In den 60er Jahren wirkte Europa auf ihn »wie ein Friedhof, kulturell interessant wie z. B. eine alte Bibliothek«, erzählte der amerikanische Bestsellerautor John Irving. Fünf Jahre nach diesem Interview traf Buchkultur 1995 den Autor erneut, am Rande der 47. Buchmesse in Frankfurt. Fotos: Martin Vukovits.

Dr. Daruwalla, die Hauptfigur seines damals neuen Romans »Das Zirkuskind«, ist für Irving »so was wie eine Hoffnung für weiteres, für die Zukunft«. Die kursiven Stellen in John lrvings Antworten sagte der Autor im englisch geführten Gespräch beinahe akzentfrei auf deutsch.

Erstveröffentlichung in Buchkultur 36, Dezember 1995.


Buchkultur: Wie lange waren Sie eigentlich in Wien?

John lrving: Als Student, und nur ein Jahr lang. Später war ich dann noch einmal da, ebenfalls ein Jahr, da arbeitete ich an einer Fassung für ein Drehbuch meines ersten Romans. Mein zweiter Sohn ist in Wien geboren. Das war wirklich ein recht hübsches Spital …

In einem früheren Interview mit uns sagten Sie, Wien, Europa wäre wie ein Friedhof.

Das sagte ich? Aha. Besser wäre wohl Museum. Weil ich unglücklich war, sagte ich wohl Friedhof. Das letzte Mal, als ich da war, hatte ich eine etwas schwierige Zeit. Das war knapp nach dem Auftauchen der Waldheim­Vergangenheit. Ich war da ziemlich durcheinander und aufgebracht, wie populär der werden konnte in der kurzen Zeit. Ich habe das auch in ein paar Interviews gesagt. Darauf haben mich auch ein paar Interviewer ganz schön angefahren wegen meiner Kritik. Ausländer darf nicht kritisieren. Ausländer ist kein nettes Wort in Wien.

In ganz Österreich.

Ja …

Auf der ganzen Welt …

Ja, da wird leider Realität. Mein erstes Erlebnis mit … wie sagt man … Xenophobia … also ein Gefühl dafür hatte ich erstmals in Wien gekriegt. Ein Gefühl fürs nächste Jahr­hundert, das spielt in meinem neuen Roman, es werden viele Menschen sein wie Dr. Daruwalla, und die Türen in Nordamerika, in Europa sind zu. Der Grund, warum ich Kanada ausgesucht habe als Ort, wohin er geht, ist, weil Kanada noch vor ein paar Jahren eine gute Chance für Einwanderer bot, während die Türen zu den USA bereits verschlossen waren. Kanada war offen, vor allem auch für farbige Einwanderer. Da ist jetzt auch anders. Und das hat mich veranlasst, das Buch zu schreiben: Ich habe die Veränderung kommen sehen am Beispiel Toronto. Die Stadt war multikulturell, 40 Prozent Einwanderer. In den USA hat man die Leute abgewiesen, und all die Gruppen rechts-außen (right-wing-conservatives) sagten: Kein Ausländer mehr, wir haben unsere eigenen Probleme, und wir brauchen keinen von denen. Es ist unangenehm daran zu denken, dass die Deutschen, die Österreicher, die Amerikaner, die Kanadier, die Briten usw. da untereinander ziemlich einig sind, und ich befürchte, dass die Grundstimmung in all den Ländern zu einer Isolation führt, zu einer Abschottung, zu einer Stimmung, die da heißt: Wir haben unsere eigenen Probleme, und wir sorgen für unsere Leute, und wir brauchen nicht noch dazu Probleme von außen. Dazu kommen noch die fundamentalen Strömungen in Religionen und das unsägliche Nationalbewusstsein. Siehe nur die ehemalige Sowjetunion, oder Jugoslawien. Die ethnischen Streitigkeiten, 1945 einmal abgestellt, sind jetzt wieder aufgebrochen.

Sie sind ja damals nur eingeschlafen, Tito hat mit der Idee des Gesamtjugoslawien die nur ruhiggestellt. Dann war er tot, und alles kam wieder hoch.

Richtig.

Also nichts dazugelernt, dieselben Grausamkeiten, alles.

Fast ein Ritual, wie die das tun … Da letzte Mal, als ich in Deutschland gewesen bin, war 1990. Jetzt ist es eigenartig, wieder da zu sein. Beispiel Berlin: einerseits ziemlich aufregend, auf der anderen Seite diese Riesenprobleme, 17 Millionen Menschen machen da so eine Art Zeitsprung durch, da gibt’s mehr als nur ökonomische Unterschiede und daraus resultierende Probleme. – Ich will jetzt zu meinem Roman: Den Daruwalla wollte ich als interessante Figur darstellen, bei allen Schwierigkeiten. Er ist nicht nur aus Indien, sondern noch dazu ein Parse, also er gehört einer Minderheit an, und außerdem ist er nicht religiös, was ihn noch mehr zum Außenseiter macht und isoliert. Und er ist zum Christentum konvertiert und mit einer Europäerin verheiratet und lebt in Nordamerika. Geboren in einem Kontinent, erzogen in einem anderen, lebend im dritten: Er ist ziemlich gespalten. Ich habe ihn mit Absicht aus Indien weggehen lassen vor der Unabhängigkeit, aus Österreich vor der Unabhängigkeit, die versäumt er. Er hat also kein Land, das seines ist, er ist so was wie das Gegenteil eine Nationalisten dadurch.


»Ich finde, Grass sollte auch den Nobelpreis bekommen, wenn nicht, wäre das ein ordentlicher Fehler.«


Somit könnte er der moderne, kosmopolitische Weltbürger sein.

Für mich ist er sowas wie eine Hoffnung für weiteres, für die Zukunft. Er mag diese Einsamkeit haben, das Gefühl, er ist immer der Ausländer, aber er ist frei von allem politischen Nationalismus.

Wenn in den Ländern mehr und mehr solche Leute hinkommen, dann sind sie einerseits zwar die Fremden, andererseits bald die Mehrheit. Jeder ist dann ein »Fremder«. Und der Kosmopolit ist da. Ein Traum.

Es ist ein Traum. Gerade jetzt haut die multikulturelle Gesellschaft ja nicht mehr hin. Leider. Schauen wir uns nur die USA an. Die sind ein Einwandererland. Ein neues Land eben. Die traurige Wahrheit: Die Emigranten aus Europa während des Zweiten Weltkriegs und danach waren irgendwie noch willkommen und wurden nach einer Generation »Amerikaner«, die sind nicht länger Polen oder Iren oder Deutsche, sondern Amerikaner. Aber die Schwarzen aus Westindien, aus Afrika, die Asiaten sind nicht assimiliert, die stehen draußen. Und diese Spannungen haben die Hoffnung auf eine multikulturelle Gesellschaft gestoppt, dazu noch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, á la: Die Leute arbeiten um viel weniger Geld als ich, also verliere ich meinen Job. lst leider überall so.

Sie hatten bereits die Idee zu diesem Buch, bevor Sie nach Indien fuhren …

Ja.

Wie lange brauchen Sie, wenn Sie eine Idee zu einem Buch haben, diese auch niederzuschreiben? Viel Zeit?

Ja. Also es ist eigentlich immer dieselbe Zeit, so eineinhalb Jahre, achtzehn Monate. Ich habe einen Mann wie Dr. Daruwalla an einer Straßenecke in Toronto entdeckt, es war Weihnachten ’88, nach Indien fuhr ich im Jänner 1990. Da war 13 Monate später, und ich hatte einen Straßenplan des Romans, wusste die Hauptpersonen, die Hauptstory und so. Als ich nach Indien ging, hatte ich eine »Einkaufsliste«, wusste also, was ich noch brauchte. Eine Woche bei der Polizei in Bombay beispielsweise, eine Woche in einer Mission, eine im Spital, eine in den privaten Klubs … Hätte ich es anders gemacht, hät­te ich zehn Monate oder länger dort sein müssen. Ich wusste, was ich wollte, und habe auch meinen indischen Freunden vorher geschrieben, worum es mir ging, habe sie gefragt nach Leuten, die ich wirklich auskennen. So ging ich überall mit »Experten« zu meinen Recherchen. Ich stieg aus dem Flugzeug, und da wartete schon einer mit dem Geländewagen und hatte einen minutiösen Zeitplan, und wir fuhren los. Ziemlich gut organisiert … (lacht)

Nun, ich hätte nie einen Roman geschrieben aus der Sicht eines Inders, der Indien kennt. Ich kenne Indien nicht. Ich habe meinen Freunden gesagt: Ich möchte fühlen, wie Dr. Daruwalla fühlt und spürt, was heißt: Er weiß nicht, was da wirklich passiert. Er ist vielleicht hier geboren, aber jedes Mal, wenn er wiederkommt, ist es so wie: Was soll das? Was ist das? und so weiter. Sicher und geborgen fühlt er ich nur im Spital, im Klub. Die Welt außerhalb ist für ihn das Chaos. Meine indischen Freunde waren manchmal schon ganz schön wütend auf mich. Die wollten mir was zeigen und mir Personen vorstellen, und ich fragte immer: Würde Dr. Daruwalla diese Person kennen? Da schauten sie ein wenig konsterniert und sagten: Nein, Daruwalla würde den nicht kennen. Und dann antwortete ich: Ich will den auch nicht kennenlernen. Meine Freunde sagten mir auch zum Abschied: Wenn du das nächste Mal nach Indien kommst, dann hast du hoffentlich eine bessere Zeit. Ich hab‘ ihnen gesagt, dass ich nicht wegen einer angenehmen Zeit hierhergekommen war, sondern um zu sehen, was Dr. Daruwalla gesehen hätte, wollte nur das sehen. Und es war unbedingt wichtig, das nicht zu sehen, was er auch nicht gesehen hätte! In der letzten Fassung, die ich ihnen zum Lesen schickte, da korrigierten sie dann auch die Fehler, die noch drinnen waren. Nämlich das, was zu viel für Daruwalla gewesen wäre, Dinge, die er gar nicht hätte wissen können, verstehen Sie! Sie sagten: Tu das weg, Daruwalla hätte das vielleicht gesehen, aber er hätte nichts damit anfangen können, hätte es nicht »verstanden«. Sie warnten mich auch davor, dass ich jetzt mehr wüsste als Daruwalla. Für den Inspektor (im Roman, Anm.) wäre das eine oder andere klar, aber nicht für Daruwalla. So ist diese Figur (der Inspektor) auch größer geworden als anfänglich gedacht, weil ich ihr einige wichtige Details beigeben musste, die eigentlich für Daruwalla vorgesehen waren. Aber es war mehr, als er hätte wissen können, und so bekam es der Polizist. Denn der kann das eine und andere wissen.

Wenn Sie eine Idee haben, brauchen Sie irgendeine Art von Impuls, um sich hinzusetzen und zu schreiben?

Gute Frage. Ich brauche so was, aber ich habe es nie gefunden, scheint’s. Ich habe viele Fehlstarts. Also ich wache auf und sage Heute ist der Tag, und nichts passiert … Vielleicht morgen ist der Tag, Donnerstag, es ist dann halt der nächste oder der übernächste. Ich arbeite langsamer mittlerweile, gebe mir mehr Zeit zwischen den Romanen, mache mehr Skizzen, wie sagt man: größere Straßenpläne, aber ich warte mehr und mehr zu, bevor ich den ersten Satz hinschreibe. Denn je länger ich gezielt zuwarte, desto besser geht es dann. Damit will ich nicht sagen, dass ich jetzt gelernt habe, besser zu sein, als ich früher war, aber ich habe mehr Geduld, wenn ich nichts schreibe. Das ist wichtig.

Wie sind Sie eigentlich zum Schreiben gekommen?

Ich war ziemlich jung, als ich damit begann, vierzehn. Im selben Alter habe ich auch mit dem Ringen angefangen. Ich war kein besonders guter Schüler, eher fadisiert, und ich wollte mich dahin bringen, meine Schularbeiten zu machen, um das möglichst schnell hinter mich zu bringen. Ich hatte diese Skizzenhefte, und dort hinein schrieb ich kleine Geschichten …

»Er mag diese Einsamkeit haben, das Gefühl, er ist immer der Ausländer, aber er ist frei von allem politischen Nationalismus.«


Gedichte?

Nein, Gedichte nie. Ich machte Porträts der Lehrer sozusagen, der Mitschüler, Zeichnungen, aber ich kann nicht zeichnen, also machte ich es mit Wörtern. Die beschriebenen Personen waren real, und ich machte eine Geschichte dazu, wieso er so und so aussieht, warum er griesgrämig wirkt, warum er ein braunes Jackett anhat und so. Ich bewundere Menschen, die zeichnen können. Ich habe damals nur die Gesichter porträtiert, nicht das Ganze. Deshalb bewundere ich Günter Grass. Der kann einen Roman fertigstellen, und dann setzt er ich hin und zeichnet irgendwelche Personen des nächsten Buchs, Ratten, Frauen mit drei Brüsten, alte Männer. Wunderbare Zeichnungen, und es ist immer auch ein Entkommen aus der Sprache, für eine Weile Pause sozusagen. Ich war ein Wochenende bei ihm, habe zugeschaut und habe ihm gesagt, ich hätte gern was, das mich für eine Zeit rausholt vom Schreiben. Es bringt einen ja auch wieder zurück …

Aber Sie treiben dafür Sport …

Ja, richtig. Aber jetzt bin ich dreiundfünfzig, und tu das nicht mehr. Ich habe mit dem Ringen aufgehört, da war ich vierunddreißig, und als Trainer habe ich mit siebenundvierzig aufgehört. Heute also …

Pensioniert?

Ja, irgendwie schon. Im Sport.

Und was lesen Sie gerade, wenn Sie dazukommen?

Nun, die neue Geschichtensammlung von Salman Rushdie sowie eine neue Graham­ Greene-Biographie von Sherry, die ist wirklich gut, noch nicht übersetzt, glaube ich. Er schrieb auch die Biographie von Joseph Conrad. Und Greene ist einer meiner Lieblingsautoren, ich finde das ja, nebenbei gesagt, ziemlich schrecklich, dass er nie den Nobelpreis bekam. Und ich finde, Grass sollte ihn auch kriegen. Sie gaben ihn dem Mann und dem Hesse und dem Böll, also wenn ihn Grass dann nicht kriegt, das wäre schon ein ordentlicher Fehler (Günter Grass hat den Literaturnobelpreis schließlich 1999 erhalten, Anm. der Redaktion)

Der letzte deutschsprachige Nobelpreisträger war Canetti. Der schrieb zwar deutsch, aber war weder Österreicher noch Deutscher noch sonst, er war Kosmopolit.

Ja. Wenn ich an Canetti denke, denke ich in keiner Weise an einen »deutschen« Autor. Ich meine, er kam aus dem östlichen Europa mit all den vielen Einflüssen … Wo lebte er, als er den Preis erhielt?

Zürich, dort ist er auch begraben.

Wie Thomas Mann …

Kurz weg vom Sterben: Gibt es schon Ideen für ein neues Buch?

Ja, die Geschichte wird kürzer, irgendwie gerader. Meine letzten drei Bücher sind sicher besser als meine früheren, sie sind gerade konstruierte Bücher, und das neue soll auch so aufgebaut werden, auch die Seitenanzahl ungefähr gleich, und das neue Buch ist direkt, einfach, eine wichtige Figur anstatt von mehreren: eine Witwe. Titel wird sein »A Widow for one Year«, eine Witwe für ein Jahr.

Oh, und wann werden wir das auf deutsch lesen können?

My god (lacht), es ist noch nicht einmal geschrieben! (Anm.: »A Widow for one Year« erschien schließlich 1998).

Literaturtipps:
Das Zirkuskind. Roman. Diogenes 1995
Owen Meany. Roman. Diogenes 1990
Lasst die Bären los. Roman. Diogenes 1987
Das Hotel New Hampshire. Roman. Diogenes 1982


erscheint am 26. April 2023:
John Irving
Der letzte Sessellift
Ü: Anna-Nina Kroll, Peter Torberg
Diogenes, 1088 S.