Sein Roman „Die Eismacher“ war auch über den Sommer hinaus erfolgreich. Ernest van der Kwasts „Mama Tandoori“ wird es nicht anders ergehen. Das autobiografische Kultbuch aus den Niederlanden ist auf die Pointe genaue Unterhaltung mit Tiefgang (aus Buchkultur 178, Juni 2018).

Buchkultur: Wie autobiografisch ist „Mama Tandoori“?

Ernest van der Kwast: Das ist schwierig zu sagen. Ich habe mir die Freiheit genommen, über alles zu schreiben, worüber ich wollte. Ich habe nie eine Zensur gespürt. Nicht alles davon ist wahr. Aber es hätte passieren können. Die Einbildungs-, die Vorstellungskraft ist mein großes und wichtigstes Instrument beim Schreiben. Bei uns in der Familie gibt es keinen Konsens darüber. Meine Mutter sagt, zehn Prozent sind wahr. Und ich sage: Neunzig Prozent sind wahr. Ich habe eine große Vorstellungskraft, diese romanhafte Seite des Schreibens gefällt mir gut. Ich werde nie Non-Fiction schreiben können. Denn da habe ich das Gefühl, dass ich immer auf die Bremse steigen muss, weil ich nicht schöner oder tiefer in die Materie hineingehen kann. Das war ja das Schöne beim Schreiben von „Mama Tandoori“: Man konnte sehr viel in der eigenen Familiengeschichte und der eigenen Jugend graben, aber gleichzeitig konnte ich das mit Imaginiertem mischen. Und ich glaube, dass es deshalb ein schönes Buch geworden ist. Es gibt andere Schriftsteller, die auch über ihre Eltern oder ihre Jugend schreiben, oft nehmen sie dann Rache. Aber mein Buch hat wenig Wut in sich. Es ist ein Buch über eine schwierige, aber auch eine schöne Mutter. Und ich hoffe, dass ich mit meiner Geschichte, mit meiner Sprache meine Mutter auch umarme.

Das Buch ist auch eine Liebeserklärung an Ihre Mutter.

Ja, es ist ein Denkmal für eine schwierige, aber schöne Mutter. Ich glaube, sie weiß selbst, dass sie nicht die einfachste war. Und als ich ein Kind war, habe ich meine Mutter sehr schwierig gefunden, weil sie so anders war. Aber wenn man dann später ihre Geschichte erfährt, woher sie kommt, was sie mitgemacht hat, wenn man so viel Armut erlebt hat wie sie, dann kann man verstehen, dass es schwierig für sie war, plötzlich in einer westlichen Kultur zu sein, wo alles im Überfluss vorhanden ist.

Inwiefern empfanden Sie Ihre Mutter als schwierig?

Sie war anders als die anderen Mütter. Heute verstehe ich natürlich, weshalb sie ist, wie sie ist. Aber als Kind schämt man sich dafür, da sieht man nur den Unterschied zu den anderen. Dass sie aus einer anderen Kultur kommt, machte es manchmal schwierig. In der Pubertät will man ausgehen, und das hat sie nie verstanden. Man musste immer lernen, und es war wenig Raum, sich selbst zu entwickeln. Indische Mütter sind schon sehr beschützend. Die Kultur der Niederlande war ihr fremd. Die Welt da draußen war ihr zu unbekannt. Weil mein Bruder behindert war, war sie immer zuhause. In einem bestimmten Alter aber will man die Flügel ausbreiten und Dinge ausprobieren und es war dann ein bisschen schwierig, dass sie immer da war.

Sie trug als einzige Saris. Man sparte immer Geld. Wir haben nicht die Dinge bekommen, die andere Kinder bekommen haben. Hat uns deswegen etwas gefehlt in der Jugend? Im Rückblick denke ich: Nein. Aber das sieht man als Kind in dem Moment nicht.

Die Familie Ihrer Mutter musste 1947 nach der Unabhängigkeitserklärung Indiens, der Partition, aus Pakistan fliehen. Haben Sie je mit ihr darüber gesprochen?

Nicht mit meiner Mutter selbst. Sie wurde in dieser schwierigen Zeit, als sie flüchten mussten, gerade erst geboren. Sie hat keine wirkliche Erinnerung daran. Ihre ersten Erinnerungen entstanden erst in Agra, wohin die Familie geflüchtet war. Aber ich habe mit ihrer Schwester darüber geredet und da ist diese Geschichte über „Pucha“ zu mir gekommen. Ich wusste schon immer, dass das der Kosename meiner Mutter war. Als ich in Indien war und meine Mutter aus Toronto anrief, hat meine Tante, Auntie Jasleen, das Telefon mit: „Ah, Pucha“ abgenommen. Und da habe ich sie gefragt, wieso sie meine Mutter eigentlich „Pucha“ nennen. Sie erzählte mir die Geschichte von dieser Ziege, an deren Euter meine Mutter als Baby saugte, weil meine Großmutter durch die Flucht so verängstigt war, dass sie keine Milch mehr produzierte. Und meine Mutter wurde von ihren Geschwistern dann „Pucha“ genannt, nach dem Geräusch des saugenden Mundes an den Zitzen der Ziege. Tante Jasleen hat dann schon viel geweint bei mir, weil es so eine harte Zeit war. Bei allen Schwestern findet man diese Eigenschaft, dass sie sparsam sind, dass sie nichts extra und gar nichts für sich selbst haben. Die Armut und die schwierige Zeit, in denen sie aufgewachsen ist, haben meine Mutter schon geformt.

Meine Eltern haben als Kinder den Zweiten Weltkrieg miterlebt. Bis heute kann meine Mutter kein Essen wegwerfen.

Meine Mutter würde auch nie Essen wegwerfen.

Sind in Ihrer Kindheit zuhause wirklich die Nudelhölzer und Pantoffeln geflogen, wie im Buch beschrieben?

Das Nudelholz nicht, so viel Physik war es nicht, aber meine Mutter hat es schon schwierig gehabt, sie hat manchmal schon geweint und geschrien. Nicht aus Wut, aber weil sie in einem anderen Land war, mit einem Mann, der immer arbeitete, sie allein zuhause mit den Kindern war, einem behinderten Kind. Sie hat sich schon alleine gefühlt, und manchmal ist das dann aus ihr rausgekommen, dass sie mit Sachen geworfen hat. Ich wollte das schon beschreiben, aber es auch ein bisschen karikierend machen. Jeder kann es sich vorstellen und vor sich sehen, aber weil es so überspitzt ist, ist es nicht mehr ganz so schmerzhaft. Aber sie hat sich sicher manchmal sehr verletzt und einsam gefühlt, und ich glaube, das war ein Schrei nach Wärme oder Verständnis.

Sie haben einen geistig behinderten Bruder. Man hat nach der Lektüre den Eindruck, dass das für Ihre Mutter schwerer war als für Sie, der Sie als Dritter geboren wurden?

Er hatte mit eineinhalb Jahren einen epileptischen Anfall, aber vielleicht war diese Behinderung auch schon als Baby da, man weiß es nicht. Meine Eltern haben erst gehört, dass er anders ist, als er eineinhalb war. Das war und ist immer noch schwierig für meine Mutter. Ich glaube, wenn man selbst nicht so ein Kind hat, kann man das nicht nachvollziehen. Und schlussendlich muss man seinen Frieden damit machen. Aber es ist für mich als jüngerer Bruder viel einfacher, weil er immer so war, und ich habe ihn immer gern gehabt. Alle zwei Wochen kommt er zu uns und schläft bei uns oder wir gehen wandern, und wir laufen wie zwei Schwule über die Straße, Hand in Hand, wir haben es fein und gut. Und obwohl wir anderen, mein zweiter Bruder und ich, alles geschafft haben im Leben – nicht dass ich den Nobelpreis bekommen habe, aber wir sind alle durch – ist er immer der, dem das nicht gelungen ist. Das macht meine Mutter traurig. Und ich glaube auch, dass es mit der Kultur zu tun hat, dass der erste Sohn oder das erste Kind in Indien schon wichtig ist.

Wie hat Ihre Mutter auf das Buch reagiert?

Als ich es schrieb, wohnte ich in Italien, in Südtirol, und meine Eltern waren schon in Toronto. Wir hatten regelmäßig Kontakt über Skype und haben einander jede Woche angerufen. Ich habe dann Kapitel für Kapitel über E-Mail geschickt. Aber nachdem ich das erste geschickt hatte, rief sie nicht mehr an. Und nach zwei Wochen habe ich selbst angerufen und gefragt, was los ist und ob sie es gelesen haben. Und sie sagte: Ja, wir haben es gelesen, aber ich bin nicht froh darüber, weil du schmutzige Wäsche wäschst. Und dann habe ich ihr erklärt, dass ja nicht alles davon wahr ist. Und sie sagte: Ja, das weiß ich auch, dass nicht alles wahr ist. Und dann habe ich gesagt, dass ohnehin „Roman“ auf dem Buchcover stehen wird. Dann habe ich das zweite Kapitel geschickt, und dann wurde meine Mutter sehr böse auf meinen Vater. Ihr Niederländisch ist nicht gut genug, um meine Bücher zu lesen – vielleicht bleibt deshalb auch immer eine Distanz zwischen ihr und meinem Wunsch, Schriftsteller zu sein, bestehen. Sie wollte eigentlich nie etwas davon wissen. Sie sagte: Du kannst studieren, Du kannst später einen echten Job haben statt Künstler zu werden. Mein Vater hat ihr dann diese Kapitel im Bett vorgelesen, und beim zweiten Kapitel ist sie so böse auf meinen Vater geworden, weil er immer lachen musste. Aber bei den Kapiteln, in denen es um meinen älteren, behinderten Bruder Ashirwad ging, fing sie an zu weinen. Da war sie ganz berührt. Und seit diesen Kapiteln ist sie für das Buch zerschmolzen. Manche Leute sagen: Was hast Du Deiner Mutter angetan mit diesem Buch. Aber genau durch dieses Buch hat sie auch mein Schreiben verstanden und auch die Kraft davon gesehen – was man alles mit Literatur kann – dass man lachen und weinen kann. Seitdem hat sie sich geöffnet, hat sie mitgearbeitet an diesem Buch. Sie hat mich gebeten, auch über Onkel Sharma zu schreiben, weil er Schauspieler war, und sagte, diese Tante hat noch eine Geschichte und erzählte, wie sie das früher in der Leichtathletik gemacht haben. Ich glaube schon, dass sie stolz ist auf dieses Buch. Es hat sich in den Niederlanden gut verkauft – 100.000 mal. Und zwei, drei Wochen nach Erscheinen, als schon 20.000 Bücher verkauft waren, habe ich angerufen und das ein paarmal gesagt, und da hat sie geantwortet: Das passt in Indien in zwei Busse, bleib auf dem Boden. Da gibt es auch von ihrer Seite aus diese Übertreibung, das ist schon schön. Bis ich den Nobelpreis für Literatur gewinne, soll ich mal auf dem Boden bleiben. Erst dann wird sie stolz sein.

Sie hat sich einen anderen Beruf für Sie gewünscht, wie im Buch beschrieben, etwa den eines Anwalts oder Arztes?

Ja, ja. Ich war am Gymnasium und dann musste ich zur Universität. Ich konnte schon wählen, es gab schon einige Freiheit – entweder das Jurastudium, Medizin oder Wirtschaft. Ich habe dann Wirtschaft gewählt und in drei Jahren den Bachelor geschafft, aber ich war nicht glücklich da. Und dann bin ich nach Hause gegangen und habe gesagt: Mama, ich kann es nicht, ich habe eine zu große Liebe zur Literatur. Da hat sie geweint und ist böse geworden und hat dann einen Müllsack verbrannt, um diesen bösen Geist aus mir zu vertreiben. Aber der böse Geist ist immer noch da, und die Liebe zur Literatur auch und ich schreibe. Das ist ihr also nicht gelungen, und meine Mutter denkt immer noch, dass an mir ein sehr großer niederländischer Minister für Wirtschaft verloren gegangen ist. Aber man muss auch das Positive sehen, dass meine Bücher jetzt auch ins Englische, Koreanische, Chinesische und Deutsche übersetzt werden.

Was hat Ihnen Ihre Mutter vererbt? Vielleicht gar Ihren Humor, Ihren Witz, Ihren Sinn für Komik?

Ich weiß nicht, ob Humor das richtige Wort ist. Mehr das Gefühl für Absurdität, obwohl meine Mutter vielleicht nicht weiß, dass es absurd ist, aber vielleicht ist genau das Absurdität. Auch meine Ungeduld und meine emotionale Sprache habe ich von ihr. Aber die deutschsprachigen Leser müssen sich nicht fürchten, dass ich mit einem Nudelholz durch die Buchhandlungen in Deutschland und der Schweiz gehe und, wenn sie mein Buch nicht kaufen, „Ticki“ bekommen (im Buch angedrohte Schläge, Anm. d. Red.). Aber es wäre trotzdem schön, wenn sie es kaufen und lesen würden.

Ist Komik eine Überlebensstrategie, die das Leben leichter macht? Ist der Witz auch eine Waffe?

In anderen Büchern von mir gibt es auch Humor, aber nicht in dieser Intensität. Ich wollte die Geschichte über meine Jugend und meine Mutter nicht ohne Humor erzählen. Das ist dann keine Waffe, aber ohne Humor wäre die Geschichte zu frech und zu hart. Und mit Humor kann man sie leichter machen. In den Niederlanden schrieben sie über das Buch, dass die Tragik, die ich beschrieben habe, humoristisch, lustig ist, und alles Humorvolle tragisch, und dass das die Kraft des Buchs ausmacht. Das läuft durcheinander, man weiß nicht mehr, muss man jetzt lachen oder weinen. Der Humor muss verbinden, er muss die Geschichte weitererzählen können. Ich habe Dimitri Verhulsts „Die letzte Liebe meiner Mutter“ über seine Mutter gelesen, und das war mir zu schwer. Das ist so voll Hass, da gibt es keinen Raum zum Atmen zwischen den Sätzen. Ich konnte selbst fast nicht atmen während des Lesens. Es ist ein gutes Buch, aber ich liebe meine Mutter und habe sie gern und verstehe sie auch immer besser, obwohl ich noch immer, wenn sie hier in den Niederlanden ist – sie kommt manchmal und hilft uns mit den Kindern und bleibt dann einen Monat ­– dann muss ich schon manchmal auch durchatmen, nicht gleich böse werden, und versuche, sie zu verstehen.

Sie sagten einmal, Ihr Roman „Die Eismacher“, in dem es um eine Familie von Speiseeisherstellern geht und einen Bruch mit der Tradition – einer der Brüder verlässt das Unternehmen – wäre noch autobiografischer als „Mama Tandoori“. Was haben Sie damit gemeint?

Das Thema, sich von Erwartungen zu befreien, durchzieht meine Bücher wie eine Linie. Natürlich ist „Mama Tandoori“ ein autobiografisches Buch, aber anders als in „Die Eismacher“ ging es da nicht um diesen Kampf. Und dieser Kampf, sich befreien zu können, das war sehr schwierig für mich. Wieso studiert man sonst Wirtschaft, wenn man sich in die Literatur verliebt hat?! Und ich habe das drei Jahre gemacht ­– und im letzten Jahr habe ich auch noch Steuerwirtschaft dazugenommen – weil ich nicht imstande war, davon wegzulaufen. Und darum geht es auch in „Die Eismacher“. Giovanni, der älteste Sohn, hat sich in die Lyrik verliebt, er will kein Schriftsteller werden, aber er liebt die Poesie und möchte dann diesen Weg einschlagen. Und das Buch beschreibt diese Fäden, die zurücklaufen in die Vergangenheit, die Erwartungen, die Traditionen von fünf Generationen von Eismachern. Ich mache es ihm schwer, diesen Faden durchzuschneiden. Und die Frage ist schlussendlich auch, ob es ihm gelingt. Ist es überhaupt möglich?

Ich schreibe gerade an einem neuen Buch. Schreiben ist nicht immer einfach, man macht sich auch Sorgen, was tut man da in seinem Zimmer jeden Tag alleine. Dann höre ich die Stimme meiner Mutter: Hättest Du doch Dein Studium fertig gemacht, hättest Du doch die Sicherheit gewählt. Aber ich glaube, jetzt habe ich mich befreit, jetzt geht es in meinen Büchern nicht mehr darum.

Wie wichtig ist es, seinen eigenen Träumen und Vorstellungen zu folgen und sich nicht hineinpressen zu lassen in die Erwartungen anderer?

Ja, das ist alles, worum es im Leben geht, dass man die Dinge mit Überzeugung machen kann. Wenn die Überzeugung fehlt, dann kommt auch nichts. Eine Weile kann man Dinge versuchen, aber man lebt nur einmal. Man sollte nicht Theater spielen. Das gilt auch fürs Schreiben. Man hat nur eine Chance mit einem Buch, und da muss alles drinnen stecken.

Welche Verbindung haben Sie zu Indien? Sprechen Sie Hindi?

Nein, leider spreche ich meine Muttersprache nicht. Meine Mutter hat auf die Nachbarn gehört, die ihr geraten haben, zuhause Niederländisch mit uns zu sprechen. Das war natürlich Quatsch, weil meine Mutter überhaupt nicht gut Niederländisch gesprochen hat. Wir kamen auf niederländische Schulen, in der Straße haben alle Kinder, mit denen ich spielte, Niederländisch gesprochen, mein Vater hat Niederländisch geredet. Ich sehe das schon als großen Verlust, die Muttersprache nicht zu sprechen. Ich glaube, das hätte eine wahnsinnige Bereicherung auch für mein Schreiben sein können. Das ist eine ganz andere Sprache und auch eine ganz andere Kultur. Kultur geht, fließt durch die Sprache. Wenn ich in Indien bin – und ich fahre gern hin und habe auch guten Kontakt mit meinen Verwandten dort –, rede ich Englisch, und das geht gut, aber wenn sie sich umdrehen, reden sie Panjabi oder Hindi oder eine andere Sprache, und dann fühlt man sich ausgeschlossen, und das finde ich sehr schade. Aber natürlich ist Indien auch meine Mutter. Alle Intensität von Indien ist in meiner Mutter und dadurch auch in mir. Wenn ich dort bin, fühle ich mich ganz gut da, und fahre auch gerne mit öffentlichen Verkehrsmitteln mit 20.000 anderen Indern in einem Bus wie meine Mutter. Damit habe ich kein Problem. Ein Teil der Kultur meiner Mutter und Indiens ist schon in mir.

Vielleicht zeigt sich das auch darin, dass Ihre Bücher sehr bilderreich, voller Farben, Stimmungen und Atmosphäre sind?

Ein Kollege von mir, der auch ins Deutsche übersetzt, und den ich nach Erscheinen nach seiner Meinung über „Mama Tandoori“ gefragt habe, sagte: Der Bollywood-Prinz ist endlich in den Niederlanden angekommen. Und seitdem nennt er mich den Bollywood-Prinzen. Ich glaube, er meint damit, dass es diese Farben, diese Bilder sonst hier nicht so gibt. Die niederländische Literatur kann fast trocken oder klar sein, man nutzt nicht so viele Wörter. Das war eine Tradition mancher Schriftsteller nach dem Zweiten Weltkrieg und das hat sich immer weiter fortgesetzt. Ja, ich versuche mehr zu singen oder lyrischer zu sein in diesem Buch. Und er hat dann „Bollywood-Prinz“ zu mir gesagt, weil die Bollywood-Filme auch so viele Farben und Bewegung usw. haben.

Worum geht es in Ihrem nächsten Buch?

Es heißt „Deine Zukunft ist meine Zukunft“. Ich habe ein Jahr an der Universität in Amsterdam unterrichtet. Meine Mutter war ganz stolz, dass ich das gemacht habe.

Endlich ein ordentlicher Beruf!

Ja, ja, ja. Und da habe ich mit Studenten mit Migrationshintergrund oder Flüchtlingshintergrund zusammengearbeitet. Ich habe viel mit ihnen geredet und sie viel gefragt, und mit vieren habe ich eine ganz gute Clique gehabt. Ihre Geschichten sind so groß, so rührend, auch so voller Hoffnung und auch so stark. Ich habe sie gefragt, ob wir Interviews machen können, damit ich sie aufschreiben kann. Es ist also doch ein Non-Fiction-Buch geworden, aber ich habe nur ihre Geschichten aufgeschrieben, sie durcheinanderfließen lassen, und das ist sehr schön geworden. Und es grenzt auch an die Geschichte meiner Mutter. Auch sie musste viel aufgeben. Und auch die Eltern dieser Studenten mussten viel aufgeben. Der Vater von Heba, einer Studentin aus Syrien, hatte dort zwei Krankenhäuser. Er hat beide verloren. Eines wurde vom Regime eingenommen, das andere von der Isis. Sie sind lange dort geblieben, sie haben auf dem Boden operiert und so, und dann sind sie in die Niederlande gekommen und dort hieß es, seine Diplome sind nicht gültig. Da hat er zu seiner Tochter gesagt: Deine Zukunft ist jetzt meine Zukunft. Das ist einerseits sehr schmerzlich. Aber ich glaube, dass ich dann verstanden habe, wieso ich dieses Buch machen wollte. Auf irgendeine Art und Weise fühle auch ich mich immer noch nicht frei, weil meine Mutter und ihre Familie so viel aufgeben mussten, so viel Armut gekannt haben. Das habe ich alles auch in mir. Man soll das nicht wegwerfen. Und meine Zukunft ist auch die meiner Mutter.

Weshalb ging ihre Mutter 1969 in die Niederlande?

Sie wollte arbeiten. Sie wollte eigentlich nicht zu lange bleiben, nur etwas von der Welt sehen. Aber man hat ihr ein Angebot gemacht, eine Ausbildung zur OP-Schwester zu machen, und dann musste sie länger bleiben. Sie dachte: O.k., dann mache ich das noch und gehe dann zurück. Aber dann hat sich mein Vater in sie verliebt, in der Bibliothek. Sie lernte dort die Sprache, er arbeitete dort als studentische Hilfskraft. Deswegen bin ich schlussendlich Schriftsteller geworden. Denn wenn man sich in der Bibliothek verliebt, bekommt man Kinder, die gerne lesen. Das ist meine Theorie, aber vielleicht ist das auch der Bollywood-Prinz, der da aus mir spricht!

Die Niederlande verfolgen eine eher harte Flüchtlingspolitik. Macht Ihnen das Sorge?

Ja, das macht mir schon Sorge. Aber ich versuche auch die guten Dinge zu sehen. Es gibt schon Chancen, und eigentlich möchte man ein anderes Narrativ erzählen. Ich möchte nicht naiv sein. Die Menschen haben so viel Angst. Aber wenn man die Geschichten von Omar, Heba, Pouya und Mohamad in „Deine Zukunft ist meine Zukunft“ liest, dann sind das alles Geschichten von Hoffnung. Das sind keine Geschichten von Gefahr. Natürlich muss man viel tun. Deswegen mache ich zum Beispiel auch freiwillige Arbeit mit Jugendlichen, damit sie ihr Leben wieder auf die Reihe bekommen. Das sind nicht unbedingt, aber schon oft, Jugendliche mit keinem westlichen Hintergrund. Und dann sieht man, was man mit ganz kleinen Dingen manchmal erreichen kann. Es gibt so viele Leute, die es alleine tun müssen und es überhaupt nicht alleine tun können. Ich glaube, wenn die Politik es nicht macht, dann sollen die Bürger es selbst machen. Ich glaube sehr an die Partizipation, an die Kraft der Bürger, die Bürgerkraft. Das ist das Schönste, was man spüren kann, dass Du wirklich jemandem helfen kannst ­– dann helfe ich nicht mit Geld, aber mit Zeit, mit Lösungen, Mitdenken und Mitfühlen.

Was genau machen Sie da, was ist das für ein Projekt?

Bei uns können sich Jugendliche bis 26, die Probleme haben, beim Jongerenloket Rotterdam melden. Das sind verschiedene Probleme: Sie gehen nicht mehr in die Schule, haben keine Arbeit, sie haben Schulden. Und dann schaue ich, was man tun kann. Oft bedeutet das, jemandem eine Arbeit zu suchen oder die Schulen durchzuschauen, sie ernst zu nehmen. Oft sind sie sozial, emotional nicht reif, und manchmal heißt es einfach auch, miteinander zu essen, sich in der Stadt zu treffen. Am Nachmittag zum Beispiel esse ich ein Eis mit Mohammed, einem 25-jährigen Burschen, dem ich das letzte Jahr geholfen habe. Man kann wahnsinnig viel tun.

Haben Sie Sorge vor einem Rechtsruck in Europa?

Nein, ich glaube in den Städten wird es nicht dazu kommen. Denn die ganz rechte Antwort ist keine Antwort und keine Lösung. Und man muss schon eine Lösung haben. Ich glaube schon, dass man genau in dieser Zeit viel Geld investieren muss, und dann kann man nicht sagen: Das Geld geht nicht mehr zu den alten Leuten und in Bildung und Schule, sondern zu den Flüchtlingen. Sie sind auch ein Teil unserer Gesellschaft, und man soll in alles investieren. Wenn man es nicht jetzt macht, ist der Preis später so viel höher, werden wir uns so viel mehr schämen, dass wir das damals nicht getan haben.

Sie schrieben am Anfang unter Pseudonym? Weshalb?

Ja, weil ich mich so jung gefühlt habe, und nicht so in dieser literarischen Welt zuhause. Zwischen Harry Mulisch und mir waren Lichtjahre. Aber es hatte sonst keinen anderen Grund. Es war mehr ein Spiel, aber das ist schon eine Weile her.

Ab wann haben Sie dann unter Ihrem eigenen Namen geschrieben?

Ich habe zweimal mein Debüt gemacht: 2004 unter einem anderen Namen, und dann 2005 unter meinem eigenen Namen. Der Bollywood-Prinz debütiert zweimal.

Sie haben zwei Kinder. Wie bringt man Kinder, Jugendliche heute noch zum Lesen, zur Literatur?

Ich habe es noch einfach, weil meine Kinder im Vorlesealter sind. Wir lesen jeden Abend. Wir haben alle Bücher von Roald Dahl gelesen. Astrid Lindgrens „Ronja“. Sie beten fast darum, dass ich weiterlese. Das Vorlesen darf man nicht überspringen. Damit fängt die Liebe zur Literatur an, auch die Konzentration, weil es auch eine Gabe ist, zuhören zu können. Das darf man nicht vergessen. Das ist sehr wichtig, und das haben auch meine Eltern immer gemacht: vorlesen, aber auch Geschichten erfinden und erzählen. Man fühlt sich verbunden miteinander, in Ruhe auch, und das ist immer etwas Schönes. Und wenn man gute Bücher hat – und es gibt so gute Kinderbücher – dann ist es ein Genuss, zu lesen. Wenn ich sage: Morgen lesen wir weiter, weil es schon spät ist, dann kommt Protest aus dem Stockbett. Beide Kinder schreien: Nein, weiter! Dann lese ich natürlich immer noch ein Stückchen weiter. Aber dieses Gefühl muss man festhalten, das ist schön, und ich hoffe, dass es gelingt.

Besuchen Sie auch Schulen?

Ja, ganz viele, vierzig bis fünfzig pro Jahr. Und es ist herrlich, weil man die Kinder und Jugendlichen zum Lachen kriegt. Man kann erzählen, und sie haben ein ganz anderes Bild von Schriftstellern und Büchern. Das ist außer Schreiben das Schönste.

Was lesen Sie selbst zur Zeit? Sind darunter auch österreichische Autoren?

Benedict Wells, Robert Seethalers „Der Trafikant“ und „Ein ganzes Leben“ – das hat mir sehr gut gefallen, das ist großartig. Bernhard Schlinks „Olga“ lese ich gerade. Elfriede Jelinek habe ich natürlich gelesen. Ich versuche schon, auf dem Laufenden zu sein. Man hat immer zu wenig Zeit, aber ich lese schon ein Buch pro Woche, keine Sorge!

Wie kommt es, dass Sie so gut Deutsch sprechen?

In den Niederlanden lernt man es in der Schule. Und ich habe zehn Jahre in Südtirol gewohnt. Meine Freundin ist von dort.

Sie arbeiten auch als Journalist, Programmmacher, Kolumnist und Moderator?

Gestern habe ich eine Talk-Show präsentiert. Das ist eine monatliche Live Talk Show, in der es um Kunst und Kultur geht, um Architektur und Bildung, Segregation und Themen, die in einer Stadt spielen. Die Show fängt immer mit einer Ode von mir an jemanden aus der Stadt an. Gestern war das ein Müllmann, mit dem ich einen Tag mitgefahren bin. Und diese Texte, 60 Oden, aus den letzten fünf Jahren hat mein niederländischer Verleger gesammelt und die werden auch in deutscher Übersetzung erscheinen. Das freut mich wahnsinnig, denn das habe ich nicht erwartet, weil die Texte ja doch von Rotterdam handeln. Aber sie haben gefunden, dass es zwar um Menschen in Rotterdam geht, aber dass diese Menschen überall leben können. Es geht um die Schönheit von Alltagsgeschichten. Das müssen keine bekannten Menschen sein. Und ich habe versucht, so literarisch wie möglich zu erzählen, dass man diese Texte auch in zehn, dreißig Jahren noch lesen kann, dass man sie überall lesen kann. Aber ich moderiere auch ein literarisches Programm, „Boek & Meester“ (zu Deutsch: „Buch und Meister“, Anm. d. Red.), da interviewe ich Kollegen.

Welche ist Ihre prägendste Kindheitserinnerung?

Die Ruhe, die man hatte, die Freiheit, zu spielen. Ich war ein Draußen-Kind, habe immer draußen gespielt, und dann die Stimme meiner Mutter, die weit trägt, immer noch, so weit, dass ich sie beim Schreiben hören kann: „Ernest, Essen!“ Dann wusste ich, dass jetzt wieder etwas zu Ende ist. Aber diese Freiheit kombiniert mit der Stimme meiner Mutter – das ist fast symbolisch, das hat mein Leben geprägt.

Was bedeutet Glück für sie?

Tun können, was man will. Schreiben, Zeit haben. Und auch die klischeehaften Dinge wie gesund zu bleiben, dass die geliebten Leute, die man gern hat, im Leben bleiben. Heute habe ich das Bild eines Dichters, der vor zwei Monaten gestorben ist, im Internet gescrollt, und da habe ich wieder Bauchweh gehabt und gedacht: Wieso, wie ungerecht, wie ungerecht, wenn diese Menschen dann nicht mehr sind. Ich kann sie nicht mehr anrufen oder hören, keine neuen Gedichte mehr von ihm lesen, und er war so gut. Das macht traurig.

Ernest van der Kwast wurde 1981 als Sohn einer Inderin und eines Niederländers in Bombay geboren und wuchs in Rotterdam auf. In seiner Jugend warf er den Diskus. Er hatte mehrfach unter Pseudonym veröffentlicht, ehe ihm 2010 mit „Mama Tandoori“ der Durchbruch in den Niederlanden gelang. Bei uns erschienen bisher auch „Die Eismacher“ und „Fünf Viertelstunden bis zum Meer“. Nach zehn Jahren in Südtirol lebt er heute mit seiner Familie wieder in Rotterdam.

Ernest van der Kwast, „Mama Tandoori“, btb
Übers. v. Andreas Ecke, 240 S.

Ernest van der Kwast, „Die Eismacherin“, btb
Übers. v. Andreas Ecke, 400 S.

Foto: Adrian van der Ploeg