Ein irisches Familienepos voller Tragikomik und weisem Witz: Paul Murrays »Der Stich der Biene«. Brillant! Foto: Chris Maddaloni 


Der Niedergang einer irischen Autohändler-Familie vor dem Hintergrund der Klimakrise: Die Rezession macht auch vor Dickie Barnes’ einst lukrativem Geschäft nicht Halt. Seit er für ein Schulprojekt seiner Tochter Cass errechnet hat, wie schädlich die Auswirkungen seines Berufs für die Umwelt sind, lässt er die Geschäfte schleifen und verbunkert sich im Wortsinn im Wald. Dort glaubt er sich auch vor den Vorwürfen seiner Frau Imelda sicher, die als Einzige weiß, wie Armut schmeckt: Sie wuchs in der Gosse auf (das spiegelt sich auch im Schriftbild wider), wohin sie um nichts in der Welt zurückmöchte. Dickies bis vor Kurzem noch respektierte Familie wird zum Gespött der Kleinstadt. Cass, die kurz vor dem Highschool-Abschluss steht, flüchtet sich in Alkohol und Parties. PJ, Dickies Sohn, wird im besten Fall von seinen Klassenkameraden geschnitten: Echte Freundschaft scheint es für ihn nur noch im Netz zu geben.

Wie wäre unser Leben verlaufen, wenn wir uns an einem bestimmten Punkt anders entschieden hätten? Die mehrstimmig erzählte Tragödie entrollt sich in Rückblenden: Imelda war mit Dickies beliebtem Bruder Frank verlobt, dem Star der Footballmannschaft. Dickie studierte in Dublin und wollte nicht mehr zurück in die Provinz. Aber dann verunglückt Frank mit dem Auto, und Dickie (der sich schuldig fühlt) übernimmt nicht nur das Familienunternehmen, sondern führt auch die Braut seines Bruders zum Altar. In ihrer Trauer gleichen Dickie und Imelda selbst Geistern. Doch die Zukunft klopft schon an: Wie kann sie gelingen, wenn wir unsere Natur und deren unweigerliche Zerstörung durch den Menschen verleugnen?

Ausweg oder Flucht, die Bande der Familie und die Folgen unseres Handelns (oder Nicht-Handelns): Was tut man aus Liebe? Stilistisch bestechend, glänzend komponiert und hochsuggestiv: Wie Paul Murray über 700 Seiten lang die Spannung hochzuhalten versteht, wie er seine Figuren am Ende in der zweiten Person erzählen lässt – das ist große Kunst.

Paul Murray
Der Stich der Biene
Ü: Wolfgang Müller
Kunstmann, 700 S.