Wie das Rauschen eines Regens: Mit ihrem neuen Roman hat Milena Michiko Flašar ganz große Literatur geschrieben. Foto: Helmut Wimmer.


»Oben Erde, unten Himmel« ist ein Plädoyer für gelebte Mitmenschlichkeit und darf schon jetzt als Glanzpunkt des gerade angebrochenen Buchjahres gelten. Die Geschichte spielt, wie schon ihre letzten beiden, in Japan, wo immer mehr Menschen den »einsamen Tod«, einen »Kodokushi«, sterben. Suzu, die Ich-Erzählerin, ist Leichenfundortreinigerin und selbst prädestiniert, einmal einen solchen zu erfahren. Denn sie kennt nicht einmal ihre Nachbarn. Doch unter der liebenswürdigen, aber energischen Anleitung ihres Chefs, Herrn Sakais, entwickelt sich ihr »soziales Plus«. Das Interview über die Bedeutung von Empathie, was wir wirklich gegen die Vereinsamung unserer Gesellschaft tun können und die letzten Dinge des Seins.

Buchkultur: »Oben Erde, unten Himmel«: Was verheißt uns der Titel Ihres neuen Romans (das wunderbare Bild des Rauschens)? Was hat Sie zu diesem wichtigen und so berührend erzählten Thema geführt?

Milena Michiko Flašar: Begonnen hat eigentlich alles mit dem Begriff »Kodokushi«. Ich bin im Zuge meiner Recherchen darauf gestoßen, und zuerst war ich überrascht, wie konkret dieser Begriff ist. Wortwörtlich aus dem Japanischen übersetzt bedeutet er »einsamer Tod«. Dieses Wort – und das Rohe, das es aufgrund seiner Konkretheit vermittelt – hat sofort eine Geschichte in mir in Gang gesetzt. Da liegt eine Leiche, tage-, wochen-, manchmal monate-, ja sogar jahrelang. Sie verfault. Und niemand merkt’s. Dann aber merkt’s doch jemand (aufgrund des Geruchs oder aufgrund der Fliegen, die plötzlich da sind) und die Leiche muss erstens weggeschafft werden, zweitens muss hinter ihr hergeräumt werden. Wer sind die Leute, die das machen? Die eigene Familie? Wohl kaum! Wenn der Verstorbene eine gehabt hätte, wäre er ja keinen Kodokushi gestorben. Wie einsam muss er gewesen sein? Aus solcherlei Fragen, die immer mehr Fragen nach sich gezogen haben, ist eine erste Kurzgeschichte entstanden, auf deren Grundlage ich später den Roman geschrieben habe.

Der Titel des Buches bezieht sich auf die Vorstellung, dass es einen Punkt gibt, an dem Erde und Himmel aufeinandertreffen. An mehreren Stellen kommen sowohl Suzu, die Hauptfigur, als auch ihr Chef, Herr Sakai, auf dieses Bild vom »Aufeinandertreffen« zu sprechen, und besonders Herr Sakai, der damit auch die Abkehr von seinem bisherigen Leben als Firmenangestellter umschreibt, verwendet es im Sinne einer Neuorientierung. Wo ist oben? Wo ist unten? Der Titel spielt mit den Gegensätzen und verdreht sie gleichsam. Und durch die Verdrehung sollte spürbar werden: Vielleicht lassen sich die Gegensätze ja auch miteinander verbinden? Vielleicht sind sie eins an dem Punkt, an dem sie aufeinandertreffen?

Der Begriff Kodokushi kommt aus Japan. Aber auch bei uns ist die soziale Vereinsamung ein Thema, das spätestens seit der Pandemie vermehrt in unser Bewusstsein gerückt ist. Vor allem zu Beginn starben viele Menschen auch einen einsamen Tod, allein zuhause oder isoliert im Krankenhaus. Die Menschen mussten plötzlich ohne soziale Kontakte auskommen. Haben diese Ereignisse Sie darin bestärkt, sich dieses Themas anzunehmen? Glauben, hoffen Sie noch, dass uns diese Zeit (auch wenn politische Parteien an der Spaltung der Gesellschaft arbeiteten und arbeiten) langfristig gesehen zu sozialeren, mitfühlenderen Menschen, zu einer empathischeren Gesellschaft macht?

Ich befürchte das Gegenteil. Gerade die Pandemie hat (einmal mehr) gezeigt, wie wir Menschen ticken. Kurzfristig erkennen wir die Not, stehen zusammen und rufen zur Solidarität auf. Sobald wir uns an die Situation gewöhnt haben und sie uns allmählich lästig wird, kehren wir jedoch auf unsere bisherigen Plätze zurück und sorgen uns in erster Linie um uns selbst. Mitgefühl und Empathie sind leider keine »Dauerbrenner«. Sie gehen aus, wenn man sie nicht am Brennen hält.

Ob die Pandemie mich darin bestärkt hat, das Buch zu schreiben? Die Idee dazu hatte ich schon vorher. Den Roman schrieb ich dann allerdings tatsächlich in der Lockdown-Zeit. Gut möglich, dass da die eine oder andere Impression miteingeflossen ist. Das Gefühl der Verunsicherung etwa – das Gefühl, alles kann von heute auf morgen komplett auseinanderbrechen – hat mich damals jedenfalls sehr beschäftigt.

Die soziale Isolation betrifft besonders alte Menschen und, durch die Pandemie begünstigt, vermehrt Kinder und Jugendliche (die sich ohnehin in einer sensiblen Lebensphase, der »Einsamkeit des Erwachsenwerdens«, befinden). Wie können wir helfen, Jugendliche aus ihrer Depression »herausholen«?

Sofern es sich um keine klinische Depression handelt, sondern um eine Depression im metaphorischen Sinne, um ein Low bzw. um ein Gefühl der Verlorenheit und Leere, wie es zum Beispiel auch die Hauptfigur meines Buches erlebt, gehört sie möglicherweise zur »ganz normalen« Entwicklung eines Jugendlichen und er muss nicht notgedrungen aus ihr »herausgeholt« werden. Bei der Pandemie handelte es sich aber zweifellos um eine Extremsituation. Über Monate mussten viele ihre Kontakte auf null herunterfahren bzw. verloren sie den Rückhalt ihrer Peers und waren tagtäglich innerfamiliären Konflikten auf engstem Raum ausgesetzt. Auch wenn die Lockdowns eine notwendige Maßnahme waren, rückblickend stellt sich doch die Frage, an welchen Stellen man für mehr Ausgleich hätte sorgen können. Sich Fehler bewusst machen, damit sie in anderen, ähnlichen Situationen nicht noch einmal geschehen, sie offen diskutieren, würde das Vertrauen in die Covid-Politik sicherlich stärken.

Ein wunderschönes Bild: Takadas Sammeln und Verbinden von unzusammenhängenden Wörtern. Was symbolisiert es?

Takadas Sammeln und Verbinden von Wörtern ist sein persönlicher Versuch, in der vielschichtigen und dadurch oftmals chaotisch erscheinenden Welt eine gewisse Ordnung zu schaffen. Seine Notizen sind außerdem der Ausdruck seiner Suche nach Halt und Sicherheit. Aufgewachsen in desolaten Verhältnissen hat er keinen Boden unter den Füßen, und an etwas festzuhalten – auch wenn es nur flüchtige Wörter sind, an denen er sich festhält –, kommt für ihn somit einer Vergewisserung gleich. Schreibend vergewissert er sich seines eigenen Eingebundenseins in die Welt.

Um (mangelnde) Achtsamkeit, Empathie, Mitgefühl und Aufmerksamkeit anderen gegenüber geht es in allen Ihren Romanen. Kann man Empathie, Mitmenschlichkeit lernen? Ist es uns nur so möglich, zu überleben?

Der Geschäftsführer des Restaurants, in dem Suzu, meine Hauptfigur, arbeitet, bescheinigt ihr mangelnde Empathie. Ihr fehle es an dem »sozialen Plus«, meint er, womit er die Fähigkeit bezeichnet, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, und seiner Auffassung nach handelt es sich dabei um ein Talent, das man entweder hat oder nicht hat. Diese Auffassung teile ich nicht. Das »soziale Plus« ist meiner Meinung nach etwas, was man sich zwar vielleicht nicht erwerben kann. Daran arbeiten und es entwickeln kann man, denke ich, jedoch schon.

Die Einsamkeit hat viele Gesichter. Was sind die Gründe für die wachsende soziale Vereinsamung in vor allem westlichen Gesellschaften? Und wie gegensteuern? Wie können wir (als Gesellschaft) aus der Vereinsamung herausfinden?

In Japan, wo die Geschichte spielt, wird das Aufweichen traditioneller Strukturen als einer der Hauptgründe für die zunehmende Vereinsamung in der Gesellschaft genannt. Die Familien werden kleiner. Heiraten und Kinderkriegen haben zudem für viele Männer und Frauen an Attraktivität (und Notwendigkeit) verloren. Die Entwicklung hin zu einer Singles-Kultur ist dabei ein relativ neuer Trend, der mit zunehmender sozialer Kälte und Gleichgültigkeit (auch und vor allem gegenüber Schwächeren) einhergeht. Wer immer nur egoistisch um sich selber kreist und auf seinen eigenen Vorteil aus ist, erfährt kein Miteinander.

Ich denke, zuallererst müssen wir deshalb auf der persönlichen Ebene gegen die Vereinzelung angehen, indem wir uns Fragen wie diese stellen und sie – wiederum auf der persönlichen Ebene – für uns beantworten: Wie viel Beziehung brauchen wir? Wie viel aktive Beteiligung brauchen wir, um nicht den Kontakt zum anderen, ultimativ aber auch den Kontakt zu unserem Menschsein zu verlieren? Wenn Menschsein gleichzeitig In-Beziehung-Sein bedeutet? Als Mitglieder einer so genannten Wohlstandsgesellschaft: Wie viel emotionalen und auch sozialen Wohlstand erfahren wir in unserem täglichen Leben? Herr Sakai fragt bei dem Jobinterview, zu dem Suzu mit ihrem zukünftigen Kollegen Takada erscheint: »Kennen Sie Ihre Nachbarn?« Was in der Simplizität das Schwerwiegende der Thematik wiedergibt: Wenn wir nicht mal unsere Nachbarn kennen, wie wollen wir davor gefeit sein, irgendwann einmal selbst einen Kodokushi zu sterben?

Unsere Gesellschaft ist vernetzter denn je. Doch die Vereinsamung steigt. Wie erklären Sie sich das?

Das stimmt, die meisten von uns sind gut vernetzt. Vernetzt sein bedeutet aber nicht automatisch, miteinander zu kommunizieren. Oftmals handelt es sich nur um eine Schein-Kommunikation. Ich denke da etwa ans Chatten und an den verschleißartigen Gebrauch von Emojis. Emojis sind superpraktisch (und ich verwende sie selbst oft und gerne), sie transportieren eine bestimmte Emotion, Freude zum Beispiel, Trauer oder Wut, aber – bei allem Nutzen, den sie haben – verlernen wir durch sie nicht auch den Gebrauch von Wörtern? Sind sie nicht oft auch ein Ausdruck unserer Sprachlosigkeit? Ist ein Smiley wirklich der geeignete Ersatz für Worte wie »danke« oder »ich freue mich«? Damit man nicht falsch versteht: Ich bin ein großer Freund von Online-Diensten und ihrer Zugänglichkeit. Ein Gespräch unter vier Augen, bei dem man ehrlich und authentisch (manchmal auch Unangenehmes) ausspricht, ist allerding nicht mit einem Chat zu vergleichen. Wir dürfen nicht zu bequem werden und uns auf diese Formen der indirekten Kommunikation verlassen. Gerade nach der Pandemie heißt es, uns aufraffen, hinausgehen und wieder unter Leute kommen.

Der Tod gehört zum Leben. Doch in unserer westlichen Leistungsgesellschaft sind Altern, Krankheit und Tod ein Tabu. Wie aber soll man mit dem Tod umgehen lernen, wie ihm in Würde begegnen, wie in Würde altern, wenn es in unserer Kultur nicht mehr vorgesehen ist?

Altern und Krankheit mögen ein Tabu sein. Fakt ist aber auch, dass wir weder dem einen noch dem anderen entkommen. Spätestens, wenn die eigenen Eltern über die ersten Wehwehchen klagen, werden wir mit dem Thema Vergänglichkeit konfrontiert. Der Verfall des anderen spiegelt dabei den unseren (noch in der Zukunft liegenden) wider. Wie wollen wir eines Tages behandelt werden, wenn wir nicht mehr fit genug sind, um Schritt zu halten? Wollen wir angehupt werden, wenn wir beim Überqueren der Straße nicht schnell genug sind? Wollen wir ein Augenrollen sehen, wenn wir beim Einsteigen in die Straßenbahn auch nur zehn Sekunden länger brauchen als die Jungen und Gesunden? Ich beobachte mit Sorge die wachsende Ungeduld den Alten gegenüber und ich beobachte auch, dass sie oft genug aus der Öffentlichkeit gedrängt werden bzw. keinen Platz darin haben. Eine ideale Gesellschaft schließt aber auch diejenigen ein, die sie einst mitgeformt haben. Ihnen Respekt zu erweisen, ist, denke ich, ein Weg, das Tabu zu brechen, und Respekt beginnt dort, wo man hin- und nicht wegschaut.

»Es geht darum, etwas für einen Toten zu tun, was man sonst nur für einen Lebenden tut«, beschreibt Herr Sakai seinen Beruf. Den Raum für Begegnung schaffen – ist das unsere Aufgabe als Mensch?
Wie würden Sie Herrn Sakais Aufgabe seinen Angestellten gegenüber im Laufe des Romans beschreiben (er führt ja beide Takadas aus ihrer Einsamkeit heraus, ist aber selber eine tragische Figur, denn die Person, auf die er bis zuletzt wartet, erscheint nicht mehr)? Wie würden Sie Suzus Entwicklung im Laufe des Romans (dank Herrn Sakais) beschreiben?

Herr Sakai ist ein sehr launiger, schrulliger, ein sehr liebenswürdiger, aber auch ein sehr fordernder Mensch. Er ist der Typ, der einen nicht in Ruhe lässt. Der einen einbinden möchte. Der nachfragt. Der nachbohrt. Und er ist der Typ, der tausend Freunde hat, der mit jedem leicht anbändelt, der sozial und extrovertiert ist. Also das genaue Gegenteil von Fräulein Suzu, wie er sie nennt, und auch das Gegenteil von Takada. Er organisiert ein Kirschblütenpicknick, bei dem sich beide erstmals als Teil einer Gruppe erfahren, und als Takada einmal krank wird, beauftragt er Suzu damit, ihn bei sich (im Manga Kissa; japanisches Internetcafé mit Übernachtungsmöglichkeit, Anm. d. Red.) zu besuchen. Was sie widerwillig tut. Zum ersten Mal übernimmt sie hier Verantwortung. Als sie sieht, wie schlecht es Takada geht, nimmt sie ihn mit nach Hause und pflegt ihn dort gesund. Diese Erfahrung – auch die von Freundschaft –, rauszugehen aus seiner Schale und jemandem direkte Hilfe anzubieten –, verändert Suzu. Sie ist und bleibt zwar weiterhin eher spröde und zurückhaltend, sowohl die Arbeit (der Umgang mit dem Tod, das Dazustehen vor den Eltern) als auch die persönlichen Verbindungen, die dabei entstehen, lassen sie jedoch ein Stück weit über sich selbst hinauswachsen. Und darum geht es auch in dem Buch: Nicht jeder muss wie Herr Sakai tausend Freunde haben. Er hat sie, weil er er ist (sakaihaft, wie es im Buch heißt). Man darf aber auch genauso gut suzuhaft und gerne allein sein. Aber sich rauszuhalten aus allem und zu denken, das genügt, um ein Mensch zu sein, es genügen Essen, Trinken und Schlafen, ist keine Option. Ein Mensch ist man erst dann, wenn man etwas für jemand anderen tut (und sei es auch nur im Kleinen).

»Etwas fehlt. Vereinfacht ausgedrückt: Etwas ist nicht mehr da. Und dennoch hat es eine Wirkung im Raum«, heißt es im Buch. Glauben Sie an so etwas wie ein Leben nach dem Tod, an ein Weiterleben, -wirken in welcher Form auch immer? Dass die Verstorbenen noch eine Weile bei uns sind?

Sagen wir so: Ich MÖCHTE daran glauben. Und vielleicht ist es das, was diejenigen, die gegangen sind, bei mir und am Leben erhält. Was tröstlich ist. Indem ich mich an sie erinnere, an den Klang ihrer Stimme etwa, wird das Unfassbare und sein Grauen – die Tatsache, ihnen nie wieder in ihrer jeweiligen physischen Form begegnen zu können – entsprechend abgemildert. Was ich an ihnen vermisse, wirkt sozusagen auf einer inneren Ebene weiter, wird zu einem Teil von mir und damit ein Stück weit dem Nichts entrissen, das sie (scheinbar) verschlungen hat.

»Ich nannte ihn Krawatte«, »Herr Kato spielt Familie«, »Oben Erde, unten Himmel«: Was vereint die Protagonist/innen Ihrer Romane? Woher rührt Ihr Interesse an den Außenseiter- und Randfiguren der Gesellschaft (ein Hikikomori, Männer, die ihre Arbeit verloren haben, in Pension gehen, Menschen, die ihr Beruf zu Außenseitern macht usw.)?

Die Protagonisten meiner Romane vereint tatsächlich das Gefühl der Einsamkeit, das sie haben. Sie stehen zwar im Leben, halten sich aber eher an den Rändern des Lebens auf. Von dort aus betrachten sie das, was im Zentrum geschieht, und ihre Wahrnehmungen – meist sind es sensible, zur Innenschau neigende Figuren – zeigen dabei ein Spannungsfeld auf, zwischen Drinnen und Draußen. Mein Interesse gilt diesem Spannungsfeld und es gilt auch den Menschen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – aus dem Leben gedrängt fühlen. Wir sind alle, mal mehr, mal weniger, Außenseiter. Dem Rechnung tragend hoffe ich eine Identifikationsfläche zu schaffen, die es dem Leser/der Leserin ermöglichen soll, sich selbst zumindest in Anteilen wiederzuerkennen.

»In Zeiten der Dürre Tränen vergießen/Im kalten Sommer ratlos umhergehen/Von allen Dummkopf geheißen werden/Nicht gelobt werden/Keinen Kummer verursachen/So ein Mensch möchte ich werden«,zitieren Sie ein Gedicht des japanischen Lyrikers Miyazawa, über das ich viel nachdenke. Wie darf man dieses Zitat verstehen?

Dazu ist es wichtig, die Geschichte des Gedichts zu kennen. Das Gedicht wurde nach Miyazawas Tod in einem kleinen schwarzen Notizbuch in einem seiner Koffer gefunden, und es gilt – auch wegen der Anleihen aus dem Lotos-Sutra – als das Sterbegedicht des stark vom Buddhismus inspirierten Dichters. Als er es schrieb, lag er bereits schwerkrank darnieder, und es ist davon auszugehen, dass er um seinen nahenden Tod wusste. Das neunseitige Gedicht – eingebettet in die wiederholte Abschrift eines Gebets – handelt paradoxerweise jedoch weniger vom Sterben als vom Leben. Miyazawa beschreibt darin die ideale (das heißt achtsame, verantwortungsbewusste) Lebensweise, so wie sie ihm vorschwebte, und die Schlusszeile »So ein Mensch möchte ich werden« zeigt seinen unbedingten Willen, sich bis zuletzt als einen »Werdenden« zu begreifen, der selbst angesichts des Todes dazu bereit ist, sich weiterzuentwickeln. Es ist ein starkes Gedicht. Eins, das anrührt. Und die Tatsache, dass es bis heute (fast hundert Jahre, nachdem es geschrieben wurde) seine anrührende Stärke behalten hat, macht deutlich, dass die darin verhandelten Werte nicht an Aktualität verloren haben. Miyazawa geht es um den bewussten Umgang mit den Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, es geht ihm um die Demut vor der Natur, aber auch darum, Wege und Umwege auf sich zu nehmen, um anderen zu helfen. »Wenn im Süden ein sterbender Mensch ist, hingehen und ihm sagen, er soll keine Angst haben.« Die Zeile, die ich zum Motto meines Buches gemacht habe, ruft zur Aktion auf.

Die Pandemie und nun der Ukraine-Krieg haben uns den Tod »vor die Haustüre« gebracht. Doch die anfangs große Hilfsbereitschaft nimmt zunehmend ab. Wie weit reicht unser Mitgefühl? Ihr Wort dazu?

Empathie – sowie ich sie begreife – ist eine leider oft unterschätzte Qualität. Einerseits ist das Wort in aller Munde, andererseits wird es oft nur halbherzig als bloßes (passives) Mitleid missverstanden. Umso notwendiger ist die Literatur, umso notwendiger sind Geschichten. Wenn wir ein Buch lesen, schlüpfen wir für die Dauer von ein paar hundert Seiten in die Schuhe eines anderen und lernen darin zu laufen. Wir nehmen die Perspektive eines anderen an und sehen die Welt durch seine Augen, was uns zweifellos auch zu uns selber bringt. Wir beginnen nachzudenken, wir beginnen zu hinterfragen. Was wir lesen, wühlt uns im besten Sinne auf und animiert uns eben dazu, zu mitfühlenden »Beteiligten« zu werden.

Suzu hat das Talent, denjenigen, dem sie zuhört, dort stehen zu lassen, wo er ist, ohne ihn verändern zu wollen. Diese Gabe scheint heute sehr rar zu sein. Wir sind eine Gesellschaft, die sich sehr schnell eine Meinung bildet, die schnell (ver-)urteilt und schnell bewertet. Ihr Wort dazu?

Gerade beim Schreiben wird mir das immer wieder bewusst. Wenn ich Figuren zeichne, achte ich darauf, es möglichst ohne Bewertung zu tun. Der Leser/die Leserin soll die Figuren vor sich haben, er/sie soll ihr So-Sein erkennen und anerkennen, und natürlich stellen sich dabei auch Urteile ein. Etwas zu beurteilen ist aber eben etwas anderes als etwas zu verurteilen. Es ist begrüßenswert, Meinungen zu haben bzw. sie frei zu äußern. Wenn man verstanden hat, dass Meinungen jedoch stetiger Veränderung unterworfen sind, muss man nicht länger starr an ihnen festhalten. Man muss nicht immer Recht haben. Und das wäre ebenfalls begrüßenswert: Wenn wir unseren Meinungen nicht das Gewicht gäben, das wir ihnen allzu oft geben, das Gewicht der Rechthaberei, und uns offen und flexibel auch zu den Meinungen anderer verhielten.

Ihr Roman ist auch ein wunderschönes und berührendes Plädoyer für das Leben, für Mitmenschlichkeit, ein soziales Miteinander (ich denke da auch an die Worte von Ries Vater im Buch). Wir leben oftmals sehr nachlässig vor uns hin, ohne das Leben wertzuschätzen. Wie soll man angesichts des gewissen Todes leben? Wie kann man heute noch wahrhaftig, achtsam und präsent leben?

Das ist eine sehr große Frage, auf die ich nur eine sehr kleine Antwort habe. Vom Schreibtisch aus betrachtet, möchte ich die Frage auf die Arbeit des Autors beziehen. Ein Autor trägt gegenüber seinen Lesern und Leserinnen eine gewisse Verantwortung. Immerhin bietet er ihnen eine Geschichte an, von der er sich wünscht, dass sie sie – in welcher Form auch immer – als Lesende miteinbeziehen möge. Sein achtsamer Umgang mit Sprache, aber auch mit den Ideen, die er mit Hilfe der Sprache transportiert, ist somit ein wesentlicher Bestandteil seiner Arbeit. Er wählt die Wörter aus. Er kreiert mit den Wörtern, die er auswählt, eine Welt. Und vielleicht ist es dieser Aspekt, sind es die Verantwortlichkeit und die Gewissenhaftigkeit, die nottun, um auch in anderen Bereichen des Lebens wieder verstärkt in die Präsenz zu finden. Eine bewusste Wahrnehmung der Dinge, die vor und um uns liegen, führt zu einem bewussteren Umgang mit ihnen.

Und inwiefern hat Sie das Aufwachsen mit zwei Kulturen und Sprachen geprägt, bereichert?

In Japan bezeichnet man Kinder aus binationalen Ehen als »Haafu«, was wortwörtlich der Halbe bzw. die Halbe bedeutet. In meinen Ohren hat dieses Wort, auch wenn es nicht so gemeint ist, etwas Abwertendes. Es suggeriert, dass man kein ganzer Mensch wäre. Was einerseits stimmt: Ich habe mich nie vollkommen zugehörig gefühlt. Andererseits ist es gerade dieser Mangel an Zugehörigkeitsgefühl, der es mir als »Haafu« erlaubt, mich über angebliche Grenzen hinwegzusetzen und mir eine nach allen Seiten hin offene Identität zu bewahren. Insofern begreife ich mein Aufwachsen mit zwei Kulturen und Sprachen als eine Bereicherung. Ich fühle mich weniger als »Halbe« denn als »Doppelte«. Der Erziehung meiner Eltern ist es außerdem zu verdanken, dass ich Äußerlichkeiten wie Herkunft, Nationalität u.ä. keine allzu große (identifikatorische) Wertigkeit beimesse. Ich schätze mein Erbe, sowohl das österreichische als auch das japanische, und zweifellos hat mich sowohl das eine als auch das andere geprägt, letztlich aber lasse ich mich ungern darauf reduzieren und ziehe es vor, ein »Weltenmensch« zu sein.


Milena Michiko Flašar wurde 1980 als Tochter einer Japanerin und eines Österreichers in St. Pölten geboren. Sie studierte Germanistik und Romanistik in Wien und Berlin. 2008 erschien ihr Debüt »[Ich bin]«. Von einer Muttersuche in Indien und Japan handelt ihr Roman »Okaasan. Meine unbekannte Mutter«. Ihr ungeheuer sprachschönes Werk steht einzigartig da in der deutschsprachigen Literaturlandschaft. Ihr mehrfach ausgezeichneter Roman »Ich nannte ihn Krawatte« wurde für die Bühne adaptiert. Zuletzt erschienen »Herr Katō spielt Familie« und »Oben Erde, unten Himmel«.

Milena Michiko Flašar
Oben Erde, unten Himmel
Wagenbach, 304 S.