachel Elijah hat einen 12-eckigen Quasikristall ersonnen, innen mit Glas, in dem man sich ein bisschen spiegelt, und auch ein bisschen durchsieht – das ist dieses Kunstwerk „time is directionless“. Wenn man „quantenphysisch“ schaut, bekommt alles eine andere Perspektive und stellt damit alles in Frage. Der Quasikristall übersteigt aber die Vorstellungskraft. Das andere Bild ist „time forward“. Aus unserer Betrachtung bilden sich Teile in eine Form, die einen Sinn hat – einen Würfel – und der hat den Sinn, dass man würfeln kann, oder er ein Haus ist, oder man einfach gleich große Seiten geschaffen hat und stolz ist auf sich und mit der Zeit, je nach Struktur, trägt ihn die Zeit ab, das Material verschwindet nach und nach und jemand baut wieder etwas anderes daraus. Das ist die Idee dahinter. Der Staub verfliegt und dann wird etwas anderes daraus.

So in etwa: „Alles ist fluide und es entsteht immer etwas Neues.“

Das Neue stößt dem Johannes in dem Fall sauer auf. Natürlich werden Sachen wieder etwas anderes, sagt er, aber wenn Dinge durch einen aktiven Akt entstehen, dann will man ja etwas damit erreichen. Und wenn das nicht ergründbar ist, dann ist das für ihn nicht befriedigend. Irgendwer wird sich etwas dabei gedacht haben und das will er wissen, damit er das Gebäude in Einklang damit bringen kann.

… es gibt keine befriedigende Erklärung …

… oder keiner kann sie ihm geben. Sie ist nicht mehr zugänglich.

Aber dadurch, dass er sie nicht bekommt, bekommen wir sie ja auch nicht.

Genau, für uns gibt es sie auch nicht. Und das ist die „time forward“-Idee, die ein bisschen an „Die letzte Welt“ von Ransmayr angelehnt ist. Er sagt darin (was natürlich auch in irgendwoher genommen ist oder von etwas inspiriert ist), der Endzustand aller Dinge ist Wüste. Alles, jeder Stein wird irgendwann zu Staub. Und ich habe gedacht: Aber da kann es dann weitergehen. Das muss nicht der Endzustand sein. Klar, das ist ein poetisch anderer Kontext bei ihm. Aber wenn der Staub dann wieder zu etwas wird und wieder und wieder, dann ist das spannend. Deshalb auch das Ransmayr-Zitat im Epigraph, das ist aus dem „Strahlenden Untergang“. Obwohl es das erste und das kürzeste Ransmayr-Buch ist.. Was mich immer wieder beeinflusst, ist die „Organisation des Verschwindens“. Da geht es um eine neue Wissenschaft, die erkennt, dass eh alles am Ende Staub ist – was er später im anderen Buch wieder sagt. Und dass die Wissenschaft mit ihrem Mess-Zwang eine möglichst endgültige Wahrheit wissen will. Wenn alles Gemessene am Ende eh Staub ist, und wir müssen alles in diesen Endzustand bringen, das ist die Organisation des Verschwindens: Wir löschen die Menschheit aus, zur Beschleunigung der Wahrheit.

Alle Gedanken zu Ende gedacht …

Genau, und im „Strahlenden Untergang“ werden Freiwillige in große Terrarien in der Wüste eingesperrt, die sind ganz flach. Man sieht die Wände des Terrariums, aber man darf auf keinen Fall hinaufklettern, und es muss mindestens 50 Grad haben, es darf keine Wolken haben, einer wird mit dem Hubschrauber hineingebracht, darf aussteigen und dann fliegen sie weg. Sie machen alles, was die Wissenschaft macht, nur ohne die Beobachtung. Sie nehmen keine Daten auf, lassen sie verschwinden, sie sind vertrocknet. Deshalb auch „Ein Entwässerungsprojekt oder Die Entdeckung des Wesentlichen“. In dem kurzen Text, in Vers gesetzte Prosa, in 50 Seiten steckt so viel drin, dass es mich immer noch inspiriert. Im ersten Roman vor allem habe ich da ein paar Gedanken aufgegriffen. Da sind sie in der Wüste, graben etwas aus und Dr. Thiel verirrt sich einmal in der Nacht und stößt gegen eine Mauer. Arbeiter finden ihn, bringen ihn zum Lager zurück und sagen ihm, dass sie den Auftrag hätten, eine Mauer in die Wüste zu bauen. Keiner weiß warum, aber wir machen das halt. In meinen Gedanken ist diese Mauer eben das Terrarium. Eingeritzt steht auch eine Nummer und darunter „Der Herr der Welt“. So nennt bei Ransmayr die Wissenschaft den Menschen nämlich so. Ich versuche immer ein kleines Zitat einzubauen.

Am Ende kann Johannes das Leben wieder ertragen.

Vielleicht ist es für ihn persönlich ein positives Ende, aber eher ist es eine Resignation. Er lässt sich wieder zurückfallen in sein bequemes „Dann weiß man es halt nicht“. Das einzige, was ihn an Emotionen wieder wachrüttelt, weil er sich mit dem Hotelier befreundet, ist die Dekonstruktion des Hotels. Plötzlich mag er es und es ärgert ihn, dass es verkauft wird. Er fühlt sich persönlich beleidigt von etwas, das ihn gar nicht betrifft. Erst hat er schöne Tage mit ihm, es ist nett und als es dann abgetragen werden soll, merkt er, dass die Person und nicht das Gebäude für ihn wichtig war. Dann kann er sich befrieden. Es ist kein gutes, aber ein erträgliches Ende und damit das einzige, was wir haben können.

Das Buch baut die Spannung vor der Explosion ja stetig auf …

Die letzten paar Zeilen sind das letzte Luftholen vor dem Sprengen. Kurz beruhigt sich alles und er lässt alle Emotionen auf einmal los. Er hat einen letzten Wunsch, dass ihm jemand von irgendwoher etwas sagt. Der letzte Satz „Von irgendwo ein Zeichen“ kann heißen, irgendwer gibt ein Zeichen, sie sind fertig, es geht los. Oder es ist ein Wunsch! Den Satz habe ich extra so belassen, der wäre fast dem Lektorat zum Opfer gefallen. Aber bei dem Satz ist auch die Satzstellung extrem wichtig. In „Malone Dies“ von Samuel Beckett ist das letzte Wort „anymore“. Da kann man so viel hineininterpretieren. Gibt es noch etwas? Nicht mehr? Da habe ich gelernt, wie wichtig letzte Sätze und letzte Worte sind – also wollte ich auch bei mir da viel mögliche Bedeutung reinstecken.


Nachgestirlt.

Ihr Buch in einem Satz?
Ein schmerzhafter Frieden mit der Unwissbarkeit.

Ein Ort in Wien, zu dem Sie immer wieder gern zurückkehren?
Der Schwedenplatz mit seinen verschiedensten Bars zum Fortgehen. Eigentlich ein ganz furchtbarer Ort, aber deshalb geht man ja hin. Aber selbst ohne Pandemie sind die Fortgehzeiten ja eher schon vorbei für mich.

Zu unrecht unbekannte oder zurecht bekannte Wiener Autor/innen?
Da fällt mir gleich spontan ein: Peter Clar – obwohl er natürlich nicht gänzlich unbekannt sein sollte.

Analog oder digital?
Ich habe immer schon digital geschrieben, seit ich 13 bin und mein Computer ins Zimmer gekommen ist. Meine Handschrift ist vollkommen unlesbar, auch für mich selbst.

Zu welcher Tageszeit schreibt es sich am besten?
Nachts.

Was lesen Sie gerade?
„Das perfekte Grau“ von Salih Jamal, einem Verlagskollegen. Davor von Jürgen Bauer „Porträt“. Ich lese unglaublich langsam, das letzte Buch habe ich im November fertig gelesen.

Auf welche Neuerscheinungen freuen Sie sich?
Auf den Fallmeister von Ransmayr, ganz klar. (Anm. der Redaktion: Zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht erschienen)


Peter Marius Huemer, geboren 1991, aufgewachsen in Wels/OÖ, ist seit 2012 freier Schriftsteller in Wien. Sein Debütroman „Die Bewässerung der Wüste“ erschien 2017 im Sisyphus Verlag, neben zahlreichen Erzählungen in Magazinen und Anthologien veröffentlichte er ebenda 2020 den Gedichtband „Uneinklang“. „Dies unfassbare Ding“ (Septime, 216 S.) ist sein zweiter Roman.