Die dünne Haut zwischen Traum und Wirklichkeit: Natascha Gangl folgt in ihrem neuen Buch den Spuren der Künstlerin Unica Zürn. Foto: Daniel Sostaric.


Natascha Gangls Arbeit an Texten umfasst viele Formen: Die 1986 in der Steiermark geborene Künstlerin schreibt Prosa, Theatertexte und Hörstücke, performt in verschiedenen Theatern und Kollektiven. Ihre Arbeiten wurden in Österreich unter anderem im Schauspielhaus Wien, bei Ö1 und beim steirischen herbst präsentiert und führten sie auch für mehrere Jahre nach Mexiko und Spanien.

Als ihre »mentale Patin und Großmutter« bezeichnet sie die surrealistische Autorin und Zeichnerin Unica Zürn, mit der sie sich in ihrem Werk wiederholt beschäftigt hat und mit der sie in ihrem aktuellen Buch »Das Spiel von der Einverleibung« einen Dialog führt. Es erscheint im Verlag starfruit publications, der mit seinem Programm für ein Zusammenspiel zwischen Text und bildnerischer Kunst steht. Tatsächlich sind drei Personen daran beteiligt: Natascha Gangl, der Zeichner Toño Camuñas sowie Unica Zürn. Deren schriftstellerisches Werk war niemals einer breiten Öffentlichkeit bekannt, hat aber Kunstschaffende in den letzten Jahrzehnten immer wieder inspiriert. Bemerkenswert sind vor allem ihre Anagramm-Gedichte, bei denen die Buchstaben eines Satzes in verschiedene Richtungen wuchern und durch Form und Klang ganz neue Dimensionen entstehen. Auch Natascha Gangl schreibt und spielt in dieser Form; so erscheint ihr Name auf ihrer Homepage zum Beispiel als »Tanga Lachgas« oder »Gach! Satan, Nagl«.

Unica Zürn wurde 1916 als Tochter einer wohlhabenden Familie in Berlin geboren und ging 1953 nach Paris, wo sie Kontakt zur Szene der Surrealisten unterhielt. In den Sechzigerjahren wurde bei ihr Schizophrenie diagnostiziert, und sie nahm sich 1970 das Leben.

Für das Buch hat Natascha Gangl verschiedene Orte aus Unica Zürns Leben, vor allem in Berlin und Paris aufgesucht und sich treiben lassen, zunächst auf der Suche nach immer noch existierenden Spuren und Gebäuden. Unweigerlich fließen aber auch die Beobachtungen der zeitgenössischen Umgebung mit ein, und scheinbar bekannte Phänomene erscheinen plötzlich in einem anderen Licht: So wirkt die Beschreibung einer Einkaufsstraße mit ihren opulenten Schaufenstern und der aggressiven Werbung plötzlich wie aus einer surrealistischen Fantasie entsprungen.

Unter dem Titel »Orakel und Spektakel« hat Natascha Gangl außerdem eine Aufführung mit Unica Zürns Texten oder eher ein »Fest« mit Text, Bildern und Musik erarbeitet, das im September 2020 im Kabinetttheater Wien wiederaufgeführt wurde.

Das genaue Lesen und Hinhören, die genaue Betrachtung der Sprache, die uns ständig umgibt, ist ein zentraler Aspekt in Natascha Gangls Arbeiten. Ein Werk, mit dem sie seit etwa zehn Jahren beschäftigt ist und das sich stetig weiterentwickelt, ist ihre »unendliche Textfläche« »Die große zoologische Pandemie«, in der sie die Sprache, mit der Krankheiten, sogenannte Pandemien, beschrieben werden, untersucht. Sie begann damit im Jahr 2009, als sie in Mexiko lebte und dort H1N1 (die »Schweinegrippe«) ausbrach. Eine Version davon wurde unabhängig von Covid-19 dramatisiert und hätte 2020 in Stuttgart Premiere haben sollen, die dann aufgrund der Beschränkungen nicht stattfand. Auszüge daraus wurden im April auf der STANDARD-Corona-Stage online präsentiert. Die offene Form des Werkes erweist sich also als hochaktuell, ebenso wie die Aufmerksamkeit der Autorin darauf, wie die Medien Sprache verwenden und wie Diskurse durch sie gesteuert werden.

Natascha Gangl, geboren 1986 in Bad Radkersburg in der Steiermark, studierte Philosophie in Wien und Szenisches Schreiben in Graz. Nach vielen Jahren in Mexiko und Spanien lebt sie heute in Wien, von wo aus sie unter anderem theatrale Installationen und Hörstücke erarbeitet. Nach ihrem Prosadebüt »Wendy fährt nach Mexiko« (Ritter) ist »Das Spiel der Einverleibung« nun ihr zweiter Roman.

„Das Spiel von der Einverleibung“ (starfruit publications), 232 S.