Sind sie empathischer und begegnen sie anderen Menschen und Kulturen mit weniger Vorurteilen als Erwachsene? Hat (Kinder- und Jugend-)Literatur verbindende Kraft? Darüber und weshalb Kinderbücher auch für große Lesende so wertvoll sind, sprachen wir mit dem bedeutenden Autor und Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer (»Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe«, »Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war«). Foto: Heribert Corn.


Buchkultur: Herr Hochgatterer, sind Kinder die »besseren« Menschen? Inwiefern?

Paulus Hochgatterer: Selbstverständlich sind – im Gesamten genommen – Kinder die besseren Menschen! Sie sind dem, was wir Erwachsenen an Unerfreulichem für sie bereithalten, in der Regel noch nicht lang genug ausgesetzt, um selbst unerfreulich und verbiestert zu werden. Ein wenig sanfter formuliert: Die Kindheit ist so kurz, dass sie die meisten von uns am Ende zumindest mit einem Rest der Idee des Guten in der Welt verlassen können. Das macht im Übrigen den täglichen Kontakt zu Kindern, wie ich ihn als Kinderpsychiater haben darf, so erquickend – die Idee des Guten noch unmittelbar spüren zu dürfen.

Was haben Kinder uns Erwachsenen voraus? Gehen sie mit einem offeneren Herzen durchs Leben? Begegnen sie anderen Menschen, Kulturen usw. mit mehr Empathie und weniger Vorurteilen? Ist ihr Blick auf »andere«, auf »Fremde« noch unverstellter? Lassen sie sich noch mehr berühren als wir? Glauben sie noch an ihre Träume? Sind sie mutiger?

Sofern es nicht Ereignisse bzw. Menschen gegeben hat, die einem Kind das Herz verschlossen haben, geht es üblicherweise mit offenem Herzen durch die Welt. Natürlich gibt es vorsichtige und anlagebedingt ein wenig ängstliche Kinder. Ein gewisses Maß an Neugier und Bereitschaft, sich der Welt zu exponieren, ist jedoch in jedem Kind vorhanden, solange es ihm nicht aberzogen wurde. Das gilt ganz besonders für die Begegnung mit dem Fremden. Lassen Sie zum Beispiel zwei Kinder im Kindergartenalter, die sich in Hautfarbe, Sprache und Herkunftskultur unterscheiden, unvorbereitet aufeinandertreffen, werden Sie ein herzerfrischendes Ritual der neugierigen und freundlichen Kontaktaufnahme beobachten können und kein Duell der Ressentiments wie bei uns Erwachsenen.

Emotion ist die primäre Quelle unserer Beziehungsfähigkeit. Die frühe Erfahrung, dass eine andere da ist und uns in unseren verwirrenden und überfordernden ersten Gefühlen beruhigt, tröstet und ordnet, macht uns erst zu sozialen Wesen. Das Berühren und Berührtwerden ist der Ursprung unserer sozialen Existenz, und dem sind Kinder in der Regel noch ein Stück näher als wir Großen.

Machen uns Kinder zu besseren Menschen? Was können wir von (unseren) Kindern lernen? Woran sollten wir uns ein Beispiel nehmen? Wie bewahren wir uns ein kindliches Gemüt oder die kindliche Neugier und Offenheit?

Dass es Kindern gelingt, uns zu besseren Menschen zu machen, bezweifle ich in diesen Tagen ein wenig. Es scheint doch momentan so zu sein, dass wir dazu neigen, Kinder zu belächeln, sie geringzuschätzen oder uns über sie zu ärgern, wenn sie sich explizit für eine bessere Welt einsetzen. Wenn sie ab und zu auf den Unterricht verzichten, um gemeinsam für eine Verbesserung des Weltklimas einzutreten, finden wir das in Bezug auf ihre Schulbildung bedenklich, und wenn sie sich eine Weile am Straßenasphalt festkleben, kriminalisieren wir sie und nennen sie Terroristen. Eine Portion kindlicher Ernsthaftigkeit und Sorge um die Welt würde uns gerade heute ganz gut anstehen, denke ich, aber offenbar haben wir es uns in unserer Borniertheit inzwischen ziemlich stabil eingerichtet.

Soll man Kindern, wie Herbert Grönemeyer es Mitte der Achtzigerjahre besungen hat, das Kommando übergeben? Weniger überspitzt ausgedrückt: Wenn wir den Kindern mehr zuhören würden, auf sie hören würden – wäre die Welt dann eine andere, bessere?

Ich glaube nicht, dass man Kindern das Kommando übergeben sollte. Es würde reichen, ihnen besser zuzuhören und sie ein wenig mehr an dem partizipieren zu lassen, das sie – gemessen an Jahren – eindeutig mehr betrifft als uns: an den Entscheidungen, die die Zukunft der Welt betreffen.

In den im Heft vorgestellten Büchern begegnen uns immer wieder Kinder und Jugendliche, die in frühen Jahren große Verluste hinnehmen mussten, die es aber, mit Hilfe von Freunden und weil sie aufeinander vertrauen usw., trotzdem schaffen. Meine Frage dazu: Wie resilient sind Kinder?

Ich bin dieser Frage gegenüber immer sehr vorsichtig. Sie kann allzu leicht als: Halten Kinder nicht eh alles aus? verstanden werden. Als Kinderpsychiater, der genauso viel mit der Vulnerabilität von Kindern zu tun hat wie mit ihrer Resilienz, mache ich täglich die Erfahrung, dass Kinder nicht alles unbeschadet überstehen. Wenn man Kindern Gewalt antut, körperlich oder psychisch, wenn man sie missbraucht, sexuell oder emotional, wenn man ihnen vorenthält, was sie für eine gesunde Entwicklung brauchen, fügt man ihnen Schaden zu, das muss uns allen bewusst sein. Haben diese Kinder das Glück, jemandem zu begegnen, der sich ihnen zur Verfügung stellt und ihnen einen Weg aus ihren Nöten weist, kann eine Wendung zum Guten gelingen. Resilienz ohne eine Halt gebende Beziehung gibt es meiner Erfahrung nach allerdings nicht.

Was ist die Aufgabe oder die Funktion von (Kinder- und Jugend-)Literatur?

Kinder- und Jugendliteratur hat keine andere Funktion als die Literatur für Erwachsene auch, davon bin ich überzeugt. Sie eröffnet den jungen Leserinnen und Lesern Zugänge zu sprachlichen und narrativen Welten, die in der Realität nicht erreichbar sind. Sie stattet sie mit Superkräften aus und mit Wissen, das die anderen nicht besitzen. Sie erlaubt ihnen, die Schule überflüssig und die Eltern furchtbar zu finden. Sie ist immer stärker als das Böse, manchmal auch stärker als der Tod. Literatur hat definitiv nicht die Aufgabe, Kinder zu erziehen.

Hat die Kinder- und Jugendliteratur verbindende Kraft über alle Grenzen, Nationalitäten und Unterschiede hinweg? Fördert sie Vielfalt statt Einfalt, kann sie uns empathischer, mitfühlender, verständnisvoller für andere Menschen, Kulturen, Religionen usw. machen?

Diese Art der Befrachtung von Literatur mag ich an und für sich überhaupt nicht. Wenn man sich andererseits fragt, in welchen Ländern Pippi Langstrumpf oder Harry Potter Begeisterung oder Gänsehaut verursachen oder wo überall Maurice Sendaks Wilde Kerle schon gewohnt haben, wird das alles auch seine Richtigkeit haben.

Was macht Kinder- und Jugendliteratur auch für große Lesende so wertvoll?

Sie lässt uns all das Überflüssige, das wir uns im Lauf der Jahre angeeignet haben, vergessen, zumindest für eine Weile.