Eine Liebeserklärung an das Schreiben und die Literatur – Mohamed Mbougar Sarr überzeugt mit einem lyrischen und komplex aufgebauten Page-Turner.


Ein Autor, der nach dem Erscheinen seines Romans spurlos verschwindet und kein Wort dazu zu sagen hat, wie sein Werk rezipiert wurde? Heutzutage undenkbar. Eine gewisse Selbstvermarktung gehört im heutigen sehr dichten und teilweise undurchsichtigen Literaturmarkt dazu. Ohne rege Aktivität und Präsenz auf diversen Social-Media-Kanälen, Interviews und Lesungen verschwindet man schnell wieder im Schatten der rasant aufkommenden Neuerscheinungen und gerät in Vergessenheit, bevor der eigene Name die Chance hatte, sich in den Köpfen der Leser/innen zu verankern. Wenn man dann auch noch untertaucht und kein einziges Statement zum eigenen Roman abgibt, kann das nur in sofortiger Selbstauslöschung enden. Oder? Selbst wenn das Buch derart fesselnd ist, dass Leser/innen sich auf die Suche des unbekannten Urhebers begeben möchten, geben sie heute womöglich schnell auf, wenn kein Wikipedia Artikel über den Autor existiert.

In »Die geheimste Erinnerung der Menschen« (fr. »La plus secrète mémoire des hommes«) von Mohamed Mbougar Sarr treffen wir auf den jungen senegalesischen Schriftsteller Diégane Latyr Faye, der deutlich hartnäckiger ist und sich nicht von Spuren abschrecken lässt, die überwiegend im Sand zu verlaufen scheinen. Während seines Studiums in Paris im Jahr 2018 stößt er durch einen Zufall auf den von ihm schon länger gesuchten, 1938 veröffentlichten Roman des sagenumwobenen Autors T. C. Elimane, oft bezeichnet als der »schwarze Rimbaud«. Betitelt als »Das Labyrinth des Unmenschlichen« löste das Buch zu Beginn Begeisterung aus, die jedoch schnell in Ungunst und Misstrauen mündete: Konnte ein derart brillantes Werk tatsächlich von einem Afrikaner geschrieben worden sein? Kritiker begannen den Text zu zerreißen und der Erfolg von T. C. Elimane verwandelte sich nach Plagiatsvorwürfen schnell in einen literarischen Skandal. Ohne Stellung zu den Anschuldigungen zu nehmen oder sich und sein Buch zu verteidigen, verschwand der Schriftsteller in einem Nebel des Schweigens. Diégane ist dennoch der Meinung, dass »Das Labyrinth des Unmenschlichen« ein wahres Meisterwerk ist, und sowohl der Inhalt als auch die mysteriöse Identität des Autors werden zu einer lebhaften Obsession. Seine Suche nach Hinweisen führt ihn durch mehrere Epochen und Lebensgeschichten, lässt ihn Nationalgrenzen überschreiten und lockt ihn in ein Spinnennetz, dessen Fäden so komplex miteinander verwoben sind, dass er Schwierigkeiten bekommt, einen klaren Blick zu behalten und einen Ausweg zu finden. In raschem Erzähltempo folgt man einer literarischen Ermittlung, die eine beachtliche historische Spannbreite von der Kolonialzeit über beide Weltkriege bis hin zu den Unabhängigkeitskriegen und postkolonialen Konflikten in Westafrika umfasst. Die Menschen, mit denen Diégane im Laufe seiner Mission in Kontakt kommt, sind T. C. Elimane auf unterschiedlichsten Stationen seines Lebens begegnet und eng mit ihm und den geschichtlichen Begebenheiten verflochten.

»Die geheimste Erinnerung der Menschen« stellt ausgefallen viele Fragen und begleitet durch derart viele Themen, Länder und Kulturen, dass es manchmal gar nicht so einfach ist, alles im Blick zu behalten. Es geht um die Umstände, unter denen afrikanische Literatur in Frankreich entstehen und gedeihen kann, wie mit Rassismus im Literaturbetrieb umgegangen wird, und es werden Fragen zum Kolonialismus und zum Holocaust gestellt. Im Zuge dessen schreibt Mohamed Mbougar Sarr eine wunderschöne Ode an die Literatur und beleuchtet kritisch den Literaturbetrieb, das Leben als Schriftsteller/in im Exil und den Sinn des Schreibens selbst. Einer seiner wichtigsten Kritikpunkte lässt sich in folgender Frage aus dem Roman zusammenfassen: »Spricht man über das Schreiben oder über die Identität, über den Stil oder die medialen Bilder, die es erübrigen, einen Stil zu haben, geht es um die literarische Schöpfung oder die Sensationsgier, den Personenkult?« Hier wird die verletzte Seele eines Schriftstellers angesprochen, dessen Werk nicht aus einer literarischen Perspektive kommentiert und beurteilt wird, der auf seine Hautfarbe, Herkunft und Religion reduziert wird. Mit einer ähnlichen »zwanghaften Schriftstellerbrille« untersucht Diégane das Leben von T. C. Elimane und fragt sich im letzten Moment, ob diese seinen Blick nicht verzerre.

Während der Roman des verschwundenen Autors für den Protagonisten einerseits zur Obsession wird, stellt er andererseits einen sicheren Hafen dar, wenn die Realität um ihn herum einzubrechen droht. Es geht um die Besessenheit mit dem Werk und der Literatur im Allgemeinen, aber auch um die Sicherheit, die sie bietet. Denn wenn rundherum alles zerfällt und substanzlos wird, kann ein einzelnes Buch der Anker sein, der am Leben hält und Hoffnung bringt. Als Emigrant in Paris fühlt sich Diégane nicht selten auch mit Einsamkeit konfrontiert, die für ihn aber zu der Beziehung des Schriftstellers mit seinem Werk dazugehört. Sein selbstgewähltes Exil verursacht eine immer größer werdende Entfernung von der Familie und der Kultur der Heimat, wodurch sich ein neues Heimatland herauskristallisiert: das Land der Bücher.

Sarrs dichter, lyrischer und anspruchsvoller Roman erstreckt sich über mehr als 400 Seiten und ist so spannend wie er komplex ist. Es werden mehrere narrative Ebenen miteinander verwoben und man hat das Gefühl in eine ausgedehnte Saga einzutauchen, die sich über mehrere Teile erstrecken könnte. Als Leser/in hüpft man von einem Labyrinth ins nächste, steckt unterwegs in einer Sackgasse, die schließlich doch noch eine Tür aufweist, nur um im nächsten Moment wieder vor einer rätselhaften Mauer zu stehen. »Die geheimste Erinnerung der Menschen« ist ein intellektuell verknoteter Text, den man aufmerksam lesen muss, um am Ball zu bleiben und zu erkennen, welche der bereits erwähnten oder neu vorgestellten Stimmen des Buches gerade spricht, in wessen Erinnerung und in wessen Realität man sich eigentlich gerade befindet. Man merkt schnell, dass nicht alle Fragen beantwortet werden sollen, und wenn man sich darauf einlässt und sich nicht von den spärlich eingesetzten Hinweisen auf direkte Reden irritieren lässt, wird man auf einer abenteuerlichen Lesereise willkommen geheißen. Gemeinsam mit Diégane taucht man in die dicht verstrickte Handlung ein und beginnt, wie beim Schälen einer Zwiebel, Schicht für Schicht voranzuschreiten und der Wahrheit ein Stückchen näher zu kommen. Neben unterschiedlichen Erzählungen aus der Ich-Perspektive werden Teile der Geschichte in Form von Briefen, Zeitungsartikeln, Tagebucheinträgen, Buchausschnitten, Interviews und SMS dargeboten, die sich allmählich zu dem Flickenteppich, der das Leben von T. C. Elimane darstellt, zusammenfügen. Erwähnenswert ist auch die Parallele zwischen T. C. Elimane und dem malischen Schriftstellers Yambo Ouologuem, der 1968 als erster Afrikaner mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet wurde. Dieser wurde später des Plagiats beschuldigt, woraufhin er aus Frankreich floh und sich aus dem öffentlichen Leben zurückzog.

Beim Verfassen des Romans, in dem der Protagonist davon träumt, eines Tages den Prix Goncourt zu erhalten, hätte der senegalesische Schriftsteller Mohamed Mbougar Sarr wohl nicht erwartet, 2021 selbst den Preis für seinen vierten Roman, »La plus secrète mémoire des hommes«, zu erhalten und dadurch über Nacht in der internationalen Literaturszene bekannt zu werden. Der 32-Jährige ist einer der jüngsten Autoren in der Geschichte des Preises, der seit über 100 Jahren verliehen wird, und der erste Gewinner aus Subsahara-Afrika, was ein starkes Signal für den französischsprachigen Raum darstellt. Sarr betont dabei jedoch, dass er die literarischen Fragen im Vordergrund sieht, also den literarischen Wert des Buches vor dem Verhältnis Afrikas zu Europa. Wie er in einem Interview erzählt, hofft er, dass es das Buch selbst ist, das die Auszeichnung bekommen hat und die Jury nicht nur einem afrikanischen Schriftsteller einen Gefallen tun wollte. Der mit symbolischen 10 Euro dotierte Preis wurde dem jungen Autor wohl vor allem für die Courage verliehen, mit seinem Roman sowohl geographische als auch literarische Grenzen zu überschreiten. Für die beiden kleinen Verlage Éditions Philippe Rey und Jimsaan, in denen Sarrs Buch erschienen ist, sind zahlreiche Übersetzungen und hohe Verkaufszahlen besonders erfreuliche Ergebnisse des Preisgewinns.

Lange war keines der Bücher des Preisträgers auf Deutsch erschienen, was sich mit der im Hanser Verlag publizierten, sehr gelungenen Übertragung aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller nun ändert. »Das Labyrinth des Unmenschlichen« von T. C. Elimane bleibt ein »Phantombuch, dessen Autor offenbar nur das Aufleuchten eines Streichholzes in der tiefen literarischen Nacht gewesen war«. Von Mohamed Mbougar Sarr und seinem Werk kann jedenfalls das Gegenteil behauptet werden!

Mohamed Mbougar Sarr
Die geheimste Erinnerung der Menschen
Ü: Holger Fock und Sabine Müller
Hanser, 445 Seiten