»Kathedralen« der Argentinierin Claudia Piñeiro ist weit mehr als ein Familienkrimi. Foto: Alfaguara


Ana, die jüngste von drei Schwestern, ist tot. Ihre Leiche wurde auf einem unbebauten Grundstück gefunden, verbrannt und zerstückelt. 30 Jahre später ist die Tat immer noch nicht aufgeklärt, und über Hergang, Motiv und Täter wird noch immer gerätselt.

Piñeiro bringt sechs verschiedene Stimmen ins Spiel, und diese Polyphonie macht deutlich, wie dramatisch die Auswirkungen der Tat immer noch sind. Lía, die mittlere der Schwestern, schickt zwar weiterhin Briefe an ihren Vater, hat aber ansonsten den Kontakt zur Familie abgebrochen und lebt jetzt im spanischen Santiago de Compostela. Ein Neffe tritt ebenfalls auf, dazu die älteste Schwester und ihr Ehemann, ein Freund von Ana und auch der Gerichtsmediziner, der seinerzeit die Autopsie durchgeführt hatte.

Der große zeitliche Abstand zwischen Tat und Erzählung schafft Distanz: Es geht hier nicht um Ermittlungen, also den klassischen Inhalt eines Krimis, sondern um das Nachdenken darüber, was der Mord ausgelöst hat. Lía bekennt an einer Stelle, dass sie seit 30 Jahren nicht mehr an Gott glaube. Die jeweilige Haltung zum Glauben ist auch eines der Leitthemen des Romans, und die jeweils unterschiedlichen Haltungen, die von religiösem Fanatismus bis zum klaren Atheismus reichen, enthüllen im Laufe der Erzählung die Konflikte, die zum Zerbrechen der Beziehungen und zu der Familienkatastrophe geführt haben.

Piñeiros »Kathedralen« ist ein raffiniertes Gesellschaftsstück, das, trotz der Konzentration auf psychologische Elemente, äußerst spannend zu lesen und hervorragend übersetzt ist.

Claudia Piñeiro
Kathedralen
Ü: Peter Kultzen
Unionsverlag, 320 S.