Ihren aktuellen Roman beschreibt Sibylle Berg als »Gute-Laune-Buch für Hoffnungslose«: RCE ist eine Anleitung zur Weltrettung, eine Abrechnung mit einem System, dem Profit über alles geht. Anschließend an seinen Vorgänger GRM seziert der Roman auf knapp siebenhundert Seiten minutiös die Verwerfungen und Absurditäten von Turbokapitalismus, Digitalisierung und dem Glauben an ewiges Wachstum. Ein Gespräch über die Mühlen des Kapitalismus – und warum Begreifen besser als Hoffnung ist. Foto: Katharina Lütscher.
Buchkultur: Warum haben Sie sich für eine Fortsetzung zu GRM entschieden? Ist zu viel ungesagt geblieben? Sollte die Revolution doch noch gelingen? Oder war es der allgemeine Weltzustand?
Sibylle Berg: Als ich auf den letzten hundert Seiten von »GRM Brainfuck« angelangt war, merkte ich, dass ich die Erzählung nicht enden lassen wollte. Nicht so. GRM war die Untersuchung in einem prototypischen, westlichen Land – in England, dem europäischen Musterland der Privatisierung und Überwachung –, wie sich die Digitalisierung und der irre gewordene Kapitalismus auf Nicht-Kapitalisten auswirkt. Das Buch endet in der apathischen Ohnmacht, die wir jetzt spüren. Fassungslos beobachten wir den Zerfall der Welt, die wir zu kennen glaubten, und wissen keinen Ausweg. Für meine Laune – und weil ich mich von den reizenden Held/innen nicht trennen wollte, brauchte ich eine Utopie. Einen Ausweg aus dem Elend. Ein Gute-Laune-Buch für Hoffnungslose.
Bei aller Düsternis und allem Elend ist RCE streckenweise erstaunlich witzig. Ist Humor auch ein Überlebensmechanismus für Sie?
Mein Humor funktioniert meistens sehr gut, und rettet mich – wenn man alles ernst nähme, oder gar als persönlichen Angriff sähe, das muss schrecklich sein. Ich hatte während der Corona-Pandemie einmal einen Zustand, der mir unvertraut war. Ausgelöst von Bildern alter Menschen, die ohne ihre Angehörigen sterben mussten, ein grausamer Akt, gefolgt von der Einberufung des Militärs und der Schließung der Grenzen. Ich konnte mich plötzlich nicht mehr als Teil von Milliarden begreifen, mit der damit zusammengehenden Albernheit – ein schreckliches Gefühl. Wenn der Humor verschwindet.
In einem früheren Interview haben Sie, angesprochen auf Ihre Entspannung trotz der schwierigen Themen in GRM, geantwortet: »Das eine ist ja Literatur, das andere bin ich.« Was bedeutet diese Unterscheidung für Sie und wo verläuft da die Grenze?
Naja, das eine liegt gerne herum und stiert Menschen an, ist albern, langsam, redet wenig und wenn, dann Quatsch. Das andere sitzt am Tisch und verdient hoffentlich Geld und hat am Abend rote Augen vom Rechnerstarren.
Man merkt dem Roman an, dass unglaublich viel Recherche darin steckt. Da werden technische Details erläutert und Firmengeflechte aufgeschlüsselt und Finanzprodukte erklärt. Es geht um real existierende Personen. Steckt dahinter auch die Idee einer Aufklärung über diese Zusammenhänge?
Aufklärung ist das falsche Wort, denn ich bin weder Wissenschaftlerin noch Sachbuchautorin. Aber ich habe es schon gerne ordentlich. Ich interessiere mich in meiner Arbeit schon immer für die Zeit, in der ich lebe, für die Welt, die mich umgibt. Und jede Arbeit ist für mich ein wenig mehr begreifen, und das fließt dann in die Bücher und Stücke ein, ohne den Anspruch auf Gültigkeit zu erheben. Denn es gibt weder für immer zementierte Fakten noch eine Wahrheit außer der eignen. Wissenschaft zum Beispiel basiert auf Widerspruch und immer neuen Erkenntnissen. In der aktuellen Reihe – GRM und RCE – versuche ich im Rahmen meines begrenzten Verstandes in einer Verdichtung herauszufinden, was die Ursachen der komplexen Katastrophen sind, die die gesamte Weltbevölkerung bedrohen. RCE beschreibt die Ursachen des jetzigen globalen Dauerkatastrophen-Zustandes, der gefühlt nach 9/11 einsetzte. Aber eben – eine literarische Beschreibung und keine Aufklärung. Das ist ein großer Unterschied.
RCE enthält immer wieder kleine Seitenhiebe gegen die Schweiz. Man lässt sich dort nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Was ist das Besondere an den Schweizer/innen?
Es ist nicht Besonderes an den Schweizer/innen. Außer, dass sie mich vor vielen Jahren, als ich eine von ihnen werden wollte, durch ihre Sorgfalt überzeugten. Viele glauben, der Wohlstand des Landes sei allein ihrer Arbeit gedankt. Das tun große Massen der Bevölkerung des Westens. Dass der immense Zuwachs an Vermögen immer darauf beruht, dass es anderen Menschen oder Ländern entzogen wurde, ist ein unangenehmer Fakt, den ich auch nicht ständig mitdenke. Wenn man in einer guten Demokratie ohne größere Katastrophen geboren wurde, ist das eben die Welt, die man kennt und die nur wenige hinterfragen, denn wozu sollte das auch dienen. Jedes europäische oder aus Europa hervorgegangene Land hat seine Vergangenheit, die aus Kolonialisierung, Mord und territorialer Eroberung besteht. So funktioniert die Entwicklung, der Kapitalismus, der Wohlstand von Bevölkerungen bis hin zum obszönen Reichtum Einzelner. Ich bin Teil der Nutzniesser/innen und Betroffenheit hilft keiner. Nur ab und zu daran denken sollte man, wenn man vorschnell über ärmere Menschen urteilt, oder Flüchtende aus den Ländern, die Vorfahren ausgebeutet haben, als Feinde und Schmarotzer bezeichnet.
Zwischen GRM und RCE lag der Interviewband »Nerds retten die Welt«, in dem Sie Wissenschaftler/innen sämtlicher Disziplinen zum Zustand der Welt und möglichen Problemlösungen befragt haben. Haben diese Gespräche für Sie in Ihrem Leben oder Ihrem Umgang z. B. mit sozialen Medien etwas verändert?
Wissenschaft als Laienhobby war schon immer ein Bestandteil meines Lebens. Es interessiert mich einfach, ich werde euphorisch, wenn ich systembiologische Zusammenhänge begreife, und Papers schmökere ich besonders in geleakter Form wie Zeitungen. Neu war der Kontakt mit Hackern und das technische Begreifen von Internettechnik. Das hat mich so erregt wie lange nichts mehr. Eine neue Welt aus Code, Zusammenhängen und Möglichkeiten.
Sie wollten GRM nicht als Warnung vor der sicheren Zukunft verstanden wissen. Seitdem sind Pandemie und Krieg dazwischengekommen, Elon Musk hat Twitter gekauft. Gilt es immer noch, dass Sie sich vornehmlich als Chronistin und Beobachterin oder fühlt es sich ein bisschen an, als werde der Roman von der Wirklichkeit eingeholt?
GRM war keine Warnung und hatte nichts mit der Zukunft zu tun, denn die meisten Szenarien existieren ja bereits. Einige erst in der Beta-Version, aber inzwischen sind ja schon wieder 5 Jahre seit der Recherche vergangen, in denen fast alles Realität geworden ist. Bis auf eine literarische Zuspitzung findet in GRM leider unsere Zeit statt.
Wie behalten wir die Hoffnung auf eine bessere Zukunft?
Hoffnung ist nicht meine Kernkompetenz. Ich finde Begreifen sehr viel erbauender. Ich glaube, dass unsere Spezies in absehbarer Zeit nicht aussterben wird. Das ist doch – fast hoffnungsvoll.
Sibylle Berg, in Weimar geboren, ist Verfasserin von 15 Romanen, 27 Theaterstücken, zahlreichen Hörspielen und vielem mehr. Ihre Bücher sind in 34 Sprachen übersetzt worden. Bergs Werke sind mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, so erhielt sie für »GRM. Brainfuck« (Kiepenheuer & Witsch) 2019 den Schweizer Buchpreis, 2020 erhielt sie den Schweizer Grand-Prix-Literatur sowie den Bertolt-Brecht-Preis, der an Literat/innen vergeben wird, die sich kritisch mit der Gegenwart auseinandersetzen. Sibylle Berg lebt in Zürich.
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Sibylle Berg
RCE. #RemoteCodeExecution
Kiepenheuer & Witsch, 704 S.