Das Sommer-Krimi-Special der Buchkultur löst jedes Jahr einen merkwürdigen Reflex bei mir aus, vermutlich aus so langer Tradition, dass ich mich an die Anfänge gar nicht erinnern kann. Dieser Reflex aber heißt: Schaumermal – wie ist der Stand der Dinge, und quo vadis, Kriminalliteratur? Und wenn ich zurückschaue, mindestens bis ins Jahr 2002 (fast zwanzig Jahre, mon dieu), dann muss ich feststellen, dass ich sehr früh Trends gesehen, aber viel zu früh ihr Ende ausgerufen habe. Vieles, was ich für erledigte Fälle hielt, ist immer noch da – Serialkiller, Nordic Noir, Regio, Klone, optimiert designte Massenware, Blödel- und Dödelkrimis, Ekelkram, endlose Belanglosigkeiten, von allem sogar immer noch mehr, immer noch doller. Die genre-interne E/U-Schere geht noch weiter auf, als ich es je für möglich gehalten hätte. Mein Kinderglaube an irgendwelche Halbwertzeiten ist allerdings inzwischen verflogen, zu Dämmerungsprognosen werde ich mich nicht mehr hinreißen lassen. Good news dabei sind, dass das Abendland immer noch nicht untergangen ist, und überraschen kann mich schon gar nichts mehr.
Und heute? Anything goes, hat man den Eindruck. Top-Verkaufszahlen wie für die »Achtsam morden«-Reihe von Karsten Dusse (Heyne) sind wenig verblüffend, genauso wenig wie der Umstand, dass Greis/innen im herzigen, nach allen Regeln der politisch korrekten Sortierung im Luxusaltersheim (das muss es schon sein, eine eher realitätstüchtige Verwahranstalt für nicht so zahlungskräftige Senior/innen hat keinen Lifestyle-Faktor) kuschlige Morde kuschelig aufklären, als ob’s immer noch die Puzzles von 1920 wären, wie in Richard Osmans »Der Donnerstagsmordclub« (List, dt. von Sabine Roth). Denn das, was gerade »in« ist an Themen, wird schnell multimedial verarbeitet, und die Kriminalliteratur als immer noch populäres Genre ist nur ein Glied in einer immer größeren Verwertungskette für das, »was die Menschen so bewegt«. Deswegen »Urlaubskrimis« – in Zeiten der Pandemie ein Sehnsuchtstopos par excellence – oder auch »heiße Eisen«, Genderpolitik, Nazis, soziale Verwerfungen, die Umwelt, Klimawandel und sämtliche Folgen des Neoliberalismus. »Tatort«, Dystopien, »politische Kriminalromane«, und alles, was unter dem Gewicht der Welt so ächzt und stöhnt.
Aber halt: Ist das fair? Kann man das Tourismus-Marketing von Klaus-Peter Wolfs »Ostfriesenzorn« (S.Fischer) wirklich unter den gleichen Vermarktungsmechanismen betrachten wie einen feministisch-aufklärerischen Kriminalroman wie Sara Paretskys »Landnahme« (Ariadne, dt. von Else Laudan), nur weil sie beide zeitgeistige oder, neutraler, zeitaktuelle Themen ventilieren? Vermutlich würde man sagen: tertium non datur, und mit dem guten alten Fritz Woelcken darauf hinweisen, dass gute und schlechte Krimis manchmal auf den ersten Blick gleich aussehen mögen, auch wenn sie planetenfern auseinander liegen. Ein interessanter Fall in diesem Zusammenhang ist Stephen Mack Jones’ »Der gekaufte Tod« (Tropen, dt. von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann). Ein schwarzer Autor, der »sein« Detroit kriminalliterarisch wieder instandbesetzen möchte, nachdem sich seit Loren D. Estleman oder Elmore Leonard niemand mehr so richtig um Motor City gekümmert hat. Sein Held Augustus Snow, halb PoC, halb Mexikaner, fegt durch eine heruntergekommene Stadt, die wieder auf die Füße kommen will, und legt sich mit allen möglichen Mächten an, die nur ihren eigenen Profit im Auge haben. Diversität ist für sein Casting existenziell – lesbische Paare, Schwarze, Mexikaner, alle agieren wohlquotiert, mit einem leichten moralischen Plus auf der nicht-weißen Seite. Das ist state of the art, einerseits. Und auf der anderen Seite steht ein hemmungsloser Waffenfetischismus, der von der NRA gesponsert scheint, und ein Hang zur Vigilanz, der sich wohl aus der hardboiled-Tradition von Chester Himes oder Estleman herleitet, um aber am Ende kreuzbrav dem FBI zu vertrauen, das seinerseits das Vertrauen der Bürger missbraucht. Ein merkwürdiges, wenn auch sehr unterhaltsames Hybrid, das unsere Ausgangsüberlegungen bestätigt: Hier und heute werfen sich Kriminalromane immer noch tapfer ins Handgemenge mit politischen Realitäten, mit neuralgischen Aktualitäten. Unter diesem Dach kann man dann unbeschwerte Kommerzialisierung genauso betreiben wie aufklärerische, emanzipatorische Intentionen haben. Man kann sogar das eine als das andere verkaufen, je nachdem. Übersichtlicher wird der Status quo dadurch nicht, und das können Sie als Appell zum achtsamen Lesen verstehen. Ganz ohne Prognose.