Didier Eribons grandioses Denkmal für seine Mutter ist zugleich ein eindringlicher Appell für die Sichtbarkeit der Alten. Foto: Pascal Ito/Flammarion
Es ist eine erneute Rückkehr nach Reims, die Didier Eribon in »Eine Arbeiterin« unternimmt – und irgendwie auch wieder nicht. Als Parallele zu seinem Bestseller von vor fünfzehn Jahren ist der Anlass auch diesmal ein Todesfall, nach seinem Vater verstarb nun seine Mutter in einem Pflegeheim im 30 Minuten von Reims entfernten Fismes. Nur zweimal hat Eribon seine Mutter dort besucht, weit seltener als geplant.
Die Zeit vor und nach ihrem Tod in der ersten Hälfte des Buches liest sich fast wie ein gesellschaftspolitischer Krimi. Von treffgenauen soziologischen und philosophischen Texten unterlegt, erzählt Eribon klug, eloquent und hochempathisch vom herzzerreißenden Umzug der Mutter ins Altersheim (»Für mich änderte sich nur der Name ihres Wohnorts. Für sie änderte sich alles.«); vom unmoralischen System, in das alte Menschen geworfen werden; vom »unbewussten Suizid«, den seine Mutter durch Verweigerung der Nahrungszufuhr beging.
Erst nach dieser Verarbeitung der traumatischen Verkettung von Ereignissen, die zu einem solch raschen Verfall der Mutter geführt hatten, nähert sich der Soziologe, Philosoph und Autor der (Familien-)Geschichte. »Meine Mutter war ihr Leben lang unglücklich«, schreibt er. Einst Putzfrau, später Fabrikarbeiterin führte sie eine zutiefst feindselige und distanzierte Ehe, doch eine Scheidung kam nicht infrage. Zwar sympathisierte sie mit rechten Parteien und war höchst rassistisch, konnte jedoch auch durchwegs Simone de Beauvoirs Thesen zustimmen, sofern sie sie bei Didier aufschnappte, bei ihrem Sohn, dem Klassenflüchtling. Mit ihrem Tod wird auch zugleich die letzte Verbindung zu seiner sozialen Herkunft gekappt, stellt Eribon fest, oder nach Hélène Cixous: Seine Homère ist tot.
Am Ende hat Didier Eribon nicht nur seiner Mutter ein Denkmal gesetzt, wie es schon Édouard Louis in »Die Freiheit einer Frau« getan hat, er hat auch einen bemerkenswerten und emotionsgeladenen Apell für die Sichtbarkeit der Alten geschrieben. »Wenn alte Menschen keine Stimme haben oder nicht mehr haben oder sogar, im Fall Pflegebedürftiger, nicht mehr haben können – sind dann nicht andere aufgerufen, ihnen eine Stimme zu geben?« Stechend, schmerzhaft und dringend.
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Didier Eribon
Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben
Ü: Sonja Finck
Suhrkamp, 272 S.