Eine Melange und ein Pain au Chocolat: Ilija Trojanow, 58, bittet in der Nähe seiner Wohnung im Wiener Servitenviertel in ein Frühstückscafé.  Foto: Thomas Dorn.


Der Weltliterat und »Weltensammler« hat gerade den Roman »Tausend und ein Morgen« herausgebracht. Auf über 500 sprachlich gewitzten und originell gesetzten Seiten macht die »Chronautin« Cya Raumzeitreisen an Wendepunkte der Geschichte. Ein Gespräch über die Notwendigkeit von Utopien.

Buchkultur: Herr Trojanow, dieses Interview steht in unserer Österreich-Ausgabe. Sie leben in Wien. Sehen Sie sich als österreichischen Literaten?

Ilija Trojanow: Gerade war ich in Albanien, da haben drei verschiedene Leute behauptet, ich sehe aus wie ein Albaner. Kein Problem, dann bin ich eben bulgarisch-kenianisch-deutsch-indisch-österreichischer Albaner!

Beeinflusst Sie die österreichische Literatur?

Als Jugendlicher habe ich täglich Georg Trakl gelesen. Joseph Roth ist einer der größten Romanciers überhaupt. Wer die deutsche Sprache liebt, kommt an der österreichischen Literatur gar nicht vorbei. Sie ist im Vergleich zur Größe des Landes wahrscheinlich die stärkste, die es gibt.

In »Tausend und ein Morgen« spielt der Begriff des Möglichkeitssinns eine große Rolle. Da musste ich natürlich an Robert Musil denken.

An Musils »Mann ohne Eigenschaften« kann man schon anknüpfen, weil er die klassische Vorstellung dessen, was ein Roman ist, ausdehnt. Heute findet eher eine Verengung des Romanbegriffs statt, als Nacherzählung von Leben. Da finde ich eher wie Musil, dass der Roman uns am besten erlaubt, die Komplexität von Realität abzubilden. Romane sind Feststuben der Fantasie. Der Roman kann in einem geschützten und gleichzeitig verführerischen Raum des Fiktionalen durchspinnen, was sein könnte, um den Menschen aus dem Gefängnis des real Existierenden zu befreien.

Sie bezeichnen sich als Utopisten. Wollen Sie mit Ihrem Buch Hoffnung machen?

Hoffnung ist ein Gefühl, mir geht es um Gestaltungsmöglichkeiten. Wir haben in den letzten Jahrzehnten eine rasante technologische Entwicklung erfahren. Gemessen daran ist die Entwicklung unserer sozialen Strukturen fast nicht vorhanden. Diese verschiedenen Geschwindigkeiten halte ich für gefährlich. Die Menschen klammern sich an das, was sie kennen, während die Herrschaft behauptet, es gebe keine Alternativen.

In Ihrem Roman ist die Utopie weitgehend Realität.

Ja, eine Art Kondensat des Humanen, Gerechten und Schönen ist in meinem Buch im Großen und Ganzen verwirklicht. Als aber jemand stirbt und wahrscheinlich umgebracht worden ist, stellt das die Figuren vor große Herausforderungen, weil sie sich nicht zurücklehnen und auf institutionelle Strukturen wie die Polizei verlassen können. So muss sich also auch die halbwegs verwirklichte utopische Welt immer wieder neu justieren.

Kehren die Figuren deshalb immer wieder in die Vergangenheit zurück und versuchen, Veränderungen auszulösen?

Der Grund ist eher ein literarischer. Der ganze Roman ist ja ein mit Augenzwinkern geschriebenes Denkspiel. Mir gefiel der Gedanke, dass Leute aus der Utopie in unsere Vergangenheit reisen und verblüfft sind von Dingen, die uns alltäglich erscheinen. Das regt die Lesenden wiederum zum Nachdenken an.

Ihr Sportinteresse ist bekannt, Sie beschreiben es in »Meine Olympiade«. Aber warum reisen Ihre Protagonist/innen ausgerechnet zu den Spielen 1984 in Sarajevo?

Zwischen dem sehr dramatischen Indien-Kapitel und der Reise in die Zeit der Russischen Revolution suchte ich was Lockeres, Leichtes. Da las ich, dass in Sarajevo das Verhältnis Funktionäre zu Athleten drei zu eins betrug. Funktionäre vor 1989 hieß: Spione. Bei diesen Spielen in diesem blockfreien Staat wimmelte es also vor Spionen beider Seiten! Das hat mich amüsiert.

Und wieso eingangs die Piraten?

Bei der Rückschau auf die Piraten machen wir immer den Fehler, unsere rechtsstaatliche Ordnung vorauszusetzen. Sie müssen schlecht gewesen sein, weil die, die sie bekämpft haben, gut waren. Aus damaliger Sicht aber waren uns die Piraten aber viel näher. Die Herrschaft war totalitär, das Leben der Matrosen ein Horror. Die Piraten hatten Basisdemokratie, die erste Gesundheitskasse, sogar gleichgeschlechtliche Liebe. Deshalb identifiziert sich die Raumzeitreisende eher mit ihnen. Hätte ich damals gelebt, ich wäre Pirat geworden.

Am meisten Spaß bei der Lektüre bereiten die Kommentare des Mediums GOG, das alles weiß. Aber auch GOG büßt im Laufe der Zeit an Verlässlichkeit ein. Ist das Ihr Beitrag zur KI-Debatte?

Die KI hat den Schach- und den Go-Weltmeister geschlagen, Daten verarbeitet sie schneller als wir. Was bleibt uns noch? Als Schriftsteller fällt mir da natürlich das Erzählen ein. Worin besteht es? Aus Fantasie, Sprachwitz und Humor. Deswegen hat GOG im Roman ein Bedürfnis, sich den Menschen anzunähern, indem es diese drei Dinge erfüllt. Aber auch das geschieht natürlich sehr spielerisch. Die KI-Diskussion kommt sonst ja sehr gewichtig daher, aggressiv antagonistisch: Wird sie uns unterwerfen? Man könnte ja auch fragen: Was sind ihre Stärken, was unsere, und wie kann man konstruktiv zusammenleben?

Heute sind Dystopien ja viel weiter verbreitet.

Ein Ausdruck von Denkfaulheit, nichts leichter als das: Der Sommer war heiß, ich addiere im Kopf zehn Grad, fertig ist die Dystopie. Außerdem verkauft sich Negatives besser. Die Dystopie führt aber nur zu Apathie und Paralyse. Seit meinem Roman »Eistau« verfolge ich alle Warnungen zum Klimawandel und habe nicht den Eindruck, dass sie etwas verändern.

Wie können Utopien gelingen?

Es geht darum, Fenster zu öffnen und hinauszufliegen. Heute herrscht ein Übergewicht des Gegenwärtigen. Dinge werden anhand ihrer unmittelbaren Dringlichkeit angegangen. Machen wir stattdessen die Augen zu und stellen uns vor, was wir erreichen wollen.

Letztes Jahr haben Sie in Ihrer Eröffnungsrede das Sponsoring der Salzburger Festspiele kritisiert. Wussten die Veranstalter, was auf sie zukommen würde?

Unser System funktioniert bekanntlich so: Jemand wie ich ist dazu da, in einem großen Theater die Rolle des kritischen Intellektuellen zu spielen. Das leistet man sich. Danach kommen also alle Großkopferten und erklären einem, wie toll die Rede war. Das ist normal, eine Choreografie der aufgeklärten Öffentlichkeit. Das ist bitter, aber der erste Schritt zum Utopischen ist, sich keine Illusionen zu machen.

Kürzlich wurde Wien wieder einmal zur lebenswertesten Stadt der Welt, kurz danach Österreich von Expats zum unfreundlichsten Land gekürt. Was sagt der Weltensammler dazu?

Zweiteres würde ich nicht überbewerten, die meisten Expats treffen doch gar keine Österreicher, die bleiben in ihrer Blase. Dass Wien so lebenswert ist, hat einerseits mit der unglaublichen kulturellen Tiefe der Stadt zu tun – hier eröffnen ständig neue Buchhandlungen! –, aber auch mit leistbarem Essen und damit, dass es dank der utopischen Ära des Roten Wien hier die meisten Gemeindebauten der Welt gibt. Nimmt man das alles weg, ist Wien eine nette Einkaufsmeile. Der Unterschied zwischen Wien und Dubai sind Kultur und Utopie!


Ilija Trojanow, 1965 in Sofia (Bulgarien) geboren, ist deutscher Verleger, Übersetzer, Schriftsteller und Kosmopolit. 1971 erhielt er in Deutschland politisches Asyl, 1972 zog die Familie weiter nach Kenia, später lebte er in Paris, München, Mumbai und Kapstadt. Heute wohnt Trojanow in Wien. Viele seiner Romane (»Der Weltensammler«, Hanser) sind Bestseller, zuletzt erschienen: »Doppelte Spur« (S. Fischer).

Ilija Trojanow
Tausend und ein Morgen
S. Fischer, 528 S.