Mit ihrem neuen Roman »Wovon wir leben« kehrt Birgit Birnbacher ins »Innergebirg«, ihre alte Heimat, zurück. Foto: Siegrid Cain.
Wie auch ihre Protagonistin Julia Noch: Plötzlich arbeitslos geworden verschlägt es sie wieder heim zum alten Vater, wo sie sich zugleich mit ihrem alten Leben und ihrer Zukunft konfrontiert sieht. Im Interview erzählt die Autorin von ihrer eigenen Arbeit, ihren Schreiborten, vom effekthascherischen Literaturbetrieb und von Halbwahrem.
Buchkultur: Zuerst noch etwas zum alten Buch: Ist das für Sie, nachdem sie es geschrieben haben, abgeschlossen? Geistert Arthur aus »Ich an meiner Seite« noch immer durch ihr Bewusstsein?
Birgit Birnbacher: Natürlich ist so ein Buch nach zig Lesungen irgendwann für einen selbst auch kaputtgelesen und zerredet. Wäre ja auch schlimm, wenn man hundert Mal das gleiche liest und sich selbst dabei immer wieder gefällt.
Wissen sie übrigens, wie es in »Ich an meiner Seite« weitergeht? Das war doch eindeutig ein Happy End, oder? Glauben Sie an Happy Ends?
In solchen Begriffen denke ich nicht, im Leben nicht und in der Literatur erst recht. Wenn ich glauben würde, dass irgendetwas endgültig ist, müsste ich ja nicht schreiben.
So, und jetzt zum Neuen: »Wovon wir leben«, und da gleich einmal ans Ende: Das ist ja nicht wirklich ein Happy End? Jedenfalls ist es überraschend, ein Hammer. Wussten Sie das schon von Anfang an oder kam dieses Ende erst mit dem Schreiben?
Am Anfang hab ich zwei Themen gehabt: Atmung und Arbeit. Ich wusste nur, dass es darum gehen muss. Mir war zu Beginn gar nicht klar, wie nah die beiden Themen zusammenstehen, dass beides uns am Leben erhält, das eine eben körperlich-biologisch, das andere gesellschaftlich-sozial. Ein Ende war da natürlich nicht absehbar. Das war ein Vorantasten. Ich habe wenig nach links und rechts geschaut. In dem Buch begegnen einander zwei Menschen, die angeschlagen sind und plötzlich sehr viel Zeit haben. Sie haben Gelegenheit, sich neu zu orientieren. Eigentlich möchte man meinen, dass das ähnliche Voraussetzungen sind, aber es verhält sich natürlich anders. Arbeit, Pflege, Care-Arbeit, Familie – ich habe auf all diese Begriffe bewusst verzichtet. Oft wird Vieles davon aus einer abgehobenen Perspektive diskutiert und dann werden laut Appelle hinausgebrüllt, dass alles anders werden muss, und alle applaudieren sich gegenseitig, weil sie auf der richtigen Seite stehen. So etwas interessiert mich überhaupt nicht. In der Frage, wie wir zukünftig arbeiten wollen, geht es hauptsächlich darum, wie wir leben wollen. Die Arbeit soll uns, den Privilegierten, die gerade keine anderen Probleme haben, erfüllen und glücklich machen, soll uns Zeit lassen und nicht stehlen. Das Pensum der unbezahlten Arbeit ist aber schwer zu reduzieren. Hier stehen wir vor einem Konflikt, der auch ein Konflikt der Beziehungen, der Paare, der Familien und Generationen ist. Das Ende ist also nur konsequent. Um bei einem mehrfach erwähnten Bild aus dem Roman zu bleiben: Wer wird sie wohl auslöffeln, die alte und ewige Suppe?
Wie geht’s da weiter? Ist Ihnen das einen Gedanken wert oder ist mit dem Ende des Buchs sowieso alles aus und vorbei?
Was heißt einen? Viele! Wenn Sie meine persönliche Meinung zur Zukunft der Arbeit hören wollen, muss ich vorausschicken, dass ich selbst in der Lebenssituation bin, dass ich trotz einer ungefähr 50:50 Aufteilung mit meinem Mann und natürlich institutioneller Kinderbetreuung, meinen Beruf nicht ausüben könnte, würde nicht zusätzlich noch meine Mutter viel von Haushalt und Kindern übernehmen. Es ist also nicht die städtische Infrastruktur und nicht das Betreuungsmodell, das mir meine Berufstätigkeit wirklich ermöglicht, sondern wieder eine Frau, die bereits selbst, damals, von ihrer Mutter unterstützt worden ist, und so geht es halt immer weiter und so ist es normal geworden und gilt weiterhin als normal und wird im Privaten ausgefochten, wo es nicht hingehört, wo es aber nun einmal ist. Häufig hören wir dann das Argument, dass jemand etwas aus Liebe tut. Unsere neue Arbeit, wie wir sie heute erträumen, wollen wir aber auch, wenn nicht aus Liebe, zumindest aus Begeisterung tun. Hier besteht ein Ungleichgewicht, das uns alle ins Wanken bringt, wenn wir von geglückten Lebensmodellen reden, und was wir uns von ihnen erwarten können. Dass wir einfach alles institutionell regeln und fair verteilen, damit allein wird es nicht getan sein, weil wir alle, gleich welchen Geschlechts, ja nicht nur Fürsorgepflichten, sondern auch Bedürfnisse haben. Ich meine also, dass alle Verteilungsfragen sinnlos sind, wenn wir nicht die unbezahlte Arbeit mitdenken.
Nach »Wir ohne Wal« sind sie also in »Wovon wir leben« wieder in Ihre Heimat zurückgekehrt, die aufgelegte Frage ist: Da sind doch Spuren von selbst Erfahrenem, selbst Erlebtem mit drinnen. Die Landschaft, die ja doch eine große Rolle spielt, ist das rund um Schwarzach? War dieses Buch, oder besser: das Thema dieses Buches immer schon da, oder haben Sie das erst nach »Ich an meiner Seite« hervorgeholt?
Ja, es ist die Landschaft rund um Schwarzach!
Ich habe zwei Manuskripte über dieses Thema geschrieben, die anderswo verortet waren. Ich wollte nicht autofiktional werden. Nur haben diese Vorhaben nicht funktioniert, weil sie zu weit weg waren vom Eigentlichen. Das war ein bisschen so, wie wenn ich von Berlin aus beschreibe, wie in Goldegg eine Ziege schreit. Leider muss ich zugeben, dass ich zwei oder mehr Jahre gebraucht habe, um zu verstehen, dass ich nach Goldegg muss, um zu sehen, wie es ist, wenn in Goldegg eine Ziege schreit. Das ist ja nicht immer so beim Schreiben. Aber diese Themen haben das verlangt.
Zu Ihrem Leben: Leben sie jetzt als freie Schriftstellerin oder doch noch immer auch als Soziologin, und dazu auch noch als Mutter? Wie schaut das aus, mit dem Raum für sich allein, den Virginia Woolf für schreibende Frauen fordert?
Ich lebe schon vom Schreiben, aber nur, weil ich mit wenig auskomme und sehr viel arbeite, wenn meine Betreuungspflichten- und Bedürfnisse es zulassen. Auch eine ganz kleine Anstellung als Sozialarbeiterin habe ich immer noch. Dort treffe ich Kolleg/innen und Menschen, von denen ich sonst nicht wüsste, dass es sie gibt. In dieser Arbeit erfahre ich den Sinn, der mir im Literaturbetrieb manchmal abhandenkommt. Mit meiner Familie lebe ich in Salzburg und im 16. Bezirk in Wien habe ich ein kleines Arbeitszimmer. In der Theorie sollten dort nur meine Schreibsachen gehortet und Manuskripte gestapelt werden, in der Praxis steigt man aber derzeit über Babyschnuller und Beistellbett. Zuhause zeichnet mein Sohn auf die Rückseiten der abgegebenen Manuskriptseiten. Was soll ich sagen? Er zeichnet gut. Einen Elfenbeinturm wird es nie geben für mich.
Mit »Ich an meiner Seite« standen sie an der Spitze der ORF-Bestenliste und auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Sind Sie als Schriftstellerin selbstbewusster geworden? Vor zwei Jahren, bei unserem letzten Mail-Verkehr hat es noch geheißen: » … auch heute weiß ich ja überhaupt nicht, was ich da eigentlich tue oder wo das einzuordnen ist.«
Niemand stirbt ja und denkt: Wie schön, dass ich im Mai im Jahre Stroh die ORF-Bestenliste angeführt habe. In meinem Leben gibt es genügend Gelegenheiten, die mich fest auf dem Boden bleiben lassen. Im Literaturbetrieb kommt mir manchmal alles so aufgepudelt und effekthascherisch vor. Alle wollen immer Applaus, aber kaum jemand applaudiert noch gern. Wenn ich mich frage, was ich hier mache, ist das also nicht unbedingt nur ein Selbstbewusstseinsproblem.
Dieser Julia Noch in »Wovon wir leben« stehen Sie kritischer gegenüber als Arthur in »Ich an meiner Seite«. Vor allem in der Konfrontation mit Oskar, dem Städter, dem immer alles gelingt. Sie ist die Zerrissene, alles Hinterfragende, »Ein Stumpf ohne Wurzeln und Blätter«, dabei auch voll von Selbstmitleid. Schon allein dadurch, dass Julia so alt ist wie Sie, geheimnist man unwillkürlich Autobiografisches hinein, oder besser: Es scheint so zu sein, dass einiges von Ihnen in dieser Julia schlummert.
Julia Noch ist ein Mensch des 21. Jahrhunderts, wie es ihn häufiger gibt. Sie liebt ihre Arbeit und definiert sich über sie. Sie ist Krankenschwester, da wo sie herkommt, sagt man nicht Gesundheits- und Krankenpflegerin. Sie führt das ganz normale Leben einer Vollzeitkraft, der nach vierzig Stunden Arbeit gerade noch genügend Kopf für Internet und Konsum bleibt. Als sie ihre Arbeit verliert, verliert sie erst einmal alles, außer ihre Familie, was nicht unbedingt nur Gutes heißt. Aber sie ist klug, und weil sie klug ist, durchbricht sie das moralische Generationenerbe. Was das Autobiografische betrifft: Ich kenne den Pflegeberuf gut, denn ich habe rund zehn Jahre Menschen mit teilweise schweren Behinderungen betreut. Auch die Vollzeitarbeit habe ich früh kennengelernt. Mit 15 war ich Lehrling in einer Augenoptikerwerkstatt. Die Werkstatt war schön, alles andere weniger. Es genügte aber, um zu beobachten, was die Zeit mit einem macht, wie wenig da übrig bleibt für den ganzen Rest, das eigentliche Leben. Während meiner Lehrzeit habe ich viel über Zeit nachgedacht, ich habe das inzwischen in diversen Essays immer wieder beschrieben. Und so war die Zeit auch jetzt wieder eines der spannendsten Themen an diesem Text, vielleicht die eigentliche Hauptfigur, für mich: Was macht das mit diesen zwei sehr unterschiedlichen Menschen, wenn sie plötzlich unglaublich viel Zeit haben. Was geschieht mit ihren Tagen, ihren Plänen, ihrem Denken. Das ist ja auch eine Erfahrung, die viele von uns in der Pandemie gemacht haben: Plötzlich habe ich unendlich viel Zeit und ich tue immer noch den gleichen Blödsinn wie sonst auch. Aber warum eigentlich? Und was brauche ich, um was anderes zu machen, oder gar alles zu verändern? Sicherheit oder Freiheit, Besinnung oder Kohärenz? Diese Fragen fand ich interessant. Eine Art Fun-Fact ist außerdem: bevor ich Behindertenbetreuerin wurde, wollte ich auch einmal Krankenschwester werden. Ich erinnere aber, dass sie mich nicht aufgenommen haben. Meine Familie erinnert, dass ich nicht mehr wollte. Um sowas geht es auch in dem Buch: Das Halbwahre. Wer über den Beruf, das Werden, die Identität nachdenkt, ist permanent mit Halbwahrem konfrontiert. Jedenfalls habe ich im Leben schon öfter den Beruf gewechselt und erst mit 25 begonnen, zu studieren. Da habe ich schon drei Berufe gehabt und dachte immer, wie luxuriös das ist, so viel Zeit für zum Beispiel Lektüre zu haben. Für mich war das der reinste Genuss. Überhaupt, das Herumsitzen immer! Heute geht es mir ein bisschen so mit dem Literaturbetrieb. Es wird viel gejammert, Privilegien werden von den Autochthonen nicht erkannt.
Ironie und eine gewisse Zuneigung habe ich in »Ich an meiner Seite« gespürt, diesmal sind es andere Gefühle, habe ich den Eindruck. Eher Sarkasmus als Ironie und mit Zuneigung tut sich Julia schwer, am ehesten scheint es ihr bei der Mutter zu gelingen. Bei Oskar, dem Städter lässt sie ihr Gefühl nie voll und ganz heraus, ungebremst äußert sie es nur der Ziege gegenüber.
Julia und Oskar begegnen einander, beide ohne Arbeit. Sie kann nicht mehr, er will nicht mehr. Man könnte meinen, sie haben ähnliche Voraussetzungen, aber mit der Zeit stellt sich heraus, dass das überhaupt nicht stimmt. Beide haben zum ersten Mal im Leben sehr viel Zeit. Das verändert sie, aber beide in unterschiedliche Richtungen. Nicht nur, dass Oskar eine komplett sorglose Einstellung seiner Zukunft gegenüber hat – auch nimmt er seine familiären Pflichten, sofern sie überhaupt in sein Bewusstsein rücken, so gut wie gar nicht wahr. Sie, Julia, kann sich hingegen länger nicht damit abfinden, ihr Arbeitsleben lang lieber Fremde gepflegt zu haben als die eigenen Familienmitglieder, wo sie es ausgerechnet jetzt dringend bräuchten. Sie will sich wehren, will zu einem Schluss kommen, aber muss Opfer bringen, die auch Oskar treffen.
Sie setzen Ereignisse ins Geschehen, die etwas Dramatisches, Willkürliches, Unerwartetes haben, Sie lassen das Geschehen nicht einfach so dahindümpeln: der Wirt, der sein Haus beim Spielen verliert – und das an den Städter! Das stinkende tote Pferd. Und gleich in der Ausgangssituation die Verwechslung der Namen, dann der Vater, der sich höchstwahrscheinlich selbst verletzt … Das war ja auch in »Ich an meiner Seite« so, dass sie Dramatik in die Prosa gebracht haben.
Das sind die ganz normalen Geschichten aus dem Innergebirg, die kann man nicht verschweigen, wenn ein Roman dort spielt. Dass immer gesoffen und gespielt wird, ist ja nichts Neues. Dass Kleinvieh weniger wert ist als großes, auch nicht und dass Frauen, egal was sie tun, tendenziell einmal abgewertet werden, auch. Aber abgesehen davon: Literarische Motive sind mir wichtig. Eine Ziege, die nicht mehr aufhört zu schreien, trug ich lange mit mir herum, ohne zu wissen, was das soll. Ich schrieb ein langes Manuskript, das zum Glück in die Tonne gewandert ist. Nur die Ziege ist geblieben. Und klar kommt sie nicht von ungefähr: Ich habe das gesellschaftliche Klima, im dem ich aufgewachsen bin, als extrem rücksichtslos und nachlässig erlebt, das spiegelt sich natürlich auch in der Sprache. Rücksichtslos gegenüber der eigenen Person, aber auch anderen, rücksichtslos gegenüber Mensch und Natur. Nur habe ich mich lange gewehrt, nachhause zurückzukehren, wie das jetzt alle machen. Ich wollte nie einen Roman schreiben, der im Innergebirg spielt. Jetzt ist es anders gekommen und er spielt eben da, wo er hingehört: im tiefsten Innergebirg, im Schatten vom (nicht des) Heukareck(s).
Das »Dramaturgische« hingegen kommt mir schnell wie eine Verrenkung vor. Die ausgetüftelten Überlegungen, ob etwas ja auch realistisch genug wirkt – so etwas interessiert mich überhaupt nicht. Ein Testleser hat mich gefragt, ob ich die Liebesgeschichte nicht ein bisschen weniger vorhersehbar machen möchte. Ich verstehe diese Frage, aber so etwas kommt mir nicht in den Sinn. Bei sowas würde ich mich fühlen wie der Pausenclown. Ich schreibe keine »kriegen sie sich, oder nicht« Geschichte. Ich versuche, überhaupt keine Geschichten zu schreiben, sondern mich meines eigenen literarischen Fadens entlangzuhanteln. Wenn das einmal weniger gefällig oder marktkonform sein soll, überlebe ich das vielleicht ökonomisch nicht, aber kann dafür getrost in den Spiegel schauen. Das ist mir wichtiger.
Birgit Birnbacher, geboren 1985, ist Schriftstellerin, Soziologin und Sozialarbeiterin. Ihr Debütroman »Wir ohne Wal« (Jung und Jung, 2016) wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto Stiftung ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt sie zahlreiche Förderpreise und 2019 den Ingeborg-Bachmann-Preis. 2020 erschien bei Zsolnay der Roman »Ich an meiner Seite«. Birnbacher lebt mit ihrer Familie in Salzburg.
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Birgit Birnbacher
Wovon wir leben
Zsolnay, 192 S.