Wir alle sind besonders auf unsere jeweils ganz eigene Weise. Eine Reihe von Kinder- und Jugendbüchern erzählt in diesem Herbst vom Anderssein und weshalb es eine so fantastische Sache ist, dass wir nicht alle gleich sind. Illustrationen: Chanté Timothy / Coppenrath


Sich so zu mögen, wie man ist, mit allen Kanten und Schrullen, ist gar nicht immer so leicht. Insbesondere, wenn man vermeintlich anders ist als der Rest. Der kolumbianische Illustrator Canizales erzählt in seinem farbenfrohen Bilderbuch »Seltsam« von einem, der sich für durch und durch normal hält. Sogar seinen Kakao trinkt Pferd Clemens auf beeindruckend normale Art. Und als er erfährt, dass für Herrn Brunos neue Villa im Ort Personal gesucht wird, beschließt er, sich zu bewerben. Was kann schon schiefgehen? Alle wollen doch normale Leute! Doch es stellt sich heraus: Die Eigenheiten der anderen Bewerber/innen passen ganz hervorragend zu den speziellen Aufgaben rund um die Villa: Elefantendame Ella kann mit ihrem langen Rüssel den Garten wässern, Eulerich Enno kann auf dem Dach mit seinen großen Augen Ausschau halten, Krokodildame Klara kann mit ihrem Gebiss am besten die Büsche und Hecken im Garten stutzen. Und Clemens? Der hat vielleicht doch ein Geheimnis, das auch ihn ganz besonders macht!

Pferd Clemens störte sich in »Seltsam« insbesondere an den Äußerlichkeiten seiner Mitbewerber/innen. An zu großen Augen etwa oder einer zu langen Nase. Shelina Janmohamed erzählt in »BeYOUtiful« so locker wie einfühlsam vom Wandel der Schönheitsideale und feiert die Vielfalt von Körpern mit ihren Makeln und Besonderheiten. Sie richtet sich damit insbesondere an Teenager, die in Zeiten von Beautyfiltern und Photoshop zunehmend den realistischen Bezug zu Körpern verlieren. Janmohamed, die lange in der Werbung gearbeitet hat, will es Jugendlichen erleichtern, manipulierte, unrealistische Fotos zu erkennen und ihren Blick auf das zu verändern, was gerade als »Schönheitsideal« durch soziale Medien spukt. Körper sind, in jeder Form und Prägung, ganz wunderbare Erfindungen – ohne sie könnten wir uns in der Welt nicht bewegen oder unsere Freund/innen nicht umarmen. »BeYOUtiful« ist ein Appell, sich selbst und die eigene Schönheit zu entdecken, die ja sowieso viel öfter von innen als von außen kommt.

Besonderheiten können auch für Zusammenhalt sorgen, wenn erst einmal alle das Spezielle an sich entdecken. In »Linas Geheimnis« wachsen plötzlich sämtlichen Schüler/innen glitzernde Hörner, buschige Schwänze und weiches Fell. Aber der Reihe nach: Leider ist Lina die Erste, die nach einem peinlichen Vorfall in der Schule ein giftgrünes Horn auf ihrer Stirn entdeckt. Es wächst schnell und das Schlimmste daran ist: Andere Kinder können es sehen, die Erwachsenen aber nicht! Also glaubt ihr natürlich zunächst niemand, dass sie sich mit einem solchen Horn zum Gespött der ganzen Schule machen würde. Alles wird anders, als ihre beste Freundin Isa, die schon seit Wochen krank ist, sich bei ihr meldet und sich herausstellt, dass auch ihr Hörner gewachsen sind! Im Gegensatz zu Lina wurde sie ins Krankenhaus eingewiesen, weil niemand ihr glauben wollte. Karin Koch hat mit »Linas Geheimnis« eine berührende und spannende Freundschaftsgeschichte geschrieben, die das Anderssein feiert und auch die Erwachsenen in die Pflicht nimmt, dafür offen zu bleiben.

Manchmal kommt das Anderssein ganz leise durch die Hintertür. Nicht als giftgrünes Horn, sondern als Lakritzgeschmack im Mund. Als gelber Schwefelgeruch einer muffeligen, unfairen Mathelehrerin oder als herrlich hellblauer Mohnduft eines Mannes in der U-Bahn. Lilou sagt von sich, sie sei »innerlich aus Lakritze«, was bedeutet, dass sie verschiedene Arten von Salmiak auf der Zunge schmeckt, wenn sie wütend oder traurig ist. Zahlen oder Menschen mit ihren speziellen Gerüchen haben für Lilou jeweils eigene Farben, die sie zuordnen kann. Ihr guter Freund Onno zum Beispiel ist eine Mischung aus rot und apfelgrün. Lilous alleinerziehende Mutter führt ein kleines Café gegenüber der Schule, in dem die leckersten Sachen gebacken werden. Eigentlich läuft alles gut, bis Lilous Opa, den sie eigentlich gar nicht kennt, mit zwei eingegipsten Armen im Krankenhaus sitzt und ihre Mama sich um ihn kümmern muss. Die beiden haben jahrelang nicht miteinander geredet, es herrscht dicke Luft. Aber mithilfe von Onno und ihren ganz besonderen Fähigkeiten gelingt Lilou, was anfangs niemand geglaubt hätte! »Innerlich bin ich aus Lakritze« von Katja Ludwig ist so charmant und einnehmend, dass man Lilou für ihren ganz speziellen Blick auf die Welt lieben muss.

Besondere Geschichten kann man sich auch ausdenken, weil man Angst hat. Erin Entrada Kelly erzählt in »Irgendwo wartet das Leben« von Orchid Mason. Als die den Klassenraum der Schule von Fawn Creek betritt, ist allen sofort klar, dass sie anders ist. Das beginnt schon bei ihren langen, gewellten Haaren und der ungewöhnlichen Kleidung. Als Orchid erzählt, wo auf der Welt sie schon überall gelebt hat, werden alle ehrfürchtig und vielleicht ein bisschen neidisch. In New York habe sie gewohnt, sagt Orchid, und in Paris. Niemand in der verschlafenen Kleinstadt hat etwas von einer Familie Mason aus New York oder Paris gehört, Orchid taucht auf wie ein Geist und verschwindet nach Schulschluss im Wald. Was ist da eigentlich los? Ihre Freunde Dorothy und Grayson, selbst eher die Außenseiter in der Klasse, wollen mehr über ihre neue Mitschülerin erfahren und entdecken, dass die Besonderheit von Orchid Mason ihr Schutzschild ist – geschmiedet aus all den Träumen, die sie sich noch nicht erfüllen konnte.

Vielleicht sind wir aber auch gut genug, so, wie wir sind. Im Mittelpunkt von Erin Stewarts berührendem Roman »Was, wenn wir genug sind?« steht Lily Larkin, Einserschülerin und nahezu zwanghafte Perfektionistin, allerdings mit gefräßigen Dämonen im Gepäck, die ihr zunehmend das Leben schwer machen. Seitdem ihre ältere Schwester an einer bipolaren Störung erkrankt ist und versucht hat, sich das Leben zu nehmen, läuft bei Lily alles aus dem Ruder. Ihr Versuch, all ihre Gefühle unter den Teppich zu kehren, wird durch den neuen Schüler Mica auf eine harte Probe gestellt. Schließlich war er selbst lange in derselben Klinik wie Alice, er könnte auch dafür sorgen, dass Lilys sorgsam getrennte Welten kollidieren. Erin Stewarts Roman ist eine ernstzunehmende, packende Auseinandersetzung mit psychischer Erkrankung, einfühlsam und überzeugend erzählt, ungeschönt und nicht gerade leicht verdaulich – aber genau deshalb so lesenswert!

Am Ende lohnt es sich sehr, man selbst zu sein, mit ausnahmslos allem, was eben dazugehört: mit langen Nasen, mit glitzernden Hörnern, mit der eigenen Geschichte und den eigenen Verletzungen. In genau dieser Kombination gibt es all das in jedem und jeder von uns nur ein einziges Mal.

Canizales
Seltsam
Kindermann, 36. S.
ab 3

Shelina Janmohamed
BeYOUtiful
Ill: Chanté Timothy, Ü: Katharina Erben
Coppenrath, 128 S.
ab 10

Karin Koch
Linas Geheimnis
Ill: Magdalena Fournillier
Peter Hammer, 192 S.
ab 11


Katja Ludwig
Innerlich bin ich aus Lakritze
Woow Books, 160 S.
ab 9

Erin Entrada Kelly
Irgendwo wartet das Leben
Ü: Birgitt Kollmann
dtv, 352 S.
ab 11

Erin Stewart
Was, wenn wir genug sind?
Ü: Ulrike Köbele
Planet!, 464 S.
ab 13