Mit fast neunzehn Metern ist der antike Papyrus Ebers die längste vollständig überlieferte medizinhistorische Papyrusrolle der Welt. Seit kurzem ist die Rolle nicht nur in einer Austellung in Leipzig zu sehen, sondern wurde von Lutz Popko auch neu übersetzt. Foto: Swen Reichhold.


Beim Papyrus Ebers handelt sich um die längste, schönste, wichtigste und einzig komplett überlieferte Buchrolle aus der altägyptischen Heilkunde. Das Dokument entstand vor 3500 Jahren vermutlich in der Umgebung von Theben und enthält 879 Einzeltexte, die rund 80 Krankheitsbilder und deren Behandlung beschreiben. Dabei geht es um psychische Störungen, Depressionen und Demenz, um Empfängnisverhütung, Augen- und Hauptprobleme, um chirurgische Behandlungen bis hin zu Darmerkrankungen oder dem Ergrauen der Haare. Präparate wurden in Form von Salben, Zäpfchen, Klistieren, Pillen und Umschlägen verabreicht, sie sind zu schnupfen, inhalieren, gurgeln, räuchern und schlucken. Ihre Ingredienzien – das umfangreichste Rezept besteht aus 37 Einzeldrogen – setzen sich aus Teilen und Exkrementen von Mensch und Tier, sowie aus Pflanzen und Mineralien und deren Teile zusammen.

Hier ein Beispiel:

Ein anderes (Heilmittel) zum Kühlen eines Kopfes, der schmerzt:

Ocker: 1 (Dosis), Weihrauch: 1 (Dosis), versteinertes Holz: 1 (Dosis), Waneb-Pflanzen: 1 (Dosis), Ostafrikanischer Kampfer*: 1 (Dosis), Geweih des Damhirschs: 1 (Dosis), Gummiharz: 1 (Dosis), Netscheryt-Natron: 1 (Dosis), Lehm des Töpfers: 1 (Dosis), Johannisbrot: 1 (Dosis), Wasser: 1 (Dosis). Werde zermahlen. Werde an den Kopf gegeben.


Spannend finde ich auch die Geschichte des Dokumentes selbst: Der Schreiber verewigte seinen Namen am Papyrus nicht, er lebte am Ende des 16. Jahrhunderts v. Chr., vermutlich in Luxor. In dieser Gegend wurde die Rolle gefunden, in einem Grab. Im Winter 1872/1873 kaufte sie der Forscher und Schriftsteller Georg Ebers um 350 Pfund Sterling von einem koptischen Händler und Hotelbetreiber. Vorsichtig und trickreich musste er vorgehen, damit ihm keine andere Sammlung das wertvolle Stück wegschnappte, so war etwa auch das Britische Museum hinter der Rolle her. Als Ägyptologie-Professor an der Uni Leipzig machte er sich nach seiner Rückkehr aus Ägypten umgehend daran, ein gedrucktes Faksimile der Quelle anzufertigen, das 1875 erschien. Seit damals also ist die Universitätsbibliothek für diese Schriftrolle zuständig, deren immense Bedeutung der Experte Thierry Bardinet 2015 in einem Brief ausdrückt: „Der Papyrus Ebers bildet eine Enzyklopädie, die Jahrtausende alte Kenntnisse und Praktiken der Heilkunde vereint, und kann mit Recht als einer der wichtigsten Schätze des Welterbes der Menschheit angesehen werden.“

Auch die Altersbestimmung mittels der sogenannten C 14 Methode hat bestätigt: Die Datierung des Dokuments fällt in das letzte Viertel des 16. Jh. v. Chr. Foto: Universitätsbibliothek Leipzig

Diese Schriftrolle steht aktuell auf der Warteliste zum UNESCO „Weltkulturerbe“, seit Anfang 2021 ist sie als Replik auf echtem Papyrus in einem eigenen Schauraum in der Leipziger Bibliotheca Albertina zu sehen. Parallel dazu ist soeben ein Buch erschienen mit einer Neuübersetzung, die sich am aktuellen Stand der Forschung orientiert und Kommentare zur Übersetzung enthält. Ich möchte mehr über dieses Projekt erfahren und nehme mit dem Übersetzer, Lutz Popko vom Ägyptologischen Institut der Universität Leipzig, Kontakt auf.

Michael Schnepf: Im Jahre 1890 wurde der Papyrus Ebers erstmals von Heinrich Joachim übersetzt. Was war Ihr Antrieb für Ihre aktuell vorliegende Neuübersetzung?

Lutz Popko: Die Übersetzung von Heinrich Joachim war zwar die erste Komplettübersetzung, aber nicht die letzte. Seitdem hat es auch weitere Übersetzungen in verschiedene Sprachen, auch weitere ins Deutsche, gegeben. Der wichtigste Grund dafür ist die voranschreitende Erforschung der altägyptischen Sprache. Diese wurde erst nach der Entzifferung der altägyptischen Schrift, der Hieroglyphen, wieder lesbar. Aber anders, als Filme, Serien und Bücher v.a. aus dem Fantasy- und Science-Fiction-Sektor suggerieren, sind eine unbekannte Schrift und unbekannte Sprache nicht innerhalb von Tagen, Wochen oder Monaten entschlüsselbar, sondern das braucht Jahrzehnte und noch länger – vor allem dann, wenn niemand mehr da ist, den man fragen kann, was dieses und jenes Wort heißt, ob es nur A oder auch B heißen kann, oder was der Satz xy eigentlich genau aussagen soll. Noch immer sind wir über viele Nuancen des Altägyptischen viel zu ungenügend informiert.

Bei medizinischen Texten ist das alles wahrscheinlich eine noch größere Herausforderung …

Ja, gerade in medizinischen Texten, in denen jede falsche Übersetzung nicht nur eine Frage des Stils ist, sondern schlimmstenfalls über Tod und Leben entscheiden kann, ist noch viel Forschungsarbeit zu leisten. Dabei geht der Weg auch nicht immer geradlinig vom Unbekannten zum Bekannten, sondern manchmal ist es auch nötig, einen Schritt zurückzugehen, bspw. wenn man erkennt, dass ein bisheriger Übersetzungsvorschlag auf einer falschen oder auch nur veralteten Diskussionsbasis beruht und neue Quellen oder neue Interpretationsansätze sie infrage stellen. Gerade die Erwartungshaltung kann auch eine Rolle spielen, wie man etwas übersetzt: Die ersten Übersetzungen des Papyrus Ebers stammen von Ägyptologen mit medizinischem Hintergrund bzw. von Medizinern mit ägyptologischer Zusatzausbildung. Das kann auf der einen Seite von Vorteil sein, weil man manche Beschreibung von Vorgängen im menschlichen Körper besser einordnen kann als ein Nichtmediziner. Es kann aber auch von Nachteil sein, weil man natürlich mit dem medizinischen Wissen seiner jeweiligen Gegenwart auf diese Texte schaut und vielleicht Krankheiten, Symptome oder sonstige Dinge darin zu erkennen glaubt, die die Alten Ägypter unmöglich wissen konnten oder die sie mit ihrem anderen Verständnis von Medizin, Krankheit und Gesundheit, ganz anders auffassen würden.

Können Sie uns dafür ein Beispiel geben?

Ein simples Beispiel: Heutzutage ist es möglich, verschiedene Auslöser von Hustenreizen zu unterscheiden: eine Erkältung, eine Virusgrippe, aktuell Covid-19, aber auch Raucherhusten, Staublunge etc. pp. Für jemanden, der aber keine Viren und Bakterien kennt, ist ein Husten erst einmal ein Husten. Dann unterscheidet man vielleicht eher nach trockenem, festsitzendem oder sonstigem Husten als nach möglichen Auslösern, hat also ein ganz anderes Unterscheidungssystem. Und man interpretiert ihn vielleicht auch gar nicht als Symptom einer bestimmten Krankheit, sondern als Krankheit selbst. Letzteres hat für eine Übersetzung zur Folge, dass die Begriffe für Krankheitserscheinungen in ganz anderer inhaltlicher Beziehung zueinander stehen, als wir uns das denken würden – eine bestimmte Sache A würde vielleicht als Auslöser für Sache B gelten, während wir heute wissen, dass die nichts miteinander zu tun haben oder sich die Sache vielleicht genau andersherum verhält. Aus diesem Grund hat es immer wieder Neuübersetzungen gegeben, und auch meine wird nicht die letzte sein.

Dennis Blumenstein bei der aufwändigen Herstellung der Replik des Papyrus Ebers per Siebdruckverfahren in der Leipziger Werkstatt von Schmidt, Blumenstein GbR. Foto: Universität Leipzig/Swen Reichhold

Ihre Übersetzung ist Teil eines Forschungsprojektes, um was geht es da genau?

In dem Projekt der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig liefern wir einen Beitrag zur Erforschung der altägyptischen Fachsprachen, d.h. Medizinersprache, Mathematikersprache etc. Wir wollen also nicht nur schauen, was die Alten Ägypter sagten, sondern auch, wie sie es sagten und wie sich diese Sprache veränderte. Das liefert wichtige Einblicke in die Gesellschaft des Alten Ägypten, weil man daran ablesen kann, wie ausdifferenziert und spezialisiert sie war. Dieses Projekt ist wiederum eingebunden in ein größeres, das sich der Erforschung der ägyptischen Sprache in seiner Gesamtheit verschrieben hat. Im Rahmen dieses Projektes hatten wir alle altägyptischen medizinischen Texte übersetzt und in eine Datenbank eingepflegt, in der jedes ägyptische Wort mit einem entsprechenden Wörterbucheintrag verlinkt ist. Dadurch kann man sich, wenn man möchte, alle Belege für ein bestimmtes Wort im Kontext ansehen und dessen Nuancen und Entwicklung im Laufe der ägyptischen Sprachgeschichte (die ca. 4500 Jahre lang war) besser bestimmen.

Worin liegen die größten Unterschiede zwischen früheren Übersetzungen und jenen von heute?

Meine Übersetzung unterscheidet sich von den bisherigen und besonders der von Joachim darin, dass sie auf dem aktuellen Forschungsstand ist (was sich natürlich schon ändert, noch während sie gedruckt wird) und dass ich ihr einen Kommentar beifügte, in dem ich erklärte, warum ich Manches so und nicht anders übersetzt habe, sowie, warum meine Vorgänger diese Dinge anders übersetzt haben. Ich versuche also nachzuzeichnen, wie es zu bestimmten Übersetzungsvorschlägen gekommen war, auf welcher Argumentation sie basieren, und auch manches Mal, warum eine frühere Übersetzung nicht mehr korrekt ist – nicht, weil ich diese Übersetzer vorführen will, sondern weil ich den Lesern eine Erklärung liefern will, aus welchen Gründen ich mich anders entschieden habe oder warum man an einer bestimmten Stelle eben keine endgültige Aussage treffen kann. So hat, um ein oft zitiertes Beispiel zu bemühen, Heinrich Joachim an einer Stelle, in der es um Kindergeschrei geht, den Einsatz von Opium als Beruhigungsmittel vermutet, weil Opium zu seiner Zeit in manchen Ländern so eingesetzt wurde. Seitdem hält sich hartnäckig das Gerücht, dass die Alten Ägypter Opium zur Beruhigung verwendet hätten, obwohl es Hinweise gibt, dass die an der betreffenden Stelle genannte Pflanze gar keine Mohnpflanze sein kann. Da genügt es eben nicht, nur zurückhaltender zu übersetzen als Joachim, sondern man muss dezidiert Stellung beziehen, warum solche Vorsicht angebracht ist und die Übersetzung als Opium unwahrscheinlich ist, weil manche Leser danach suchen werden und sich eine Erklärung wünschen, warum man plötzlich anders übersetzt. Diese Kommentierung ist in den Online-Publikationen (Anm.: siehe Links unten) noch viel ausführlicher als in der WBG-Publikation, wo ich mich aus technischen und konzeptionellen Gründen auf eine Auswahl beschränken musste, aber ich denke, dass die Leser auch durch diese Auswahl einen Eindruck von den Hürden einer Übersetzung solcher Texte erhalten.

Die Buchausgabe, die soeben erschienen ist, bietet noch eine weitere Besonderheit …

Die WBG-Übersetzung ist die erste, die von Fotos des kompletten Papyrus begleitet ist. Denn dieser war bislang nie im Foto abgedruckt. Es gibt zwar ein hervorragendes sogenanntes Faksimile von Georg Ebers (ein Faksimile ist eine möglichst genaue zeichnerische Kopie einer Sache, meist eines Textes), aber eben keine komplette Fotografie. Das ist umso bedauerlicher, als im 2. Weltkrieg einige Stücke verlorengegangen sind und nun nur dank des Faksimiles studierbar sind. Die Ausstellung in einem Schauraum der Universitätsbibliothek Leipzig zeigt im Übrigen nicht das Original, das aus konservatorischen Gründen schon von Georg Ebers selbst in Einzelteile zerschnitten und verglast wurde, sondern eine Replik, die in den letzten Jahren erstellt wurde und den Eindruck der Gesamtrolle wiederherstellen soll. Auf ihr wurden dann auch die verlorenen Teile mithilfe des Faksimiles ergänzt, und das ist auch in meinem Buch passiert: Wo das Original nicht mehr vorhanden ist, sind Fotos der Replik zu sehen. Last but not least ist die Übersetzung nach langer Zeit die erste, die sich an ein interessiertes, aber nicht ägyptologisches Fachpublikum richtet.

Kennen Sie Reaktionen der heutigen Gesundheitswissenschaft auf die medizinischen Empfehlungen von damals?

Das eben Geschilderte macht es schwierig, aus den altägyptischen medizinischen Texten einen Nutzen speziell für moderne Medikamente zu ziehen. Viel zu oft wissen wir eben nicht, welches Krankheitsphänomen hinter dem Begriff A oder B steckt, und welche Ingredienzien mit x, y oder z gemeint sind. Und das bedingt sich gegenseitig: Wenn wir nicht wissen, was A ist, können wir nicht, quasi über die Ausschlussmethode, untersuchen, was dagegen verschrieben wurde und dabei sagen: x muss diese Ingredienz sein und y kann dann nur jene sein. Dasselbe gilt umgekehrt: Wenn wir nicht wissen, was x und y ist, können wir nicht auf die Suche gehen, welche pharmazeutische Wirkung sie zusammen entfalten, und daraus schließen, worum es sich bei der Krankheit handelt, gegen die sie eingesetzt werden. Hinzu kommt noch das geschilderte Problem der unterschiedlichen Medizinsysteme: Wir wissen gar nicht bei jeder Ingredienz, warum sie verwendet wurde. Nicht immer mag das eine pharmazeutische Wirkung sein. Manche diente vielleicht nur als Bindemittel oder als Süßungsmittel. Anderes findet seine Bedeutung über die andere Erklärung über Krankheitsentstehung: Wenn man bestimmte Kopfschmerzen von einem Dämon verursacht sieht, dann greift man vielleicht eher zu irgendeinem intensiv riechenden Mittel, das diesen Dämon vertreiben soll, als zu einem Mittel, dem wir heute eine pharmazeutische Wirkung gegen diesen bestimmtem Kopfschmerz zuschreiben. Sehr oft werden Medikamente auch nach dem Grundsatz „Gleiches mit Gleichem“ zu heilen eingesetzt, ganz ähnlich wie heute in der Homöopathie, oder umgekehrt, „Gleiches mit Gegenteiligem“. Aus diesem Grund werden bspw. Haare von besonders behaarten Tieren in Haarwuchsmitteln eingesetzt oder Eier eines Raben, also eine schwarzen Vogels, gegen Ergrauen. Nicht immer liegt dabei die Analogie so klar auf der Hand.

Herr Popko, herzlichen Dank für Ihre Zeit und die umfassenden Antworten!


Weitere Informationen:
papyrusebers.de
über das Gesamtprojekt
zum Leipziger Projektteil

Bei der Publikation handelt es sich, mit Ausnahme der einleitenden Essays von Ulrich Johannes Schneider, Reinhold Scholl und Lutz Popko, um kein locker lesbares Sachbuch, der überwiegende Teil ist den Übersetzungen samt Gegenüberstellung der Originaltexte gewidmet. Für alle, die spezielles Interesse an diesem Thema haben, ist es jedoch mit Sicherheit ein erstklassiges Werk zum angemessenen Preis von rund 200 Euro.

Lutz Popko/Ulrich J. Schneider/Reinhold Scholl (Hg):
Papyrus Ebers. Die älteste Schriftrolle zur ägyptischen Heilkunst, wbg, 304 S.