Man kennt das: Die Orgel orgelt los, irgendwann setzt dann die erste Laiengesangsgruppe ein, meistens die rechts von der dirigierenden Hirtin. Es holpert ein paar Takte einigermaßen tonschief dahin, bis die Dirigentin überdeutlich und wild fuchtelnd auch die linke Fraktion damit beauftragt, endlich loszubrummen.

Das Ergebnis soll erhebend sein.

Das Zusammenspiel der beiden unterschiedlichen Gruppen müsste beweisen, dass es wider allen Erwartens doch irgendwie möglich ist, mit einer ganzen Laiengesellschaft rechts, links und mittig einigermaßen harmonierende Gesamtklänge zu erzeugen, sprich: Wir sitzen alle in einem Boot bzw. Kirchenschiff, und eigentlich kann nur das von vornherein die Aufgabe gewesen sein.

Menschen, die etwas von Musik verstehen, bekommen davon natürlich Ohrkrämpfe. Immerhin, der gute Wille zählt, die parallelen Disharmonien werden von den gegen- und miteinander ansingenden Chören meist überhaupt nicht wahrgenommen. Aber ob für alle Beteiligten mehr dabei herausspringt als die Teilnahmemedaille und die Freude darüber, schluss­endlich doch noch den richtigen Einsatz erwischt zu haben (bei manchen vielleicht nicht mal das) oder das diffus-zufriedene »War doch schön, oder?« hinterher? Die Frage ist die gleiche wie überall: Was will man eigentlich und was hat man denn erwartet?

In der Literatur ist es wie beim Singen. Nur dass die Menschen mehr Inhalte erwarten und dass es noch viel, viel weniger Harmonien gibt als in der Musik, ja eigentlich geht es in der Literatur allerhöchstens sprachlich um Harmonie, und auch da leider viel zu selten.

Mir persönlich hat der Vergleich von einzelnen Werken der Kultur und besonders der Literatur noch nie besonders behagt. Dabei ist gar nicht der Vergleich an sich das Problem, nur dass man hinterher voll felsenfester Überzeugung behaupten muss, dass dieses eine Werk vollkommen objektiv »besser« ist als ein anderes. Aber was ist schon objektiv außer ein Teleobjektiv, und wer bin ich schon, allen anderen vorbeten zu wollen, was besser und was schlechter ist. Die sollen sich doch selbst eine Meinung machen und ihre Teilhabemedaille verdienen. Was weiß ich in meiner kleinen, halbwegs behaglichen und literaturgesättigten Welt denn von der Vielzahl an Lebensrealitäten um mich herum?

Aber darum geht es ja nur zum Teil. Zu einem weitaus größeren Teil geht es um etwas anderes, nämlich seiner Begeisterung für einzelne Werke der Literatur Ausdruck zu verleihen, diese Begeisterung zu professionalisieren und zu vermitteln. Und genau das haben wir für Ausgabe 200 getan. In einem mehrstufigen Benennungs-, Auswahl- und Abstimmungsprozess sind aus einer Vielzahl von Büchern des 21. Jahrhunderts 21 ganz besondere Werke auf den ersten Plätzen gelandet.

Wie in jedem guten Chor tolerieren wir natürlich, wenn Sie ein bisschen mitsingen wollen und uns Ihre Meinung zum Kanon oder zur Literatur über Social Media, per Mail oder Post mitteilen. Vielleicht wird ja doch alles noch schöner!