Die besten Krimis der Saison 2021:

Patrícia Melo, „Gestapelte Frauen“ (Unionsverlag)
Ü: Barbara Mesquita, 256 S.

Platz 1

Patrícia Melo gibt den Opfern der Femizide eine Stimme: »Gestapelte Frauen« ist ein wütendes, kraftvolles Plädoyer für ein Ende der Gewaltspirale. Foto: Kyrhian Balmelli.


Die Ohrfeige trifft die junge Anwältin aus São Paulo wie aus heiterem Himmel. Unvorstellbar, dass der Mann, in den sie sich verliebt hat – intelligent, gebildet, charmant –, zu einer solchen Tat fähig ist. Wozu er es vielleicht noch wäre – davon bekommt sie in der Provinz Acre eine Vorstellung, wo sie als Prozessbeobachterin die vielen ungelösten Frauenmorde im Land verfolgt. Eines der Opfer ist ein erst vierzehnjähriges indigenes Mädchen. Doch die Presse interessiert sich nur für die drei reichen weißen jungen Männer, die es vergewaltigt, gefoltert, getötet und hernach in den Fluss geworfen haben. Gewalt, Rassismus, gesetzliche Willkür und Korruption sind eine toxische Mischung. Das Ungeheuerliche geschieht: Die Mörder werden freigesprochen – und zwar nicht aus Mangel an Beweisen.

»Gestapelte Frauen« der Brasilianerin Patrícia Melo, 58, ist der Gewinnertitel des diesjährigen Krimi-Themenhefts, der die Buchkultur-Jury nicht nur des auch hierzulande dringlichen Themas wegen überzeugte: 137 Frauen werden jeden Tag ermordet, nur weil sie Frauen sind, 50.000 sind es im Jahr, die Dunkelziffer ist deutlich höher. Femizide sind ein globales Verbrechen, dessen gesellschaftspolitische Dimension immer noch bagatellisiert wird. Der bestürzende, sprachgewaltige Roman bewegt an den Grenzen des Erträglichen – umso mehr, wenn man weiß, dass er auch authentische Fälle zitiert. Die Recherchen beschreibt Patrícia Melo als eine der belastendsten Erfahrungen ihres Lebens: »Nach einer Weile verstand ich, dass die Geschichte der Opfer immer die gleiche war: Fast alle wurden von ihren Ehemännern, ehemaligen Ehemännern oder Geliebten, Freunden oder jemandem, dem sie einmal vertrauten, getötet. Der Tod ist das letzte Kapitel einer langen Geschichte der Gewalt, die in dem Moment fatal wird, in dem die Frauen sich entscheiden, sich aus der gewalttätigen Beziehung zu befreien. Es war entsetzlich zu erfahren, dass diese Frauen für gewöhnlich in ihrem Zuhause getötet werden. Es hat mich auch erschüttert, festzustellen, wie tief Femizide in unserer Kultur verankert sind. Die Vorstellung, dass Männer und Frauen vor unserem Gesetz gleich sind, ist nichts als ein Märchen.«

Dass Femizide nicht aus heiterem Himmel passieren, zeigt auch der Fall des Wiener »Bierwirts«, der vor der Ermordung seiner Ex-Partnerin durch seine Hasstiraden gegen die Grünenpolitikerin Sigrid Maurer auffällig geworden war. Was die Häufung der Femizide innerhalb der EU betrifft, ist Österreich trauriger Rekordhalter: Nirgendwo sonst werden mehr Frauen ermordet als Männer.

Gewalt gegen Frauen hat System und ist schichtenübergreifend. Sie wurzelt in patriarchalen Strukturen und einer Vorstellung von Männlichkeit, die nicht nur in autokratisch regierten Ländern wieder hochgehalten wird. Die Türkei hat, Polen will das Frauenschutz-Abkommen des Europarats verlassen. Ungarn will es nicht ratifizieren. In Russland gilt häusliche Gewalt gar nicht als Straftat. »Wir müssen es beim Namen nennen«, sagt Melo: »Gewalt gegen Frauen ist eine Verletzung der Menschenrechte.«

Die südafrikanische Autorin Diana Russell hatte recht, als sie sagte, dass »die Intensität und das Ausmaß der Gewalt, die Frauen heute in unserer Gesellschaft erfahren, nur damit vergleichbar sind, was Frauen im 14. und 17. Jahrhundert in Europa während der Inquisition widerfahren ist. Ich bezweifle wirklich, dass es eine Frau gibt, die niemals in ihrem Leben irgendeiner Art dieser Gewalt ausgesetzt war. Ich spreche nicht nur über physische Gewalt, sondern über das ganze Ausmaß der Gewalt gegen Frauen, das in unserer Gesellschaft verankert ist: Rape Culture, Rachepornos, Geschlechterdiskriminierung, Pornografie, missbräuchliche Sprache, Demütigungen und die Weigerung des Staates, Frauen grundlegende rechtliche Unterstützung zu geben, was fundamental für unsere volle Gleichberechtigung ist. Wenn Sie in einer sexistischen Gesellschaft leben und unterbezahlt werden, nur weil Sie eine Frau sind – dann erleiden Sie schon diese Art von Gewalt.«

Und das im 21. Jahrhundert. Wie ist das möglich? »Allgemein gesprochen glaube ich, dass sich die Vorstellung, dass weibliche Sexualität bedrohlich und subversiv ist, in unserer Gesellschaft verfestigt hat. Ich habe kürzlich einen inter­essanten Artikel darüber gelesen. Der Verfasser sagt, dass die Vorstellung, in einer patriarchalen Gesellschaft wie der unseren die Kontrolle zu verlieren (die Kontrolle über deine Frau oder deine Freundin), eine narzisstische Wunde mit letalen Folgen ist. Von Sigmund Freud bis zu Jacques Lacan ist diese obsessive Verhaltensstruktur männlich.«

»Nichts ist einfacher zu erlernen als Frauenhass«, heißt es im Buch: »An Lehrern herrscht kein Mangel. Der Vater macht es vor. Der Staat macht es vor. Das Rechtssystem macht es vor. Der Markt. Die Kultur. Die Werbung.« Aber der beste Lehrer »ist die Pornografie«. Pornos sind »eine Langzeitausbildung darin, wie man Frauen verachtet, demütigt und umbringt«. Sie sei »nicht gegen erotische Sprache«, sagt Melo, »aber wenn eine Frau in einem Film oder Porno in totaler Unterwerfung unter dem Mann gezeigt wird, wenn sie nur zu seinem Vergnügen erniedrigt wird – dann ist das eine Art zu sagen, dass eine Frau nichts wert ist, dass sie ein Produkt ist.«

Wo muss Prävention ansetzen? Die Lösung wäre das Ergebnis einer Vernetzung interdisziplinärer Maßnahmen. Zunächst müsse man »diese Todesfälle korrekt benennen: Es sind Femizide. Sie zu benennen, sie als Feminizide zu definieren (als Frauenmorde infolge von staatlich gebilligter struktureller Gewalt), hilft uns, präzise Statistiken und ein klareres Bild der Gewalt gegen Frauen zu bekommen. Auf diese Weise können wir unsere öffentliche Politik verbessern. Gegen diese Realität zu kämpfen, ist interdisziplinäre Arbeit. Es ist ein ziviler, juristischer und politischer Kampf.«

Im Roman sucht die namenlose Juristin und Ich-Erzählerin im Amazonasurwald Heilung für ihre zerrissene Seele. In einem Akt der Befreiung verbindet sie sich mit den Bruchstücken ihrer eigenen Geschichte (ihr Vater tötete einst ihre Mutter) und wird Herrin über ihr Leben. Fantastisch die Szenen, in denen sie sich mittels eines halluzinogenen Pflanzensuds in eine matriarchale Gemeinschaft imaginiert, in der Männer nur zu Reproduktionszwecken zugelassen sind. Amazonen gleich machen die Frauen Jagd auf ihre Mörder, schleppen sie in den Wald, töten, kochen und verschlingen sie – das ist purer Magischer Realismus, großartig erzählt. Über diese Rituale zu schreiben, sagt Patrícia Melo, »war wirklich sehr ermächtigend: Es war wie eine symbolische und köstliche ›Rache‹«.

Seit zehn Jahren lebt sie mit ihrem Mann, dem Dirigenten John Neschling, in Lugano. Wie alle Großen des Genres schreibt sie keine klassischen Krimis, sondern brillante Sozialstudien. Ein sarkastisches Stakkato ist »O Matador« über die zweifelhafte Karriere eines Profikillers. In »Leichendieb« macht die Gelegenheit einen Dieb (und die Folgen einen wahnwitzigen Roman). »Trügerisches Licht« erzählt von den Schatten der Celebrity-Unkultur.

»Gestapelte Frauen« ist Patrícia Melos schwärzester Roman bisher und ihr bester, ein formaler und stilistischer Höhepunkt in ihrem Schaffen. Die Protagonistin findet einen Weg aus der Ohnmacht in ein selbstbestimmtes Leben. »Literatur«, sagt Melo, »ist ein Raum für Widerstand«, gerade in dunklen Zeiten. Er ist wieder notwendiger denn je.

Patrícia Melo wurde 1962 in Assis (São Paulo) geboren und lebt heute in Lugano. Die Gewalt und Kriminalität in Brasilien sind Gegenstand ihres umfangreichen Werks: Ihre Romane, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher sind hochspannende Gesellschaftsstudien. Für ihren Roman »O Matador« wurde sie mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet.


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