Susanne Rettenwander gräbt in ihrer Rolle als moderne Schatzsucherin antiquarische Goldstücke aus und stellt sie hier vor. Fotos: Susanne Rettenwander.


Spaziert man ziellos durch den historischen Kern der sizilianischen Hauptstadt Palermo, so kann der nicht unwahrscheinliche Fall eintreten, dass man sich als Nichtortskundige/r in den labyrinthisch-pittoresken Gässchen verliert. In beeindruckender kultureller und architektonischer Vielfalt ragen die uralten Gemäuer der Stadt in den wolkenlosen Sonnenhimmel und erinnern die Flanierenden wieder einmal daran, dass es die Welt schon lange vor ihnen gegeben hat. Mit Blick auf die leicht im Wind flatternden Wäschestücke und bunten Sonnensegel, die hin und wieder die fein geschmiedeten Balkongeländer, die in riesige Plastikkanister tropfenden Klimaanlagen und die wild wuchernden Hauswurzen, Palmen und Kakteengewächse offenbaren, wird man jäh vom wilden Gehupe einer Vespa aus den Gedanken gerissen. Sie wäre beinahe mit einem zerbeulten giftgrünen Fiat Mk1 zusammengestoßen. Und dann plötzlich, wenn die Straßen allmählich schmaler und der Verkehr beruhigter werden, wenn das Glockenspiel aus einem der Kirchtürme die Mittagsstunde begrüßt, entdeckt man auf einer Hauswand die in roter Farbe angepinselte Aufschrift »Old Books«, dazu einen Pfeil, der verheißungsvoll in die entsprechende Richtung weist.

Über die Via Monte Santa Rosalia gelangt man auf einen kleinen Platz, der nicht nur – wie beinahe alle in Palermo – als Parkplatz für Autos genutzt wird, sondern auch eine kleine Bücheroase beheimatet. Aus einem winzigen mit provisorischen Bücherregalen vollgepflasterten Lagerraum entfaltet sich über die kleine Straße hin zum Platz das – nach eigenen Angaben – weltweit größte Outdoor-Antiquariat, die »Biblioteca Privata Itinerante« (sinngemäß: »Die private Wanderbibliothek«) von Pietro Tramonte. Der erste Eindruck ist überwältigend. In Laufmetern an provisorisch gezimmerten Holzgestellen, die mit abgewetterten Teppichen und Planen überdacht und mit Gaffer Tape zusammengehalten sind, stapeln sich so viele Bücher, dass ihre Titel auf den ersten Blick gar nicht erkennbar sind. Große Plastikkisten und Einkaufswägen, bis an den Rand voll mit thematisch gesammelten Druckwerken, scheinen ein erstes Ordnungssystem im Bücherchaos abzubilden. Zwischen den Regalen fallen sattrote Luftballonherzen mit Liebesbekundungen, Regenbogenfahnen und Ständer mit vergilbten Postkarten sofort ins Auge. Ehe man sich auf die Schätze stürzen und sie genauer begutachten könnte, tritt ein freundlich lachender Pietro Tramonte entgegen, um jede/n Besucher/in persönlich in seinem Refugium zu begrüßen und in ein Gespräch zu verwickeln. Begeistert erzählt er von seinem soziokulturellen Projekt, das ganz seiner Liebe zu Menschen und Büchern gewidmet ist. Bücher sind laut seiner Meinung da, um gelesen zu werden, um von einem Leser zur anderen Leserin zu wandern, um Menschen miteinander zu verbinden. So nutzte er nach seinem bewegten beruflichen Leben die Gelegenheit des Ruhestandes, um seine eigene etwa aus fünftausend Stück bestehende Privatbibliothek auf die Straßen seiner Heimatstadt und damit in größere Umläufe zu bringen. Der Vertrieb folgt dabei, ganz nach Tramontes Überzeugungen, einem antikapitalistischen Konzept.

Die Fundstücke können entweder durch andere Bücher ausgetauscht oder für eine freiwillige Spende in eine kleine schwarz-weiße Schatulle, unmittelbar neben Tramontes Thron – einem etwas lädierten Schreibtischsessel – erstanden werden. Seit der Eröffnung seiner Wanderbibliothek, die programmatisch auf den Tag der Liebe, dem Valentinstag des Jahres 2013 gesetzt wurde, hat sich im Leben des Tausendsassas viel verändert. Mittlerweile eilt ihm sein Ruf voraus. Nicht nur kleinere italienische Lokal- und Tourismusblätter, sondern beispielsweise auch BBC London, Forbes New York und Arte France wissen die Via Monte Santa Rosalia als kleines palermisches Highlight zu empfehlen. Die Inhalte seiner gut gepflegten Social-Media-Kanäle tun das Übrige, um Menschen zu locken. Bücherfreund/innen aus der ganzen Welt können nun in einem rasant angewachsenen Sortiment aus ca. 30.000 Büchern in vielen Sprachen und Themengebieten stöbern. Von philosophischen bis literarischen Klassikern, von Architekturbänden bis Kochbücher, von informatischen Einführungskursen bis Mystery- und Erotikromanen, Tramonte scheint für jede/n das Richtige zu haben. Und sollte gerade keine Lust auf Lesen bestehen, unterhält er mit seinen tausenden Geschichten aus dem Leben.

aus: Buchkultur 205, Dezember 2022.