Franziska Thun-Hohensteins fundiertes, ausgreifendes und gelehrt kundiges Leben-Werk-Gulag-Porträt des russischen Autors Warlam Schalamow
»Die Krümel von Aufrichtigkeit bewahren, so unansehnlich sie auch seien. Ringen mit der künstlerischen Wahrheit im Namen der Wahrheit des Lebens – diese Aufgabe ist nicht so schwer. Schwer ist das andere, dass die Wahrheit des Lebens selbst auf flüchtige Weise wechselhaft ist.« Das meinte der russische Autor Warlam Schalamow. Und fragte sich und seine Leserschaft: »In welcher Sprache mit dem Leser sprechen? Wenn man nach Authentizität, nach Wahrheit strebt, wird die Sprache arm, dürftig.« Dies ergänzte er um erbarmungsfreies Ringen um Wahrhaftigkeit. »Ich muss«, gestand Schalamow, »in der Sprache schreiben, in der ich heute schreibe, und natürlich hat sie sehr wenig gemein mit der Sprache, die ausreichend wäre zur Wiedergabe jener primitiven Gefühle und Gedanken, die mein Leben in jenen Jahren ausmachten.«
Jene Jahre, das waren für den in der Kleinstadt Wologda am Fluss Wologda, etwa 500 Kilometer nordöstlich von Moskau, im Sommer 1907 geborenen Priester- und Lehrerinnensohn Warlam Tichonowitsch Schalamow die Jahre ab 1937, als er, der ewige Dissident, ein zweites Mal zu Lagerhaft verurteilt wurde. Das erste Mal war dies 1929 geschehen; nach zwei Jahren kam er vorzeitig frei. Die zweite Haft war die lebensprägende, es war jene in Magadan am Ochotskischen Meer in der Kolyma-Region in Nordsibirien.
Erst 1951 kam er frei. An seinem Kolyma-Zyklus arbeitete Schalamow ab 1954 17 Jahre; nach Stalins Tod war er rehabilitiert worden, konnte nach Moskau zurückkehren. »Kolymsije rasskasy« kursierten Jahre lang im Samisdat, wurden in der Sowjetunion erst Ende der 1980-er Jahre publiziert. In den späten 1960-er Jahren waren auszugsweise Übersetzungen auf Deutsch, Französisch und Afrikaans erschienen. Mitte Jänner 1982 starb Schalamow, noch immer vom KGB überwacht. Seit 2007 erscheint im Matthes & Seitz Berlin Verlag nun die erste, von Franziska Thun-Hohenstein betreute Werkausgabe außerhalb Russlands. Aus der fundierten, hochinformierten, gut zu lesenden, hie und da etwas zu detailverliebt in die Tiefe strebende Beschreibung von Werk und Leben, Kreativität und höllischer Knechtung aus der Feder der Slawistin, Senior Fellow des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung in Berlin und dort Betreuerin des Projekts »Warlam Schalamow. Biographie und Poetik«, erfährt man auch, was für eine Herausforderung diese Edition war.
»Das Lager schreiben«: Unter diesem Schlagwort wurde das Œuvre des Gulag-Häftlings subsumiert. Schalamow, der Außerordentliche, war allerdings mehr, und weitaus komplexer, er machte es sich niemals einfach, auch und erst recht nicht seinem Publikum, zu fordernd, zu herausfordernd, zu skrupulös, viel zu skeptisch, dabei zu wenig »moralisch« war er, wollte er sein.
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Franziska Thun-Hohenstein
Das Leben schreiben. Warlam Schalamow. Biographie und Poetik.
Matthes & Seitz Berlin, 540 S.