Kate Mortons ausgreifender und intensiver Mammutroman über Mysterien, Mord, Geheimnisse und Verschwiegenes in einer Familie


Auf der Stelle und sofort: Als sie Anfang Dezember 2018 via Telefon erfährt, dass ihre Großmutter Nora im Spital liegt, bucht Jess Turner-Bridges umgehend einen Flug. Nora sei gestürzt – in ihrem Alter sei dies immer mit Komplikationen verbunden – also fliegt die Journalistin von London nach Sydney und kehrt ins Darling House, so der Name der großmütterlichen Villa, zurück. Überrascht ist sie, dass ihre Großmutter, die Jess aufzog, nachdem ihre Mutter Polly sich allem entzogen hatte, von einer Leiter gefallen ist. Sie wollte mit dieser auf den Dachboden gelangen. Aber warum? Als Antwort erhält sie von Nora eine panisch gestammelte Antwort, »er« wolle ihr die Seiten wegnehmen. Wer ist »er«? Und welche Seiten? Konkretes kann sie der Verstörten nicht entlocken.

Jess macht sie sich auf die Suche und stößt auf das Buch des Autors Daniel Miller. »As If They Were Asleep« (»Als ob sie schliefen«) ist eine True Crime-Reportage über gewisse Ereignisse am Neujahrstag 1959 und etwas, wovon Nora ihrer Enkelin nie erzählt hatte. Das Buch behandelt den Tod von Noras Schwägerin Isabel und deren drei Kindern, 14, 10, 9, auf ihrer Farm in den Adelaide Hills, seinerzeit als Mord und Selbstmord der Mutter eingestuft, sowie um das gleichzeitige rätselhafte Verschwinden und den mutmaßlichen Tod von Isabels jüngstem Kind, noch ein Baby. Tief enttäuscht, dass ihre Großmutter es nicht erwog – oder sich nicht überwinden konnte? –, sie ins Vertrauen zu ziehen, recherchiert Jess weiter, beginnt, die Geheimnisse der Familienkatastrophe auszuleuchten und an den Familienbanden – das Verhältnis etwa zu ihrer Mutter Polly ist fast heillos zerrüttet – zu zerren.

Die 1976 geborene Australierin Kate Morton, die seit ihrem Studium in London wohnt, ist seit ihrem Debüt »The House at Riverton« (2006, deutsch »Das geheime Spiel« und gleich ein Bestseller) eine raffinierte Erzählerin. In einem Interview bekannte sie einmal, vor dem eigentlichen Schreiben an die zehn Notizbücher, alle sorgfältig abgestimmt auf Ton- und Klangfarben des Schreibprojekts, zu füllen, mit Ideen, Sätzen, Fragmenten, Zeichnungen, Pfeilen, die von einer Idee auf die nächste verweisen. Bei »Heimwärts« müssen es extra viele gewesen sein. Die Fülle und die Kunstfertigkeit merkt man im leichthändig miteinander verwobenen Geflecht zeitlich unterschiedlicher Erzählebenen. Auch Auszüge aus Millers Buch sind eingebaut. In diesem Roman, neuerlich eine täuschend leichte Lektüre mit tiefem Gehalt, hat Morton verglichen mit Vorgängerbänden das Erzähltempo um ein Weniges gedrosselt, was jedoch das Finale um so überraschender macht.

Kate Morton
Heimwärts
Ü: Stefanie Fahrner, Judith Schwaab
Heyne, 688 S.