Es war die allererste Buchkultur: „Raoul Hausmann, Okopenko, Expressionismus und Zensur“ war auf dem Cover vor gut 33 Jahren zu lesen, und was sich dahinter verbarg, war noch so ganz anders, als sich die Buchkultur heute zeigt. Am augenfälligsten wohl der Unterschied, dass ein Großteil der abgedruckten Beiträge Primärtexte waren – so auch das Langgedicht „7. Mai“ von Andreas Okopenko. Autorin Birgit Schwaner hält für WienLiteratur noch einmal das Außergewöhnliche am 2010 verstorbenen Schriftsteller und Menschen Andreas Okopenko fest.


Selbstauskunft: Dichter und Realist

Randnotiz zu Okopenko

Im Vorüberziehen der Jahre und Feuilletonartikel nannte man ihn vieles: sanfter Anarchist, Rebell mit Charme, Frauenverehrer, Erneuerer, Protokollant der eigenen Widerstände, diskret, ängstlich, einstiges enfant terrible … Soweit einige der Bezeichnungen, mit denen Andreas Okopenko bedacht wurde. Natürlich greifen sie oft zu kurz (oder gar daneben) – und dies nicht nur, weil Schlag- und Stichwörter ohnehin dazu neigen. Nein, vielmehr scheint sich die Persönlichkeit dieses Autors einer schnellen Skizze stärker zu entziehen, als z.B. die seiner früheren Weggefährten Mayröcker, Jandl und Artmann. Warum?

Zunächst ein paar biografische Angaben, steckbriefartig zur Orientierung: Andreas Okopenko, Sohn eines ukrainischen Arztes und einer Österreicherin, geboren am 15. März 1930 im slowakischen Kos̆ice, gestorben am 27. Juni 2010 in Wien. Dazwischen: aufgrund seines in puncto Karpatoukraine freiheitskämpferischen und somit in Ungnade der Behörden gefallenen Vaters zweimal als Kind mit den Eltern übersiedelt, zuletzt 1939 nach Wien, Ottakring. Slowakisch, Ukrainisch und Deutsch gelernt. Sich für Chemie begeistert, seit dem 12. Lebensjahr die Ereignisse jeden Tages protokolliert. Fühlte sich früh zum Weiblichen hingezogen, als einer Art „Glücksreservoir“. „Kindernazi“ gewesen, Chemiestudent gewesen, mit 19 erste Gedichte veröffentlicht, mit 21 „die erste Avantgardezeitschrift junger Autoren“ herausgegeben und „durch Frechheit und Verrücktheit allerlei Spießer bis ins Parlament hinauf empört“, bis 1968 Betriebsprüfer einer Papierhandelsfirma; Hörspiele, Essays, Romane verfasst, dabei wohl immer Dichter geblieben; Erfinder von „Lockergedichten“, einem „Lexikonroman“, wesentlich engagiert in der Rekonstruktion der Welt als Okopenko’sches Universum, worin Alltägliches als Spielart des Surrealen enttarnt ist:

Da liegt z.B. ein „Ypsilon aus lavendelblauem Registerkarton“ am Boden, das jeden, der es aufklaubte, ins Verhängnis stürzte. Da wachsen „giftlippenrote“ und „eidotterhafte“ Blumen neben „feuergrünen Bäumen“. Die goldene Armbanduhr einer Sekretärin ist „eine aufgezogene Dame“, man begegnet einem „zwei Meter langen Knilch“, träumt von einer Geliebten, die „eine tragische Hausnummer hat, an der Leben scheitern“, oder erfährt von der Existenz des „selbstauslöschenden Stenogrammblocks“, von der Notwendigkeit, ein „Vogelaug“ zu haben, und wird aufgefordert: „Jetzt hören Sie tapfer zu!“

Die präzise, ironische Poesie, die den literarischen Mikrokosmos Okopenkos durchzieht, beschert nicht nur Hardcore-Sprachfixierten ein wolkenloses Leseglück. „Vielleicht wird die Literaturkritik später feststellen, Hörspiele und Prosa von Okopenko sind nichts anderes als verkäuflich getarnte lange Gedichte“, schreibt er einmal, im Jahr 1969.

Selbstverständlich sind ihm die poetischen Verfahren der modernen Avantgarde, wie z.B. Montage und Sprachspiel, bestens vertraut und auch in seinen Werken präsent (z.B. im auf allen Ebenen abwechslungsreichen „Lexikonroman“ von 1970). Doch da gibt es seinen Drang zum Gegenständlichen, sein „Wiedergabetick für Wirklichkeit“ – Schreiben als ständiger Versuch, „die Ergriffenheit vor der ‚lebendigen‘ Welt zu transportieren“.  Die Wirklichkeit – und darin sich selbst, mit allen Sinnen – als Augenblickswunder erfahren. Und damit als literarischen Stoff, den man mit seiner Sprache unaufhörlich „einfangen, ordnen, verdichten“ muss. Sisyphosjob, naturgemäß. Besser, man hätt‘ ein Vogelaug.

Ein Resultat dieses Einfangens, Ordnens und Verdichtens – das mithilfe stenographischer Notizen, mehrfacher Übertragungen und Überarbeitungen in verschiedenen, methodisch geordneten Kladden bewerkstelligt wird – ist Okopenkos fulminantes Langgedicht „7. Mai“ (siehe unten anschließend). Der titelgebende Frühlingstag „liegt und fliegt“ darin über einer demnächst zerstörten Welt, die mit jeder Zeile, Bild für Bild, noch einmal entsteht und vorüberzieht, fliegt: „Über die unverrückbaren Ebenen, Wasserwerke, / Hochspannungsleitungen mit Vögeln darüber, Kindern darunter, / Schießplätze, deren Figuren zu Vogelscheuchen wurden und Wanderer-Zeichen / Zaunwege, auf denen vor drei Jahren ein interessanter Mensch gegangen (…)“. Liegt über Landschaften und Städten, einzelnen Gebäuden und den Menschen darin, streift ihre Geschichten und fliegt über Dinge, Tiere, Insekten, Vorhandenes und Gewesenes.

Das Vogelaug blickt nach außen und innen. Weil: Für den erklärten „Realisten“ Okopenko ist die Realität eine absolute, grenzt nicht Traum noch Erinnerung aus. Träume, so schreibt er im Nachwort zu seinen 1998 publizierten „Traumberichten“, zählten für ihn zur „anfassbaren Realität“. Deshalb wolle er auch hier „ganz gegenstandsnah hinüberbringen (…), was ich gesehen, gerochen etc. habe und was mich so stark berührt hat, dass ich davon zu schreiben zu müssen glaube.“

Diese Dringlichkeit, wahrgenommene Farben, Klänge, Szenen, Empfindungen usw. möglichst „gegenstandsnah“ und exakt in Sprache übersetzen zu müssen, ist noch beim Lesen Okopenkos spürbar, etwa in der Plastizität seiner Bilder, der Sogkraft dieser Literatur …

Ach, was wäre darüber nicht noch alles zu sagen! Allein die Werke, die man erwähnen müsste, den „Kindernazi“, den „Meteoriten“, die Lyrikbände natürlich, die Essays, Hörspiele, seine 2020 erschienenen, frühen Tagebücher, auch die spielerische Leichtigkeit seiner Spontangedichte, und so viel mehr. Lesen Sie ihn! Unbedingt!

P.S.: Das wurde in der Hoffnung geschrieben, dass Sie keine Aufforderung benötigen, vielleicht bereits das Okopenko’sche Universum betreten haben. Wer dessen Schöpfer noch kennen lernte oder lesen hörte, begegnete einem auffallend freundlichen und rücksichtsvollen Menschen. So einer mag einen scharfen, unbestechlichen Blick auf seine Umgebung werfen – seine Zeitgenossen drücken ihm dennoch, wie O. es nannte, den „Brandstempel ‚stiller und scheuer Poet‘“ auf die Stirn und fragen im Interview nach der Ursache für seinen „mangelnden Jagdeifer nach Publicity“ … Sie verstehen nicht, dass ein Freundlicher, Leiser eher unbehelligt bleibt. Und dann quicklebendig schreiben kann: „Trauriges Märchen: Ich war einmal“.

Derzeit erhältlich:

Andreas Okopenko
Ich hab so Angst, daß die Chinesen kommen
Ausgewählte Gedichte
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Daniel Wisser
Jung und Jung, 144 S.



Okopenko – 7. Mai


Über die unverrückbaren Ebenen, Wasserwerke, / Hochspannungsleitungen mit Vögeln darüber, Kindern darunter, / Schießplätze, deren Figuren zu Vogelscheuen wurden und Wanderer-Zeichen, / Zaunwege, auf denen vor drei Jahren ein interessanter Mensch gegangen, / Flußarme, die verwaist sind, seit die Familie des Dr. T. nach Westen gezogen, / Eisenbahnschienen, deren Zwischenblüten nicht mehr der Sechsjährige pflücken wird in der Nähe der Thermosflasche seiner Mutter, / Fabrikhallen mit starkem Lichteinfall, deren Arbeiterinnen längt ausgewechselt wurden, aber ist das Surren der Packmaschinen und Ventilatoren weniger unmittelbar geworden? Über die Almhäuser, von deren anderer Luft ein Vertreter lernen möchte, anders zu werden / aber Mauern und Balken / und die Glocken der Kühe bleiben ihm unanwendbar fremd,

über die Mischwälder, deren schwarzbraun und lichtgrüne Wipfel einem schwarzgrün und rostroten Herbst entgegenuhrwerken / und der Reisende im Abteil kaut betroffen seine Schokolade

über die Siedlung nahe dem großen Fluß, / wo die schlanken glänzenden Kräne nicht aufhören, sich zu drehen, / und pflusternde Bagger Hügel in Lehmrot aufwerfen und Schatten einlagern in der Erde, / die Siedlungen, wo einem Mädchen, die waschen hilft, der Sonntag-Tanz etwas bedeutet,

über die Baracken, wo brütende Dachpappe und ausgeschossenes Kernseifenwasser, das jetzt von der Sonne beschienen zwischen Büschen versickert, mit der Zeit ein neues Siebenbürgen werden, / der Mann mit der Pfeife findet heute schon das eine so unwirklich wie das andere,

über Vorgärten alter Zweifamilienhäuser, in denen schwerhörige Damen / das Knistern von Seide erinnern und ihre Ziele sinnlos finden / gegenüber der reinen Beschaffenheit von Stoff und der Wildnis von Lilienblättern,

über Vorstadtfleischerläden, wo heute das Mädchen in den kühlen Raum kommt, / weil sie hier ihre mehrfache Perlenkette dem Herrn Niemand vorführen kann, /dessen dauernder Mannequin sie ist seit ihrer biologischen Reife im vorigen Jahr,

über das Restaurant auf der Höhe, wo der Ingenieur speist, der seinen häßlichen Posten aufgegeben hat und jetzt Erster Ingenieur ist, / sodaß er ein Barfräulein aus dem Zentrum der Stadt neben sich auf dem Sessel aufpflanzen könnte, / aber er zeigt den Schmerz der Einsamkeit lieber ungetarnt, / pflegt geckenhaft sein Äußeres / und schüttet Ironie über sich wie ein sublimes Toilettewasser;

über das Weinausflugsgebiet, die Pechgewinnungswälder, das Spital / wo ein Masernkranker mit dicken Himbeersaft seinen Durst löschen muß, / wo sein Freund sich zusammenpackt und dann geht er schon die Allee entlang etwas schwach auf den Beinen, ganz gefangen vom Frühling, / das Spital, wo die Krankenschwester um zehn Uhr umhergeht mit dem klickenden Wasserglas voll Thermometer / und in den gelbgrünen jungen Blättern der Büsche singen die Spitalsingvögel / und in den Spitalkesseln der Küche kochen die Köchinnen ihre Riesenmahlzeit; / einem, der über den Gang geht, erwacht der Halb-elf-Appetit auf das Erbsenpüree, / Im Laboratorium durchstrahlt die Sonne bunt die Urinsorten, / und ein sachliches Mädchen, vom gelben Blütenfenster ganz abgedeckt, singt sich ihr eigenes Wiegenlied;

über die aufgelockerte Markszene, / wo man etwas seitlich von Badgehern mit losen Täschchen / in einem Dickicht von Petersilie, Wurzeln und gelben Rüben versinken kann / oder auf dem feuchten Boden einer Marktbude sich niederlegen, / in Nachbarschaft nur eines Strohbesens und eines Eimers,

über die saubere Bienenzuchtanstalt / mit nummerierten Stauden und Bäumen, Kapuzen und Spritzen / und da und dort sogar einer wirklichen Biene / die zu einer Blüte fliegt, / und einem vereinzelten Arbeiter, / der einen Schotterkarren führt mit gleichmäßig nichts erwartendem Schritt,

über den Weinbauern-Hof, in dem, seit Gäste darin verkehren, / einige Überraschungen stattgefunden haben, / die am nächsten Morgen von der mürrischen Hausfrau ausgekehrt werden, / auch der Himmel wurde danach wieder gereinigt, / sodaß er jetzt offensteht Entschlüssen, Bindungen an Menschen, oder der Langeweile; / auch dem Gebet, der präzisen Klage und meteorologischen Studien;

über die Viadukte, in denen nichts / die abendlichen oder nächtlichen Huren verrät, / die, fluoreszenten Glasschmuck an den Ohren, / bis zu einem gewissen Grad die Verwirrung noch mehren; / viel aber gibt es im Augenblick Krautblätter und Kraftfahreröl;

über all dem und den melancholischen Gärtnereien, / in denen eine Stunde für immer vergeht / und die Blumentöpfe sind die einzigen, die das würdigen, / die das ausläuten würden, wenn sie Glocken wären, / während die Gärtnertochter, wie sie glauben, von nichts eine Ahnung hat,

Buchkultur Ausgabe 1, 1989

und über dem Speckauslassen der Fleischer, / das über die Gasse bummelt mit diebstahlanstiftendem Geruch, / das die Leute quält, die das nötige Geld nicht haben, / oder die für heute schon Haferbrei vorgekocht haben, / oder die einen Gallenanfall erwarten, / während der bratige Duft weiterschwebt, weitergeht ein paar Häuser, / den ganzen Vormittag so;

und über dem Farb-Anrühren, dem kühlen rastgewährenden Kalk, / erdig, herdig, häuslich, / auch klösterlich, burgig, wenn man will, über all dem und dem Tiergarten, / in dem Frettchen sich das gelbe Äußere rosabeißen, / in dem Waschbären Wasser schaffen aus ihrem Faß,

über dem mit Kreide eingestaubten Schneider, / der ein himmelblaues Kostüm zuschneidet für eine zweiundsiebzigjährige Dame, / aber zu seinem Fenster kommen neugierige Vögel hereun, / während er seinerseits bunte Zwirnenden hinausschmeißt, / sodaß Innen und Außen langsam gleichwerden, über all dem und der Schusterwerkstätte, in der der Meister / mit der Zeit so unter hunderten Paaren von Schuhen versinkt, / dass er immerfort seinen Namen vor sich hermurmeln muß: Rappototschnigg, Rappototschnigg… / damit er nicht Schuh unter Schuhen werde,

und über den Feinmechanikermeistern Vater und Sohn, / die bis vierzehn Uhr mit Flanschköpfen scheppern werden / und Lieferwagen in Gedanken und Worten Schweißapparate anwerfen, / sodaß sich ein riesiger Autofriedhof bildet um ihre boshafte Schwelle, über die man hinfällt,

ein grau aufgerichtetes Brettchen mit der Aufschrift »Hoppla!«, / um vierzehn Uhr aber geht es in den Buschenschank,

und über der Bezirksmeisterin im Schnapsen, / die ihrem verzweifelten dicken Buben beibringt: das ist der Bub, / das ist nicht die Dame und der König und das As, das musst du lernen du Aas, / aus dir wird nie was, und ihm mit Brunnenkresse füttert, damit sein Kopf Vitamine kriegt,

und über dem Keramikstudio, in dem Manuela mit der Roßhaarperücke / vor dem Brennofen den Entwerfer einer Vase zur Zärtlichkeit nötigt, / ihr Mund gibt ihm kalte, violette Falten, / und ihre großen formenden Petrolhände patschen ihn an über all dem und dem Polizisten, / der einen Hund gefunden hat, welcher eine Sonnenbrille gefunden hat / und sie nun im Maul trägt gegenüber dem Speisehaus mit dem Durchblick auf Aquariumgarten und Lawn-Tennis, / wo der Rasenmäher eine Amsel geteilt hat und zugleich ein Musterflakönchen Chanel No. 5, / sodaß für belesene Leute eine Eros-Thanos-Atmospäre entsteht nach dem Rumpsteak,

über all dem und der Kirche für Neugierige, / wo die Trauung abgeblasen wurde und seitdem schaut jeder / auf dem Gang zur Postautoendstelle rasch einmal recht hinüber, / als wäre ein neuer Heiliger aufgestellt, der mit der Achsel zucken und Buh! rufen kann,

 über all dem und dem Photografen, / der Voigländer noch geraten haben will, die richtigen Linsen zu bauen, / noch ein Vogi aus schwarzem Karton besitzt, das von der Kamera hochfliegt, noch schwarze Fingerspitzen hat vom Tauchen in Silbergallerte / und seine schwarzen Augenbrauen mit Höllenstein nachschwärzt,

 über all dem und dem Meßamt, das geschlossen ist, seit das Eichamt misst, / aber das Schild ist noch da: zehnte Muse, blind, das Urmeter tagend, / rechts und links ein Frosch, das Schild beschirmend, / ein Spalt in dem rostigen Rollladen lädt zum verstohlenen Reinschauen, / nur kommt man nicht hinüber: der Steg über das stinkende Bächlein ist abgerissen / und eine bebrillte Sechsjährige in rot-grün-karierten Knickerbockers knallt eine leere Tomato-juice-Flasche ans Blech;

über all dem / und einem bärtigen Schulbuben-paar, konjugiert: ich lenze fau, du lenzt fau, er lenzt fau / und: ich bin ana, du bist ana, er ist chronistisch / und wiehert und sich tritt und ins Bäckerhaus heimläuft, wo die Fanny Hill versteckt ist, / eine Fetzenpuppe mit allen Details, / unter den handgenährten stäubenden Säcken LUSTMÜHL ROGGEN IIA,

über dem ehemaligen Spediteur Kajan, tintenstiftnarbig, / der bei jeder Windstille in der Likörstube sitzt, / auf dem zerittenen Küchensessel, und nun einer stattlichen süchtigen Stenotypistin vom Türkenfeldzug erzählt, / in dem er viermal vom Pferd fiel und sich zerschlug; / und die Stenotypistisch rät »Urin, nichts als starken Urin auf die Wunden!«;

über all dem liegt, / über all das fliegt / der Tag 7. Mai / eines nicht sehr bedeutenden Jahres / eines sich selbst viel bedeutenden Autors, / aber eines bedeutenden Jahres / vieler anderer und an und für sich.

Er wurde ersehnt / am 26. August, als der Urlaub zu Ende war und Pamela dem Chef weinend die Brille nachtragen musste, / Pamela hatte noch die rauchenden Felder der Bahnrückfahrt in Erinnerung und mit Ernst war es wegen eines lächerlichen Schuhlöffels auseinandergegangen,

am 2. Februar, als ein verrückter Föhn über die Wienflußbrücke bei Auhof / jagte, und mir den Knochen eines frühen Frühlings vor die Nase hängte, der beim Zubiß wegschnellen würde, / und wirklich folgte der ganze Winter und ich hatte niemanden, der an einem Schneemann interessiert war,

am 1. November, als Karli schulfrei hatte, aber auf den faden Friedhof mitzoteln mußte, es war sonnig und naßkalt, die Wege waren vollgeschütteten mit Laub, die Schuhe kalte Umschläge, und er bekam Lehren: mit zwölf Jahren muß man schon grüßen, / am Nachmittag aber waren sie alle bei Onkel Gusti eingeladen, der Karli nichts als Lateinisch abprüfte, und die zwei Cousinen waren im Theater / an einem datumslosen Regentag, da wir trotzdem spazierengingen um unsere Unabhängigkeit von dem bißchen Sonne zu zeigen, / und durch die erwarteten Fichten strömte auf den erwarteten Waldgrund der regenverdünnte Harzgeruch, und uns war es endlos gleichgültig, ob da morgen Pfifferlinge aufstehen würden, und wir fragten „Was nun?“, / und eine junge Semperit-Arbeiterin erzählte von schmorender Luft und dem Betriebsunfall ihres Mannes,

an einem Feldstecherabend im Juli, die Optik stand gegen den Sternhimmel, und der Knabe wünschte sich zwei Jahre älter zu sein inmitten der weiblichen Sternnamen,

an dem Abend eines Bauernrentners im Juli des nächsten Jahres, der Arm war steif und der Mann wünschte sich, noch einmal jenen Grasflecken sicheln zu können,

an einem Sterbevormittag im ungelüfteten Bett mit viel Eau-de-Cologne und dem Conan Doyle oder Malte Laurids Brigge,

an dem strategischen Tag, als die Steuern sich endlich bezahlt machten und der blendendrosa Himmelsofen anheulte, / für den Augenblick bekamen die schmelzenden Städte hoch oben Silhouetten und Fenster zurück,

an dem endgültigen Tag, als die Sonne ihren Platz im HR-Diagramm verließ, an sich zum Riesen aufblähend, / sodaß die Leute auf Proxima Centauri ihr Nachschauspiel hatten / in Laub, Betten und Observatorium am 8. Mai 2213.

So wurde er ersehnt / von hinten und vorn, / der 7. Mai / und nun ist er da / und wir können alle seine Schlupfwinkel aufsuchen, / noch viele Stunden lang, / seine Flugebenen überfliegen / viele Stunden lang.

Über die Schmiede in der Kreisstadt, die kaum mehr Arbeit hat und nie einem bittenden Amerikaner die Hufe beschlägt, / auf dem Fensterbrett aber stehen schreiende Blumen und Bierflaschen mit dem Totenkopf »Vorsicht! Ätzend!«, über die Lehmstraßen, Kalkstraßen (noch zwei Meter drüber ist das Böschungskraut eingemehlt; wir rannten an einem perfekten Sonntag mit prallblauem Himmel stark lachend in die Bissige-Hunde-Wiese hinein),

über das windverkollerte Zeitungsblatt mit der lesbaren Schlagzeile Streit um zwei Sensatoren, zuletzt braun von einem Kind benutzt,

über das gold-rot-blaue Pyjamapaar, flatternd von der Fensterleine eines Bausparkassenhäuschens, dahinter planscht Hausmotorenlärm,

über die versöhnlichen Lichtkegel im Vorraum des Zahnarztes, wo das Kieferkind kein Interesse an Donald Duck hat, / leise fällt nebenan Nickel auf dickes Glas,

über die drei Vormittagfrauen in Rostrot, Oliv und Grün, / die seit fünfzig Minuten um den Gehsteigrand tänzeln, / vor allem erörternd, ob Erika eine verdächtige Krankheit hat, / zwei der Einkaufstaschen mit langen Suppengrünbündeln geschwänzt,

über den Tennisplatznachmittag, in dem ein kahler Grieche, / von Käse abbeißend, Schritt für Schritt den Kreidewagen zieht, / auf deutsch murmelnd »ein so ein schlechtes Geschäft … nein, sowas … « und die einzigen Gäste mit Käsekrümeln fütternd,

über das Internat, wo um vierzehn Uhr dreißig / die Briefstunde begonnen hat und Frau Lucille sagt: / Kinder, schreibt nicht nun von der Küche, schreibt auch eure Eindrücke nieder / in Jahren werdet ihr dankbar diese Aufzeichnungen lesen – / bist du unwohl, Jacqueline?

Und über den Eissalon, wo eine lilahaarige Dame die Krücke / an den benachbarten Teenagersessel klackt und im aufkommenden Nachmittagswind, / zu den Seglern aufschauend, klingenden Baritons ausruft: Drei Eiscafé für mich! / Ich habe Krebs! Ich will das Leben genießen!

Und über den Stein im Fluß mit der beige-roten Sprenkelung, / dem es jetzt etwas kühler wird, weil die Sonne nicht hineinscheint, -/ und ein eisweißer Sprudel Selterswasser erkühl ihn noch weiter,

und über die zwei Drogeriemädchen, die vor der Grillstube / das Stöckeln verlangsamen und sich ansehen: meinst du, kann man da reingehen? Und sich vor die Scheibe noch zusammen mit Obstblüten spiegeln / und seidendünn finden: o ja, wir können da reingehen;

und über den Jusstudenten, der hier Hasplinger Bier trinkt, / weil ihm davon immer schlecht wird und er braucht das zur Buße, / weil er Minderjährige schreckt und darunter sehr leidet in seinem traurigen Vollbart, / aber längst nicht mehr wagt, zur Beichte zu gehen; / maiabendgelb steht der Strafkrug mit blauem Email auf dem blauweißen Tischtusch;

und über unserem Grillvieh und unserem Erlauer-Römer / liegt und fliegt der 7. Mai und lugt schiefen Hakens noch aus dem Kalender, / während wir grillrote Blicke auf rülpsende Drogistinnen werfen / und dem Jurisprudenten seine Sünden verzeihen im Rotweinschein, …

(Auszug)

Andreas Okopenko, geb. 1930 in Kosice (CSSR), Chemie-Studium an der Universität Wien. Lektor der »Neuen Wege«, gem. mit Otto Breicha Herausgeber des Hertha Kräftner-Nachlasses. Lebt in Wien. Mitglied der Grazer Autorenversammlung. »Grüner November«, Lyrik 1957. – »Warum sind die Latrinen so traurig?« Spleengesänge 1969. – »Meteoriten«, Roman 1976. – »Graben Sie nicht eigenmächtig« 3 Hörspiele 1979 u.a.m. Andreas Okopenko »GESAMMELTE WERKE« 176 Seiten, hardcover, edition neue texte, öS 168,–/DM 24,–. ISBN 3-900-292-493.