Wie identitätsstiftend ist Literatur für Jugendliche? Wie wichtig ist es, dass schwere Themen Einzug in die Kinder- und Jugendliteratur halten? Und wie düster darf sie sein? Wir haben bei Brigitte Sindelar, klinische Psychologin und Psychotherapeutin mit dem Schwerpunkt Kinder und Jugendlichenpsychotherapie, nachgefragt. Foto: Christian Michelides.


Buchkultur: Wie wichtig, wie identitätsstiftend ist Literatur für Jugendliche? Wie heilend kann Literatur für Jugendliche sein, die (gerade in unsicheren Zeiten wie unseren) auch schwere Themen aufgreift wie Krankheit, Tod, toxische Männlichkeit, Krieg, Kriminalität? Oder Themen wie gleichgeschlechtliche Liebe usw.? Kann Literatur Medizin sein? 

Brigitte Sindelar: Eine zentrale Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz, also des Jugendlichenalters, ist die Identitätsfindung. Dazu suchen Jugendliche Identifikationsfiguren, und suchen diese überall – in ihrem engeren sozialen Umfeld, in Vorbildern, auch Idolen aus den unterschiedlichsten Bereichen, also nicht nur in der Musik und in der darstellenden Kunst, sondern ebenso im Sport, in der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Politik und vielem mehr. Und sie suchen über verschiedene Kanäle – Literatur ist einer davon, wenngleich heute nicht der frequentierteste.
Und daher hat die Literatur für Jugendliche immer einen wichtigen identitätsfördernden Effekt, unabhängig davon, ob der/die Autor/in das beabsichtigt.

Als Medizin oder heilend würde ich Literatur für Jugendliche nicht bezeichnen, da das Jugendlichenalter keine Krankheit ist. Aber sehr wohl hat Literatur für Jugendliche ein signifikantes Potenzial, sie bei der Orientierung in ihrer Identitätsfindung zu beeinflussen, wenn sie sich mit den Protagonist/innen identifizieren – ein Beleg dafür im Negativen ist der »Werther-Effekt« oder heute, wenngleich in einem anderen Medium, der Anstieg der Suizidrate bei jugendlichen Mädchen und jungen Frauen im zeitlichen Zusammenhang mit der Netflix-Serie »Tote Mädchen lügen nicht«.

Wie wichtig ist es, dass schwere Themen Einzug in die Jugendliteratur finden? Kann es Jugendlichen helfen, sich mit Protagonist/innen zu identifizieren, die Krisen bewältigt haben und daran trotz allem nicht zerbrechen? Wenn sie sehen/lesen, dass man es sozusagen schaffen kann?

Schwere Themen in der Literatur für Jugendliche in einer Form aufzugreifen, die eine positive Perspektive, Hoffnung und vor allem den Gedanken der »Selbstwirksamkeit« haben, also die Idee, dass auch bei Schicksalsschlägen zwar keine Lösung (im Sinne des Wunders), aber eine positive Einflussnahme möglich ist, bietet einen psychohygienischen Effekt im Zuge der Identifikation der Jugendlichen mit den Protagonist/innen an, im Sinne des »Papageno-Effekts«, der die Vorbildwirkung von jungen Menschen, die Krisensituationen überwunden haben, für die, die in der Krise sind, meint. Und eben deswegen ist es wichtig, dass solche Themen in die Jugendliteratur finden: Sie bieten die Identifikation mit den jungen Menschen an, die in Krisensituationen Kräfte zur Bewältigung mobilisieren konnten, und das macht Mut und Hoffnung.

Wie düster, schwer dürfen Romane für Jugendliche sein?

Sie dürfen durchaus schwer und düster sein, einfach weil es Lebensumstände gibt, die real schwer und düster sind. Sie sollten aber immer wieder einen Bezug zwischen Gefühl und Realitätsprüfung herstellen lassen – eine unglückliche Liebe ist ein schweres und düsteres Gefühl, das immer, aber besonders in dem Alter, in dem die Amplitude der Gefühle naturgemäß besonders groß ist, ernst genommen werden muss, aber ein anderes ist als die Gefühle der Dunkelheit, der Bedrohung und Schwere durch einen Krieg oder eine soziale Isolation aufgrund der Kriminalität der Eltern. Und der Roman sollte nicht hoffnungslos enden. Romane erzeugen in jedem Alter Bilder im Kopf, und diese Bilder werden eingefärbt durch die individuelle Persönlichkeit. Und diese Bilder im Kopf sind bei weitem schwerer zu löschen als Bilder, die man ins Internet stellt, und das ist bekanntlich ja schwer genug.

Wie wichtig ist es in diesem Zusammenhang, dass Jugendbücher mit einem vielleicht nicht vollkommenen, aber doch einer Art »Happy End«, mit einer Perspektive, einer Aussicht auf eine halbwegs glückliche Zukunft enden? 

Ja, das ist besonders wichtig – Jugendliteratur, die Protagonist/innen anbietet, mit denen sich der/die Jugendliche identifizieren kann, in denen er/sie sich wiederfindet, regen zur Imitation an, auch in der Perspektive auf die Zukunft. Und eine Perspektive »schwer, aber nicht hoffnungslos« akzeptiert einerseits das Gefühl bzw. die Gefühle, lässt anderseits die jugendlichen Leser/innen damit aber nicht alleine hängen. Lesen ist immer eine Tätigkeit, die man alleine ausübt. Und daher hat die Jugendliteratur auch die Aufgabe, die jugendlichen Leser/innen eben nicht alleine zu lassen mit den Gefühlen, die sie in ihnen auslöst.

Lernen Kinder und Jugendliche durch solche Geschichten auch Empathie? Dass man aus Krisen im besten Sinn etwas machen kann? 

Geschichten, in denen Identifikationsfiguren vorkommen, befördern und fördern daher auch die soziale Perspektivenübernahme. Jugendliche fühlen sich beim Lesen besonders gut in die Protagonist/innen ein, wenn diese in einem ähnlichen Alter sind (Das machen ja auch schon Kinder – auf diesem Gedanken basieren die Kinderbücher, die Vorbild geben wollen, wie zum Beispiel »Anna und die Wut« oder aktuell die Kinderbücher zum Thema: Wie mit Kindern über den Krieg sprechen?). Und wenn die Protagonist/innen Züge des Jugendlichenalters haben, die die jugendlichen Leser/innen von sich selbst kennen, versetzen sich die Leser/innen ganz spontan in diese hinein, sehen deren Welt mit deren Augen, was ihre Empathiefähigkeit fördert, weil sie durch die Gleichheit der Lebensphase emotionale Anknüpfungspunkte an den/die Protagonisten/in haben. Und genau das ist Empathie. Mit Alfred Adler ausgedrückt, der es nicht mit dem Wort »Empathie« bedacht hat – das war zu der Zeit nicht so geläufig –, sondern eigentlich angesprochen hat, was die Aufgabe des/der Psychotherapeut/in ist: »Mit den Augen des Anderen zu sehen, mit den Ohren des Anderen zu hören, mit dem Herzen des Anderen zu fühlen«. Das geschieht mit dem/der Jugendlichen, der/die liest, was ein anderer junger Mensch erlebt hat und wie er damit umgegangen ist.

Brigitte Sindelar ist eine österreichische PsychologinPsychotherapeutin nach Alfred Adler (Individualpsychologie), Autorin und Hochschullehrerin. Sindelar leitet die Abteilung Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien.