David Schalko veröffentlicht mit „Bad Regina“ seinen bisher überzeugendsten Roman, eine brilliant-scharfe wie groteske Abrechnung mit dem Selbstverständnis Europas. Im Gespräch mit Buchkultur spricht der Autor und Regisseur über seine Lockdown-Erfahrung, dem Umgang der österreichischen Politik mit der Krise, unsere Vorstellungen eines Kulturkontinents und was diese mit seinem neuen Buch zu tun haben. Foto. Ingo Pertramer.


Buchkultur: In Ihrem Roman „Bad Regina“ kauft ein Chinese den Ort auf und lässt danach die Häuser verfallen. Zu Beginn des Buchs wohnen nur noch 46 Menschen in dem ehemals mondänen Kurort. Wofür steht Bad Regina, wofür das Buch? Inwiefern war Bad Gastein Vorbild für die titelgebende Geisterstadt?

David Schalko: Die atmosphärische Grundidee ist Bad Gastein. Dass ein ehemaliger mondäner Kurort dem Verfall preisgegeben wird, weil jemand aus Absicht oder nicht einen Ort sich selbst überlässt. Da wird natürlich reichlich hineinprojiziert und da gibt es auch entsprechende Legendenbildungen. Das hat mich fasziniert. Und das Zweite war, dass ein alter mondäner Kurort sehr viel mit dem Selbstbild Europas und mit dem 20. Jahrhundert zu tun hat. Das Aussterben dieser mondänen Kurorte zugunsten einer anderen Art von Tourismuskultur steht für den kulturellen Verfall von Europa. Da steckt auch diese europäische Melancholie drinnen, dass viel in die Vergangenheit gerichtet ist und nicht in die Zukunft oder Gegenwart. Und auch viel von diesem Selbstgefühl des Europäers: Wir waren immer schon hier und daher haben wir auch ein Anrecht auf diesen Kontinent, der und was gegen Ende des Buchs immer mehr in Frage gestellt wird.

Die Corona-Pandemie hat die große wirtschaftliche Abhängigkeit Europas sehr deutlich gemacht.

Ja, man hat während der Corona-Zeit sehr stark gemerkt, dass Europa kein produzierender Kontinent mehr ist, sondern ein Dienstleisterkontinent, ein Markt. Die großen Produktionsstätten sind woanders. Wir sind wirtschaftlich sehr abhängig vom asiatischen Raum, speziell von China, auch was Medikamente betrifft. Es wird sehr spannend, auf welche Art und Weise Europa aus dieser Corona-Lethargie wiedererwacht und was dann passiert. Es kann auch sein, dass es so durchgerüttelt ist, dass es in der gleichen Art und Weise gar nicht mehr aufsteht. Europa ist ein Kulturkontinent geworden. Ein Kontinent, der die eigene Kultur zum Hauptgeschäft erklärt hat. Und darum geht es im Roman.

Es gab ja tatsächlich einen Wiener Investor, der fünf der prächtigsten Häuser in Bad Gastein aufkaufte und sie dann langsam verfallen ließ.

Ja, das war der sogenannte „Garagenkönig“ Franz Duval. Da zeigt sich, dass es eine personifizierte Geschichte ist, und nicht meint: Die Russen kommen. Im Roman steckt ja auch noch eine andere Geschichte dahinter, aber das ist schon zu viel verraten. Es geht im Buch auch sehr stark um den Heimatbegriff und den Bezug zur Heimat: Hat Heimat etwas mit einem Ort, mit Leuten, mit einer Landschaft zu tun? Bleibt eine Heimat eine Heimat, wenn alle anderen weg sind?

Wofür stehen die Figuren im Roman?

Sehr viele der Figuren stehen für Dinge aus dem 20. Jahrhundert, für gewisse Epochen die für Europa sehr wichtig waren. Das Adelsgeschlecht, das da vorkommt, die verlassene Kirche, in die keiner mehr reingeht, oder die Hauptfigur, der abgesandelte Othmar, der für eine gealterte Popkultur steht. Er ist ein Überbleibsel aus den Neunzigerjahren, in denen noch alles gut war. Und es gibt einen rechten Bürgermeister, der für eine gewisse opportunistische Art der Politik steht, die jetzt gerade sehr en vogue ist. Und auch die Mutter des Bürgermeisters, die Nationalsozialistin, Katholikin und Mutter war, ohne all das wirklich gewesen zu sein. Man könnte sie als Mitläuferin bezeichnen. Und das alles in einem Dorfgefüge, wo jeder jeden gut kennt.

Viele, sehr wichtige Themen sind im Corona-Jahr an den Rand gedrängt worden, als gäbe es sie nicht. Eines davon ist das Flüchtlingsdrama: Bereits auf Lesbos gelandete Menschen wurden von den griechischen Behörden wieder zurück aufs offene Meer gebracht und dort ausgesetzt.

In der Weltpolitik hat man den Eindruck, es gibt nur mehr Gesundheitsminister, etwas anderes gibt es nicht mehr.

Ihre Bilanz nach einem Jahr Türkis-Grün? Wie grün sind die Grünen noch?

Die Grünen haben wenig Chancen, mit ihren Kernthemen durchzudringen, weil Umweltpolitik und eine humane Immigrationspolitik im Augenblick kein Thema sind. Dass letzteres mit Kurz nicht geht, war klar, aber die Hoffnung war, dass es zu einer Ökologisierung in der Wirtschaft kommen kann. Davon ist nach einem Jahr überhaupt nichts zu spüren. Im Augenblick kann man Politik fast nur anhand der Coronapolitik messen. Und da sieht man, dass Zusperren einfacher ist als Aufsperren. Die Argumentation für die Lockdowns war die ungenügende Zahl der Spitalsbetten. Aber in dem halben Jahr, in der kritischen Phase zwischen den beiden ersten Lockdowns, in der man seine Arbeit hätte machen müssen, hat man keine neuen Spitalsbetten geschaffen. Da entsteht der Eindruck, dass man sehr unkonzeptiv an die Sache herangegangen ist und stattdessen gebetet hat, dass es keinen zweiten Lockdown geben wird. Es ist sogar Personal in den Spitälern abgebaut worden. Da hört sich bei mir das Verständnis auf. Im Gesundheitswesen hat man in den letzten Monaten keine einzige Reform durchgesetzt. Das ist keine Regierung, die von Tatendrang durchdrungen ist.

Was tun gegen den Nationalismus und Rechtsruck in Europa? 

Die EU ist ja nur tatkräftig, wenn die Staaten auf einen gewissen Anteil ihrer Souveränität verzichten und das in die Hand von Brüssel legen. Das findet gerade bei den großen Themen Umweltpolitik und Migration nicht statt. Deswegen ist die EU bei beiden Themen kaum handlungsfähig und muss vielleicht auch begreifen, was sie ist: erstens ein Wirtschaftsbinnenmarkt und zweitens eine Plattform, um zu kommunizieren. Und es ist eine Wertegesellschaft. Sie ist kein auf allen Themenebenen handlungsfähiges Konglomerat von Staaten. Das wird uns vor allem bei der Umweltpolitik auf den Kopf fallen, denn das sind Dinge, die man nur im Großen lösen kann. Das kann man ja auch beim Pariser Abkommen beobachten. Es gab viele Versprechungen, passiert sind aber de facto kaum Maßnahmen, um diese zu erreichen. Ich glaube, dass das Thema Umwelt, so traurig das klingt, nicht mehr lösbar ist. Und ich denke, man muss sich damit auseinandersetzen, was das heißt.

Hat die Coronakrise das Denunziantentum befördert? Bereitet Ihnen das Sorge?

Das ist schnell aktivierbar, ja. Es gibt zwei Beobachtungen, die ich machen kann, was die ersten beiden Lockdowns betrifft und wie sie sich unterschieden haben. Beim ersten war alles sehr verordnet, wie es der Österreicher gernhat, und da kam es auch zu diesem Denunziantentum, weil sofort der Blockwart parat stand. Beim zweiten Lockdown hatte man offensichtlich Angst, zu autoritär aufzutreten und wollte das anders machen. Man hat aber gemerkt, dass das mit der gewünschten Eigenverantwortung nicht so stattfindet. Gleichzeitig wird immer argumentiert, warum wir uns nicht wie die Asiaten verhalten. Diese Selbstdisziplinierung – ich glaube, dass der Europäer da kulturell ganz anders aufgestellt ist. Gesicht zeigen, das offene Visier, und auch dieser extreme Individualismus, der bei uns herrscht – , das sitzt bei uns tiefer als in den asiatischen Gesellschaften – wie zum Beispiel Südkorea. Es ist eine sehr komplexe Diskussion. Man muss aufpassen, nicht zu ideologisieren. Aber Corona zeigt uns auch, dass wir uns als Menschen im 21. Jahrhundert sehr, sehr schwertun mit der Unkontrollierbarkeit eines solchen Virus, mit Endlichkeit. Es gab ja immer solche Phasen in der Menschheit – wie zum Beispiel die Pest. Pandemien gab es immer. Aber es fällt uns wahnsinnig schwer, damit umzugehen, weil wir alles für kontrollierbar halten und es gar nicht mehr gewohnt sind, dass etwas die Gesellschaft so durchrütteln kann. Wir suchen sofort die Schuldigen. Diejenigen, die dafür verantwortlich sind. Gleichzeitig spürte man im zweiten Lockdown eine wahnsinnige Depression bei den Leuten. Die Menschen steckten den neuerlichen Lockdown nicht mehr so gut weg wie den ersten, was verständlich ist. Das hat sicher auch sehr viel damit zu tun, dass es früher dunkel wurde. Beim ersten Mal war die Zeit für manche eine geschenkte, es war ein Abenteuer, eine neue Situation. Danach wusste jeder schon, wie es wird, und da entstand die Depression schon vorher. Das wird übrigbleiben, und das wird sicher seine Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Diese Depression, die sich da breitgemacht hat, wird länger dableiben, als wir glauben. Ich glaube aber nicht, dass das Coronavirus eine Läuterung der Gesellschaft bringen wird, im Gegenteil. Es wird sogar nachher noch schlimmer werden. Man wird noch gieriger werden, was Konsum und diese Dinge betrifft. Ich glaube nicht, dass es zu einer großen Verzichtswelle kommen wird.

Sie haben zwei Töchter. Wie ist es Ihren Kindern in dieser Zeit gegangen?

Im ersten Lockdown war alles sehr friedlich. Der zweite war schwieriger. Da kam die Schuldiskussion dazu: ob es wirklich so wichtig war, die Oberstufen zuzusperren. Das ist für Teenager in dem Alter wahnsinnig hart. Man stiehlt ihnen auch ein bisschen einen Teil ihrer Jugend, und man muss sich dann schon sehr genau fragen, ob das notwendig ist oder nicht. Vor allem, wenn fast alle Experten sagen, dass es das nicht ist, und ein Kanzler glaubt, es besser zu wissen als der Experte. Dann entsteht ein Frustrationsgefühl, wo man sich denkt, da schwingen andere Dinge mit, die mit rationalem Denken nichts zu tun haben. Wir müssen lernen, Prioritäten zu setzen und viel differenzierter vorzugehen. Warum muss der Lockdown überall gleich sein? Warum muss er dort, wo es kaum Infektionen gibt, genauso stattfinden wie in der Großstadt? Warum bekommen alle über den Kamm geschert die gleiche Hilfe, auch wenn McDonalds oder ähnliche Firmen fast genau den gleichen Umsatz machen wie sonst auch. Da wird nicht differenziert und nicht punktuell vorgegangen. Da erkennt man leider, dass die Handlungsfähigkeit eines Staates schon sehr überschaubar ist, wenn es zu einer solchen Krise kommt. Daraus lernen wir, dass wir an einem strukturellen Krisenmanagement arbeiten müssen. Weil wir vorhin über die Spitalsbetten gesprochen haben: Ich glaube nicht einmal, dass der Wille nicht da ist, mehr zu schaffen, aber wenn da in einem halben Jahr nichts passiert, merkt man, dass die Durchschlagskraft oder die Struktur fehlen.

Das erinnert mich ein bisschen an die Figur des Othmar in Ihrem Roman, der am liebsten alles verschlafen würde und sich nur noch danach sehnt, seine Ruhe zu haben.

Ich glaube, so geht es vielen. Vielleicht muss man auch überdenken, ob unsere ganze Sucht nach Effizienz und Leistung der richtige Weg für eine Gesellschaft ist. Es bricht jetzt ohnehin eine Zeit an, in der der Vollbeschäftigungsgedanke nicht mehr durchführbar ist. Da wird sich die Frage stellen müssen, wie organisiert sich eine westliche Gesellschaft überhaupt? Man wird seine Identität nicht mehr hauptsächlich über die Arbeit definieren oder über eine Tagesstruktur, die jene vorgibt, sondern es werden vielleicht Dinge eine Rolle spielen, die mit unfreiwilliger Freizeit zu tun haben. Darüber muss man sich sehr viele Gedanken machen, was das als Gesellschaft heißt, damit sie nicht in die nächste Depression kippt.

Vor allem, wenn es, wie während der Lockdowns, vielleicht gar keine Freizeitmöglichkeiten mehr gibt.

Dann haben wir eine Gesellschaft von Othmars.

Auch das Kulturleben, Filmeschaffende, Autoren und Autorinnen, der Buchhandel wurden von der Krise und den Lockdowns stark getroffen. Theater, Oper wurden gesperrt, obwohl es dort nachweislich zu keinen Ansteckungen kam. Wie kann, soll es für Kulturschaffende nun weitergehen?

Dass man ausgerechnet jene Institutionen als erste zugesperrt hat, die am besten aufgestellt waren, ist leider deprimierend und zeigt auch, wo die Prioritäten dieser Regierung liegen. Es ist wichtiger, dass ein Schilift offen hat als das Burgtheater.

Hat Europa moralisch versagt, was die Flüchtlingssituation betrifft?

Es gibt kaum Staaten der Welt, die nicht versagt haben. Da versagen alle. Das hat sehr viel mit Ohnmacht zu tun, mit mangelnden Möglichkeiten und mit der Angst, Wählerstimmen zu verlieren. Europa wurde in der Zeit auch von den rechten Parteien vor sich hergetrieben, weil wahnsinnig viele in der Regierung saßen. Was heißt moralisches Versagen?! Es ist eine ideologische Entscheidung, wie man das angeht und macht und welche Entscheidungen getroffen werden. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass Angela Merkel moralisch versagt hat. Man kann aber auch nicht sagen, Matteo Salvini hätte moralisch versagt, denn er hat genau das gemacht, was er für richtig hält – in seiner ideologischen Welt. Aber es ist vor allem ein Thema der Ohnmacht in Europa. Und aus dieser Ohnmacht heraus entstehen sehr gefährliche Tendenzen, die dann das Unmoralische ins Spiel bringen. Aber es hat nicht nur etwas mit Europa zu tun. Es hat auch mit den afrikanischen Staaten zu tun, mit Organisation, es ist eine sehr komplexe Geschichte. Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Man kann sich auch nicht für alles zuständig fühlen. Aber es ist schon ein Faktum, dass die Probleme, die es in Afrika gibt, ganz wesentlich mit uns zu tun haben.

Hat Europa die Verpflichtung, die Verantwortung, zu helfen?

Jeder Mensch, jede Gesellschaft hat die Verpflichtung, Menschen, die in Notlage sind, zu helfen. Wenn man das in einem ethischen Sinn sehen würde oder sogar in einem christlichen: In der Bibel steht, dass das Land niemandes Eigentum ist. Keiner hat das angeborene Anrecht auf Land. Das ist eigentlich im Übrigen auch eine Meinung, die Kant vertreten hat. Das sind aber Haltungen, die nicht mehr in unser Bewahrungssystem passen. Das klingt fast schon so gefährlich wie Kommunismus. Dieser humanistische Gedanke ist nicht mehr verankert in Europa. Da merkt man auch, wie weit uns dieser Turbokapitalismus davon entfernt hat: Es geht nicht einmal nur darum, dass das eigene Hemd das nächste ist. Es reicht schon die kleinste Drohung, dass man auf etwas verzichten müsste oder es kurz unbequem werden könnte. Wir sind sicher in keiner sehr feinfühligen und mitfühlenden Gesellschaft zuhause. Empathisch sind wir nur auf Facebook, weil es dort niemanden etwas kostet. Da wird Empathie immer wahnsinnig hysterisch aufgerufen, aber sie ist natürlich völlig wirkungslos, weil sie nur im Virtuellen stattfindet und nicht in der Praxis.

Ihre Romane, Ihre Filme sind auch herrlich politisch unkorrekte Satiren. Sie schauen den Leuten sehr genau aufs Maul. Wie wichtig ist Ihnen die Ironie? Wie wichtig ist politische Unkorrektheit als Stil, als Kunstmittel?

Es geht nicht darum, korrekt oder inkorrekt zu sein, sondern die Dinge auf den Punkt zu bringen. Wir sind im Augenblick von einer Art Moralinsäure durchsetzt, die der Wahrheit oft im Wege steht.

Auf der anderen Seite ist es vor allem im politischen Diskurs möglich geworden, Dinge zu sagen, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären. Ihr Wort dazu?

Es gibt Signalworte. Und es gibt schon sehr viel Vokabular, das bewusst eingesetzt wird. Und dann gibt es auch das Feld der politischen Unbildung, dass Dinge in den Mund genommen werden und gar nicht bekannt ist, dass das in einem anderen Zusammenhang prägnant verwendet wurde. Und es gibt auch eine Desensibilisierung in der Sprache. Wir gehen nicht mehr sehr genau mit unserer Sprache um und haben ein sehr schlampiges Verhältnis dazu. Wir nehmen uns für viele Dinge nicht mehr genügend Zeit, alles wird rausgeschleudert. Es herrscht auch überall ein Meinungszwang, der einen zu sehr viel Oberflächlichkeit zwingt. Es würde uns guttun, manches ein bisschen länger sickern zu lassen und nicht sofort zu jedem Thema innerhalb von zehn Sekunden eine Meinung entwickeln zu müssen.

Was kann Literatur, Kunst tun, damit die Empathie wieder zunimmt? Damit man überhaupt wieder weiß, was das ist?

Ich glaube, die Leute wissen sehr genau, was Empathie ist. Ich habe das Gefühl, dass wir in hyperempathischen Zeiten leben. Ich meine dieses Mitfiebern in den sozialen Medien: Man dockt sofort irgendwo an, aber man lässt auch schnell wieder los. Empathie hat nicht nur positive Eigenschaften. Es gibt ja auch die dunkle Seite der Empathie. Empathie ist nicht zwangsläufig Mitgefühl, sondern es bedeutet auch, sich in etwas hineindenken zu können. Und das hat auch ganz schnell etwas mit Manipulation zu tun. Zu wissen, wie jemand anderer tickt, um das auszunutzen. Das ist auch eine Form von Empathie. Das gelebte Mitgefühl lässt sich nur dann wieder aktivieren, wenn nicht nur die Ware und diese Dinge im Vordergrund stehen, sondern wenn auch etwas anderes wieder eine gesellschaftliche Wertigkeit bekommt. Dann müsste man sich aber von diesem neoliberalistischen Weltbild abwenden und die Gesellschaft auch wieder anders organisieren. Man muss sich damit auseinandersetzen, wie man eine Gesellschaft organisiert, wenn plötzlich dreißig Prozent keine Arbeit haben. Es ist durchaus möglich, dass dieses Innehalten etwas bewegt und so etwas wie Solidarität wieder ein mehr in den Vordergrund rücken lassen wird – und man dem wieder mehr Aufmerksamkeit geben kann, weil man mehr Zeit dafür hat.

Was wünschen Sie sich denn?

Dass ich die Jahre, die ich noch habe, zufrieden verbringen kann.

Was wünschen Sie sich für Europa?

Dass sich Europa wieder ein bisschen mehr auf seine eigenen Werte besinnt, die mit Aufklärung zu tun haben, dass man sich auch wieder der politischen Errungenschaften der letzten siebzig Jahre besinnt, die nicht nur rechtes Gedankengut oder Turbokapitalismus waren. Wir müssen unser Wertesystem neu aufstellen oder überhaupt wieder eines etablieren, das wir als europäisches empfinden. Es gibt ja ein europäisches Lebensgefühl, das vorhanden ist und das ich sehr mag und das mit einer gewissen Art von Melancholie zu tun hat, und deshalb lebe ich auch gern in Europa. Trotzdem müssen wir dieses europäische Lebensgefühl wieder ein bisschen mehr abholen und es auch wieder ein bisschen mehr leben. Es ist einfach schöner, in Paris bei einem Glas Rotwein und Essen auf der Straße zu stehen als in der Shopping-Mall im Mittleren Westen der USA.

Was bedeutet Erfolg für Sie?

Schalko: Erfolg hat für mich mehr mit Gelingen zu tun, egal, wie vielen Leuten das gefällt oder nicht gefällt, was ich mache. Es spielt eher eine Rolle, dass man sich mit etwas sehr lange auseinandersetzt und dann am Ende mit dem Gefühl des Gelingens rausgeht oder nicht. Das ist für mich der wesentliche Punkt.

Mehr zu David Schalko in der kommenden Ausgabe 194 von Buchkultur, die am 11. Februar 2021 erscheinen wird.

„Bad Regina“ (Kiepenheuer & Witsch),
400 S.