Michael Köhlmeiers brillanter Tauchgang in die Abgründe der Historie: »Das Philosophenschiff«.


Der Vorarlberger macht aus Geschichte Geschichten: Die »Philosophenschiffe« gab es tatsächlich. Auf ihnen deportierten die Bolschewiken unter Lenin 1922 Hunderte Intellektuelle außer Landes. Dem Westen verkaufte Trotzki die Abschiebungen als Gnadenakt. Auch Anouks Familie gerät in die Mühlen des Roten Terrors und wird Richtung Deutschland ausgewiesen. Doch plötzlich steht das Schiff auf hoher See still und ein fast blinder Passagier kommt an Bord: Lenin, der sie vertrieben hat, liegt nun schwerkrank und nach mehreren Schlaganfällen halbseitig gelähmt an Deck der Ersten Klasse. Und sein Nachfolger (vor dem er noch warnte) sitzt schon in den Startlöchern.

So jedenfalls erzählt es die hundertjährige Architektin Anouk Perleman-Jacob – sie engagierte sich wie Margarete Schütte-Lihotzky für den sozialen Wohnungsbau – dem Ich-Erzähler und literarischem Alter Ego Michael Köhlmeiers: Er soll schreiben, was in keiner ihrer Biografien steht. Doch was ist Dichtung und was Wahrheit?

Der Intellektuelle als (gefürchtetes) Feindbild

Vor kurzem jährte sich der 100. Todestag Lenins. Wie korrumpierend und wie korrumpierbar ist Macht?  Lernen wir nichts aus der Geschichte? In einer Zeit, die wieder von großen und kleinen Despoten beherrscht wird, die die Historie für ihre eigenen Zwecke missbrauchen, sind Wissen und Erinnern wichtiger denn je.

»Sie sind der, dem man glaubt, wenn er lügt, und nicht glaubt, wenn er die Wahrheit sagt«, gibt die Architektin dem Autor mit auf den Weg. Ein gespenstisch-vielschichtiges Vexierspiel, großartig erzählt und von brennender Aktualität. Michael Köhlmeier läßt weder locker noch nach.

Michael Köhlmeier
Das Philosophenschiff
Hanser, 224 S.