Vom tropischen Malaysien bis ins kalte Norwegen: Acht Neuerscheinungen für kleine und große Lesende schlagen eine Brücke zwischen den Ländern und Kulturen. Illustration: Régis Lejonc / Jacoby & Stuart


Sind Kinder die besseren Menschen? Selbstverständlich, erklärt Autor und Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer, denn »sie sind dem, was wir Erwachsenen an Unerfreulichem für sie bereithalten, in der Regel noch nicht lang genug ausgesetzt, um selbst unerfreulich und verbiestert zu werden. Die Kindheit ist so kurz, dass sie die meisten von uns am Ende zumindest mit einem Rest der Idee des Guten verlassen können.« Sofern es nicht Ereignisse bzw. Menschen gegeben habe, die einem Kind das Herz verschlossen hätten, gehe es üblicherweise mit offenem Herzen durch die Welt. Natürlich gebe es anlagebedingte Unterschiede. Ein gewisses Maß an Neugier und Bereitschaft, sich der Welt zu exponieren, sei jedoch in jedem Kind vorhanden, solange es ihm nicht aberzogen wurde. Das gelte ganz besonders für die Begegnung mit dem Fremden: »Lassen Sie zum Beispiel zwei Kinder im Kindergartenalter, die sich in Hautfarbe, Sprache und Herkunftskultur unterscheiden, unvorbereitet aufeinandertreffen, werden Sie ein herzerfrischendes Ritual der neugierigen und freundlichen Kontaktaufnahme beobachten können und kein Duell der Ressentiments wie bei uns Erwachsenen.« Das Berühren und Berührtwerden sei der Ursprung unserer sozialen Existenz, und »dem sind Kinder in der Regel noch ein Stück näher als wir Großen«. Und: Auch »eine Portion kindlicher Ernsthaftigkeit und Sorge um die Welt würde uns gerade heute ganz gut anstehen« (statt Kinder deshalb zu belächeln, gering zu schätzen oder zu kriminalisieren). Auch von den Held/innen der folgenden Bücher können selbst große Lesende noch lernen.

Für Mädchen und Frauen im Iran ist das Leben kein Bilderbuch. Und doch hat die kulturhistorische Wiege der Menschheit einige der bedeutendsten Dichter, Mystiker und Gelehrten hervorgebracht. Einer von ihnen war der 1207 geborene Rumi, dessen Verse die Jahrhunderte überdauerten. Zu dichten begann er, als ihn die Trauer über den Tod seines Freundes (und Geliebten?) zu überwältigen drohte. Im Zentrum seiner Poesie und seines Glaubens stand die Liebe, die er als Elementarkraft des Universums ansah. Die im Iran aufgewachsene, heute in Washington, D.C. ansässige Illustratorin Rashin Kheiriyeh zeichnet Rumis Leben und Botschaft in Wort und Bild für die Kleinsten nach (»Rumi. Dichter der Liebe«). Wie ein Teppich aus Tausendundeiner Nacht: »Sich mit allen Menschen der Erde anzufreunden, ist die beste Religion der Welt«, sagte Rumi. Seine Worte in den Ohren der Mächtigen.

Auch die Italienerin Chiara Mezzalama appelliert in ihrem Graphic Memoir (Bilder von Régis Lejonc) an den besseren Teil des Iran. »Drinnen – Draußen. Ein Garten in Teheran« erzählt die authentische Geschichte einer Freundschaft über alle Hindernisse und Unterschiede hinweg. Chiaras Vater wird nach der Islamischen Revolution 1979, zu Beginn des iranisch-irakischen Krieges, als Botschafter nach Teheran berufen. Zwei Jahre ebendort werden Chiaras Leben für immer prägen. »Drinnen« – das ist der Garten, in dem einmal die Kinder des Schahs von Persien spielten und nun die des Diplomaten auf Entdeckungsreise gehen, ein friedlicher Ort, der den Krieg »Draußen« lässt. Doch eines Tages
klettert Massoud, ein iranischer Bub, über die Mauer in Chiaras Leben.
Warum führen Menschen Kriege? Wer entscheidet, auf welcher Seite der Mauer man steht? Das Buch ist auch eine Allegorie auf die westliche Flüchtlingspolitik.

Kinder- und Jugendliteratur ist immer stärker als das Böse, manchmal auch stärker als der Tod, sagt Paulus Hochgatterer. Die 17-jährige Malu aus Deutschland verbringt ein Austauschjahr in Japan, um größtmöglichen Abstand zwischen sich und das Unglück zu bringen, das ihr Leben auseinandergerissen hat. Vor zwei Jahren starb ihre Zwillingsschwester, seither ist Malu ein Schatten ihrer selbst. Tokio ist faszinierend anders – genau das, was sie zu brauchen glaubt. Doch dann bebt die Erde und begräbt die Menschen unter sich. Malu erhält Hilfe aus dem Reich der Toten, auf Japanisch: Yomi, einem Ort, den Verstorbene nutzen, um mit den Lebenden zu kommunizieren. Kann Malu den Sohn ihrer Gastfamilie retten? Wird sie ihre gerade erst keimende Liebe zu Kentaro in den Trümmern der Stadt wiederfinden? »Tokioregen« der in München geborenen ungarisch-iranischen Autorin Yasmin Shakarami ist ein klassischer Coming-of-Age-Roman und trotz schwerer Themen voller Humor.

Illustration: Rashin Kheiriyeh / NordSüd Verlag

Hamra, die Protagonistin aus Hanna Alkafs von fantastischen (Tier-)Wesen bevölkerten Fabel »Trau niemals einem Tiger«, lebt auf der Insel Langkawi im Nordwesten von Malaysia, mitten in der Pandemie. Ihre geliebte Großmutter ist an Demenz erkrankt und die lichten Momente, in denen sie ihre Enkelin noch beim Namen nennt, werden immer seltener. Hamras Eltern sind gegen das noch unbekannte Virus unterwegs und nur ihr bester Freund Ilyas denkt an ihren dreizehnten Geburtstag. Hamras Wut fordert ihren Tribut. Sie geht in den Dschungel und wie Eva im Paradies isst sie von einer verbotenen Frucht und gibt auch ihrer Großmutter davon. Der Genuss der Jambu bringt Hamra zwar für kurze Zeit ihre »alte«, gesunde Oma zurück. Doch der Preis dafür ist hoch: Das Mädchen soll einem sprechenden Tiger helfen, seine frühere Menschengestalt wiederzubekommen. Hamra, Ilyas und die Riesenkatze, der vielleicht doch zu trauen ist, machen sich auf den gefährlichen Weg zum magischen Nachtmarkt, auf dem es die Ingredienzien eines märchenhaften Abenteuers zu erwerben gilt: Auch ein Stein hat Träume und Gebete sind Wünsche. Aber um einen Wunsch wahr werden zu lassen, braucht es mehr, als nur zu beten. Und um menschlich zu sein mehr, als aus seiner Haut zu fahren.

Doch Wünsche sollten gut überlegt sein. Der dreizehnjährige Jan und sein Freund Ole möchten ein Abenteuer erleben. Der frühe Verlust der Mutter (oder beider Elternteile) hat sie zusammengeschweißt. Nun wollen sie sich eine Woche allein mit dem Kanu in der Seenlandschaft der norwegischen
Hochebene behaupten. Aber nicht nur, dass Jan sich am Bein verletzt, geraten sie auch noch in die Fänge von Wilderern, die ihnen ans Fell wollen. Denn Jan und Ole haben das Versteck entdeckt, in dem die Verbrecher illegal Elche und Biber ausnehmen und häuten. Gott sei Dank läuft ihnen Pia über den Weg. Die Samin verfügt über Wissen und Mut, die in der Natur von unschätzbarem Wert sind. Wem werden am Ende die Felle davonschwimmen? – »Sørlandet – Die Falle der Elchjäger« ist eine gediegen spannende Robinsonade aus der Werkstatt des Deutschen Wolfram Hänel.

Die zwölfjährige Edith aus Antje Bones’ »Nebenan ist doch weit weg« zieht es nicht von Berlin nach Krakau, wo ihre Eltern Arbeit gefunden haben. Zwar hat sie dort ein eigenes Zimmer in einem schönen Haus mit Garten. Aber sie vermisst ihre Freundinnen in Kreuzberg und sogar ihre alte Schule. Die polnische Sprache ist schwer und nicht alle in Krakau heißen Ediths Familie willkommen. Das liegt an der schmerzhaften deutsch-polnischen Geschichte, in die Edith unversehens tappt: Die Wand neben ihrem Zimmer ist hohl und in dem Raum dahinter entdeckt sie ein Bündel alter Briefe in Kinderschrift. Mit Milena und Antek aus ihrer neuen Klasse begibt sie sich auf eine Spurensuche, die tief in die dunkle Vergangenheit führt. Edith lernt, dass es Erinnerungen gibt, die Freude und Trauer zugleich bereithalten, und nebenan doch nicht so weit weg ist wie vermutet.

Wer hat an der Uhr gedreht? In die Vergangenheit reist auch Adam aus G. Z. Schmidts suggestivem Time-Travel-Roman »Adam und die Jagd nach der zerbrochenen Zeit«. Seine Eltern kamen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Wie gerne würde er das Unglück ungeschehen machen! Plötzlich scheint sich die Gelegenheit dazu zu bieten. Eine geheimnisvolle Schneekugel teleportiert ihn in die Zwanziger-, Dreißiger- und Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts, wo ihm ein Rätsel zu lösen aufgegeben ist: In der Stadt Candlewick macht ein skrupelloser Fabrikant mit Kerzen ein Millionengeschäft. Um seinen dicken Hals, den er nie voll genug bekommt, baumelt ein goldenes Pendel, das nicht ihm gehört. Und eine Spieldose ohne Aufziehschlüssel kündet mit einer schaurigen Melodie Tod und Verderben an. Was hat es mit den drei magischen Gegenständen auf sich? Lässt sich vergangenes Unrecht verhindern? Adam erkennt, dass Macht zu keiner Zeit glücklich macht und die Uhr niemals stehenbleibt.

Romantik mit einer Prise Kitsch. Was wäre gewesen, wenn Prinzessin Charlotte Augusta von Wales 1817 nicht im Kindbett gestorben, sondern zur Königin von Großbritannien gekrönt worden wäre? Wenn sie die Frauenrechte vorangetrieben hätte und das restriktive Viktorianische Zeitalter gar nicht erst angebrochen wäre? Jennieke Cohen schreibt die Geschichte um und bedient sich dabei aus dem Gemischtwarenladen: »Royal Taste« paraphrasiert auch Loewes und Lerners Musical »My Fair Lady« – mit vertauschten (Hosen-)Rollen. Lady Helena und ihre Freundin Penelope, angehende Absolventinnen der Royalen Akademie der Kulinarik, lesen im London der 1830er Jahre den jüdischen Gassenverkäufer Elijah auf und wollen ihn zum Gentleman-Koch ausbilden. Der Plan scheint aufzugehen wie der Teig seiner auf der Straße feilgebotenen Empanadas. Doch Antisemitismus und Rassismus rückt man auch mit guter Küche nicht automatisch zu Leibe. Wird es Penelope, Tochter einer Philippinin und eines Briten, und Elijah gelingen, sich trotzdem die (Michelin-)Sterne vom Himmel zu greifen?

Wer sich mit einem offenen Herzen durch die Welt liest, kann nur auf der richtigen Seite landen.

Rashin Kheiriyeh
Rumi. Dichter der Liebe
Ü: Thomas Bodmer
NordSüd, 40 S.
ab 5

Chiara Mezzalama
Drinnen – Draußen. Ein Garten in Teheran
Ill: Régis Lejonc, Ü: Nicola T. Stuart
Jacoby & Stuart, 32 S.
ab 9

Yasmin Shakarami
Tokioregen
cbj, 400 S.
ab 14

Hanna Alkaf
Trau niemals einem Tiger
Ü: Anja Hansen-Schmidt
Karibu, 400 S.
ab 10


Wolfram Hänel
Sørlandet – Die Falle der Elchjäger
Karibu, 192 S.
ab 11

Antje Bones
Nebenan ist doch weit weg
Ill: Michael Szyszka
dtv, 304 S.
ab 11

G.Z. Schmidt
Adam und die Jagd nach der zerbrochenen Zeit
Ü: Reiner Pfleiderer
Hanser, 240 S.
ab 10

Jennieke Cohen
Royal Taste. Ein Gentleman für Lady Penelope
Ü: Yvonne Hergane
Loewe, 432 S.
ab 14