Ach ja, Familie, man kann sie sich nicht aussuchen. Kinder müssen mit dem zurechtkommen, was da ist. Doch was das im Einzelfall bedeutet, beleuchten fünf Neuerscheinungen sehr unterschiedlich und dennoch tröstlich.


Welch eine hilfreiche Finte der Natur, dass Kinder zunächst das als gegeben nehmen, was um sie herum geschieht, egal wie schräg es ist. Die Reflexion kommt erst durch die Reaktionen der anderen. Ab da könnte es traumatisch werden, gäbe es nicht die Kreativität und die Kraft, sich neu zu erfinden.
Das Bilderbuch »Der längste Sturm« ist nicht nur illustrativ ein Melodram. Der offensichtlich alleinerziehende Vater, was nie thematisiert wird, muss eine Situation verwalten, die allegorisch auch den Lockdown der jüngsten Pandemie beschreibt. Ein aufziehender Sturm zwingt ihn und seine drei Kinder ins Haus. Farblich, gestisch, in fast comicartigen Panels zieht das Unwetter in die Seelen der Bewohner. Rustikal ausgedrückt bekommen hier alle einen Budenkoller. Kurz bevor die Situation kippt, fährt tatsächlich der Blitz in die abgefahrene Situation. Gemäß dem Spruch »es muss erst g’scheit scheppern, bevor was passiert« löst der Blitz die Spannungen und alle finden allmählich zurück in die Sympathie. Dieses Kammerspiel der Enge mit den wenigen Worten und den wuchtigen Bildern wird spätestens seit 2020/21 jede Familie kennen. Die, die man liebt, können ganz schön nerven … und das ist »normal« und nicht schlimm, wenn man Escape-Methoden hat. Dieses Buch könnte gute Dienste leisten bei schweren atmosphärischen Störungen.

Wenn aus »Escape« Flucht wird, das beschreibt eindrücklich »Zwei von jedem«. Die große literarische Kinderanwäl­tin Rose Lagercrantz hat hier eine Mini-Saga geschaffen, in der sie die Geschichte ihrer jüdischen Familie im 20. Jahrhundert verarbeitet. Eli und Luli, die beiden Kinder aus Siebenbürgen, erleben Armut, Hunger und Not, und doch entwickeln auch sie Escape-Methoden, zum Beispiel zu sprinten – welch ein Symbol! Was sie ausreichend bekommen, sind familiäre Wärme, den Zusammenhalt eines Dorfes, und nicht zuletzt die gegenseitige Zuneigung, die von Anfang an besteht. Es ist ein einfaches, karges Leben, doch aushaltbar, wären da nicht die politischen Entwicklungen, die Luli zu ihrem Vater in die USA emigrieren lässt. Eli kann seine Soulmate nicht vergessen, wächst heran und fällt, wie seine ganze Familie, in die Hände der Antisemiten. Lagercrantz pointiert in den kurzen Sätzen des Ich-Erzählers Eli das Schöne und das Entsetzliche. »Es war das letzte Mal, dass wir unsere Mama sahen (…) Wenn ich es begriffen hätte, ich hätte den Verstand verloren.« Es ist jener schnörkellose Stil, der die Geschichte vorantreibt, über viele Jahre und Kontinente hinweg, mit kleinen Hinweisen zu jüdischem Leben, bis zu einem Happy End, das eine so rührende Liebeserklärung ist, dass man sich fassungslos die Augen reibt. Lagercrantz hat wiederkehrende Motive poetisch zu einem Schicksalsteppich verwoben und damit ein schmales großes Buch über die Hoffnung und die Kraft des familiären Glücks geschrieben.

Schicksalsschwer geht es auch in Polly Horvarths »Mar­thas Boot« zu. Es sind hier weniger die Zeitläufte als das individuelle Schicksal, das die vier Schwestern Fiona, Marlin, Natasha und Charlie, die zwischen 8 und 14 Jahre alt sind, in ein völlig neues Leben stößt. Die Eltern sind bei einem Tsunami umgekommen, die geeignete Pflegetante Martha stirbt kurz bevor die verwaisten Kinder bei ihr eintreffen, eigentlich das soziale Aus für das schwesterliche Quartett. Aber durch kleine Illegalitäten und viele Portionen glückliche Zufälle gelingt es den Vieren, alleine zu leben. Fast. Jede der Schwestern entwickelt andere Mechanismen, mit Trauer und Sorgen und den ganz normalen alterstypischen Bedürfnissen umzugehen.
Aus Polly-Horvarth-Texten scheint immer der unbedingte Glaube, dass Kinder mit ihrem Ideenreichtum auch aussichtslose Situationen meistern können. Die Geschwister ergänzen sich. Auch in der Toleranz, die es braucht gegenüber einem kauzigen Nachbarn und einer enthusiastischen Lehrerin, die beide Hoffnung und Herausforderung zugleich sind. Polly Horvarth findet in ihrem sanften Stil Bilder, die zärtlich und mit leisem Humor vermitteln, dass Aussichtsloses gelingen kann und dass Erwachsene wirklich nicht alles besser machen. »Marthas Boot« ist ein Abenteuerbuch, auch wenn die Wildnis nur ganz am Rande für Spannung sorgt, weil das wirklich Aufregende die Gefühle sind, die uns leiten.

Ein köstliches Planspiel hat Kathrin Schrocke als Plot für ihr Kinderbuch »Bunte Fische überall« geschaffen, das moderne Familienformen in den Fokus nimmt. Denn was für die 13-jährige Bernie ganz normal ist, wird für andere immer wieder mal zum Thema. Bernies Familie besteht aus zwei Vätern, die, so viel wird schnell klar, nicht anders ticken als in anderen Ehen auch. Der eine ist strenger, der andere lockerer, sie stecken voller liebenswerter Macken und sind merkwürdig prüde und bürgerlich. Schrocke gesteht ihrer Protagonistin einen so herrlich selbstironischen Sound zu, dass man ihr sehr gerne nicht nur in ihrem Zwei-Väter-System zusieht, sondern ihr auch in das köstliche Experiment folgt, mit dem eine Lehrerin Bernie und ihre Mitschüler/innen vor frühzeitiger Schwangerschaft warnen will. Alle sollen paarweise für eine Weile Babys betreuen. Natürlich keine echten, aber derart realitätsnah programmierte Plastikavatare, dass die Nerven der Heranwachsenden samt dazugehöriger Familien ganz schön strapaziert werden.
Stress mit der Freundin, mit dem »Schwarm«, der als »Baby-Vater« versagt und ein unter dem Radar laufender Junge – das alles sind zwar gewöhnliche Romanzutaten, aber in Kombi mit den kurios entwickelten Charakteren und der teils abgeklärten, dann wieder völlig hilflosen Ich-Erzählerin Bernie ist das ein großer Lesespaß. 

Aus: Buchkultur Junior Spezial, November 2021


Dan Yaccarino
Der längste Sturm
minedition, 48 S.
Ab 4

Rose und Rebecka Lagercrantz
Zwei von jedem
Ü: Angelika Kutsch
Moritz, 120 S.
Ab 9

Polly Horvarth
Marthas Boot
Ü: Anne Brauner
Freies Geistesleben, 248 S.
Ab 11

Kathrin Schrocke
Bunte Fische überall
mixtvision, 200 S.
Ab 10