»Die Küche der Armen« von Huguette Couffignal ist ein faszinierender Streifzug durch die Ethnologie des nutritiven Überlebenskampfs. 

Wer hungrig ist, verwandelt sich in eine tobende Diva – so die alberne Werbung eines Schokoriegel-Herstellers. Nahrungsmangel ist jedoch eine ernste Sache mit fatalen Folgen: »Die Veränderungen der Psyche im ersten Stadium des Hungerleidens sind gut bekannt«, liest man bei Huguette Couffignal. »Erst kommt die Depression, die Apathie, der Egoismus und die Abnahme sozialer Fähigkeiten. Hunger ist asozial. Wer einmal die Opfer der Entbehrung gesehen hat, versteht die Ursache für das überwältigende Desinteresse am anderen, das sich zeigt im betonten Wegschauen der Passanten von einem, der auf dem Bürgersteig zusammengesunken ist.« Couffignal schrieb das in den Siebziger Jahren. Der 2021 wiederauferstandene März-Verlag hat diesen Klassiker seines Backkatalogs nun überarbeitet, aktualisiert und ergänzt.

Es war aber bereits beim ersten Erscheinen ein äußerst ungewöhnliches Kochbuch. Denn dieser Band ist nicht bloß Haushaltshilfe und Konsumanreiz wie für dieses Medium üblich. Couffignal liefert eine ausführliche Darstellung der Armut in der Welt und mit welchen Mitteln Menschen diesem Schicksal trotzen. Sie nimmt einleitend durch einen ethnologischen Essay die Leserschaft mit auf eine anthropologische Expedition und berichtet von Appetitzüglern und Hungertäuschern.

Sprichwörtlich »Dreck fressen« machen etwa viele Menschen buchstäblich: Erde zu essen ist international üblich – in Guayana, Sibirien oder Neukaledonien: »Manchmal wird Erde zubereitet, wie zum Beispiel auf den pazifischen Inseln, wo man sie mit Wasser verdünnt und in flache ›Küchlein‹ zerteilt, die auf dem Feuer ›gebraten‹ werden. Eine bestimmte Sorte Ton, die aus dem Moor gewonnen wird, vermischt man mit Fruchtsaft sogar zu einer Art Marmelade!« Aber über den knurrenden Magen trösten sich Menschen auch mit Stimulanzien hinweg: In Südamerika kaut man Coca-Blätter, betrinkt sich mit Maisbier und Pulque – eine Art alkoholhaltige Molke aus Agaven – oder nascht in Form von Meskalin die »mystischen Gaben« der Kakteen.
Mystisch ist auch Couffignals Person: Weder eine Vita noch ein Foto sind von ihr zu finden. Dieses Phantom liefert dennoch zahlreiche Einblicke in die Kulturtechnik des Kochens als Produkt menschlichen Überlebenskampfs mit all seinen handwerklichen Praktiken und sozialen Ritualen: So behauptet Couffignal, dass bei den Jivaros (ein Ureinwohnerstamm aus Peru, der angeblich Kannibalismus praktizierte) für den Häuptling der Kopf des Opfers reserviert war – das Hirn aber verputzte der Medizinmann.

So unappetitlich geht es hier jedoch nicht immer zu. Den Löwenanteil des Buches machen zahlreiche Rezepte aus, die die Vielfalt der Speisen auf allen Kontinenten zeigen. Damit dokumentiert dieses Buch zum einen, dass das Elend in den Entwicklungsländern bedauerlicherweise seit über 50 Jahren insgesamt nicht abgenommen hat, zum anderen aber auch wie sich die westliche Ernährung durch die Globalisierung veränderte: Viele Gerichte, die Couffignal seinerzeit als kulinarische Obskuritäten präsentierte, sind heute auf dem alltäglichen Speiseplan zu finden – vom Hummus bis zum Taco.


Huguette Couffignal
Die Küche der Armen. Mit 300 Rezepten aus aller Welt
März, 368 S