Woher kommt meine unerklärliche Wut und wie kann ich verhindern, dass sie meine Beziehung vergiftet und meinen Kindern Angst macht? In seinem Roman »Verbrenn all meine Briefe« findet der renommierte schwedische Autor Alex Schulman Antworten, die die eigene Familiengeschichte für immer umschreiben. Foto: Martin Cederblad.


Alle Fäden laufen bei seinem Großvater, dem schwedischen Schriftsteller Sven Stolpe, zusammen. 1932 verliebte sich seine Frau Karin in Stolpes späteren Konkurrenten, den damals noch unbekannten Dichter Olof Lagercrantz. Als sie ihre gewalttätige Ehe für ihn verlassen will, kommt es (fast) zur Katastrophe. Im Interview spricht Alex Schulman über Schreiben als Therapie, die Last und Bedeutung der Vergangenheit, seine Kindheit und die Verantwortung der Vaterschaft.

Buchkultur: Ihr Roman beginnt mit einer Frage: Woher kommt die unerklärliche Wut, die ich in mir trage? Und im Laufe des Buchs erfährt man, dass diese Wut viel mit Ihrem Großvater und einem Familiengeheimnis zu tun hat. Wie hat diese Wut Ihr Leben beeinflusst, geprägt?

Alex Schulman: Nun, diese Frage hat mich dazu gebracht, diese Geschichte zu schreiben. Gibt es so etwas wie vererbte Wut? Nach einem großen Streit mit meiner Frau ging ich in Therapie und machte eine Familienaufstellung. Ich schrieb die Namen aller Mitglieder meiner Familie mütterlicher- und väterlicherseits auf. Als ich fertig war, bat mich die Therapeutin, Striche zwischen den Personen zu zeichnen – einen geraden Strich, wenn die Verbindung zwischen ihnen gut ist und eine Zickzacklinie, wenn es zwischen ihnen einen Konflikt gab. Es war so klar, als ich fertig war: Auf der Seite meines Vaters nur gerade Striche. Auf der Seite meiner Mutter nur Zickzacklinien. Und darüber hinaus zeigten alle Zickzacklinien auf einen Mann: meinen Großvater, den Schriftsteller Sven Stolpe. Das wollte ich untersuchen. Was ist mit ihm passiert? Wann begann die Wut dieser Familie? Und wenn ich es herausfände: Könnte mir diese Information helfen?

Als Leserin, als Frau, hatte ich großes Mitleid mit Ihrer Großmutter, die es nicht schaffte, ihr Leben zu leben und sich aus einer sehr schmerzvollen Beziehung zu befreien. Hat Ihnen das, was Sie herausgefunden haben, geholfen, die Vergangenheit und die Gegenwart besser zu verstehen? Wie sehr beeinflussen und prägen uns die in der Vergangenheit ungelösten Dinge, Probleme? Wie sehr beeinflussen sie die künftigen Generationen und die Zukunft?

Ich glaube, die Verbindungen sind stark. Stärker als wir glauben. In Schweden sagt man: »Was geschehen ist, ist geschehen.« Es meint: Kein Grund, sich damit aufzuhalten! Man muss im Leben nach vorn schauen! Die Zukunft ist noch nicht geschrieben und die Vergangenheit ist schon passiert. Je länger ich lebe, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass es umgekehrt ist. Die Vergangenheit verändert sich ständig. Die Erinnerungen sind lebendig! Und die Zukunft, scheint es, ist bereits festgeschrieben. Die Entscheidungen, die ich treffe, sind vorherbestimmt – vielleicht sogar schon vor meiner Geburt.

Wie wichtig ist es, sich der Vergangenheit zu stellen, Vergangenes aufzuarbeiten, um Probleme in der Gegenwart und der Zukunft zu lösen? Ist es essenziell, tief in den Schmerz, in die Dunkelheit einzutauchen, um ganz und heil zu werden? Man kommt auch als Gesellschaft (siehe Österreichs späte Aufarbeitung seiner Rolle in der Nazi-Zeit) nur voran, wenn man sich seiner dunklen historischen Vergangenheit stellt. Gilt das auch in persönlichen Angelegenheiten? Wie wichtig ist die Vergangenheit?

Für mich ist die Vergangenheit alles. Ich lebe mein Leben in der Vergangenheit. Als ich jung war, dachte ich, ich würde das machen, um die Vergangenheit wiederzuerschaffen. Um noch einmal in meiner Kindheit zu sein. Aber ich weiß jetzt, dass ich es tue, um mich selbst zu verstehen.

Ist Schreiben therapeutisch für Sie?

Alex Schulman: Ja, ganz bestimmt. Ich beschäftige mich in meinem Schreiben viel mit persönlichen Traumata. Der einfachste Weg, mit der Erinnerung an ein Trauma umzugehen, ist es, sie wegzuschieben. Aber wenn man darüber schreibt, wenn man sich da wirklich durchschreibt, gibt es kein Entkommen. Und wenn man auf der anderen Seite wieder herauskommt, fühlt es sich tatsächlich ein bisschen besser an.

Hilft das Schreiben (darüber), um ein besserer Vater zu werden, es besser zu machen als Ihre Eltern und Großeltern? Hilft es, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten, um nicht dieselben Fehler mit seinen eigenen Kindern zu wiederholen? Wie hat die Vaterschaft Sie verändert?

Nun, das ist zumindest die Mission. Ich glaube, wir müssen uns eingestehen, dass wir als Eltern unseren Kindern Schaden zufügen. Die Aufgabe ist es, ihn zu minimieren! Ich versuche, auf diese Weise aus meiner Kindheit zu lernen, und manchmal habe ich das Gefühl, dass es hilft. Ich bin meinem eigenen kindlichen Ich so nahe – das hilft mir, meinen Kindern näherzukommen.

Sie haben auch ein Buch über Ihre alkoholkranke Mutter geschrieben. Glauben Sie, dass das, was Sie über Ihre Großeltern herausgefunden haben und worüber Sie in »Verbrenn all meine Briefe« schreiben, auch beeinflusst hat, wie Ihre Mutter wurde? Ist das die Wurzel Ihrer Sucht?

Ja. Und das ist interessant und traurig. Hinter einem Leid steht immer ein anderes Leid – und das geht endlos so weiter. Meine Mutter wuchs in einer Familie auf, der es an Liebe mangelte, mit Eltern, die keine Liebe zeigen konnten. Wie hätte sie als Mutter Liebe zeigen können, wenn ihr niemand beigebracht hat, wie man das macht, als sie jung war?

Ihre Großmutter wurde von Ihrem Großvater verteufelt und von Olof Lagercrantz auf ein Podest gehoben (die typischen Stereotype, die Männer oft von Frauen haben/hatten). Was für eine Frau war Ihre Großmutter wirklich? Weshalb hat sie Ihren Großvater nicht verlassen? Hat sie ihr eigenes Leben »geopfert«, um Ihren Liebhaber vor Ihrem gewalttätigen Mann zu retten?

Darauf gibt es mehrere Antworten. Zunächst: Ich glaube, sie hatte Angst. Mein Großvater hat offensichtlich versucht, meine Großmutter umzubringen, als er von der Affäre erfuhr. Eine zweite Antwort: Sie hatte kein Geld. Sven Stolpe war derjenige mit dem Geld. Und drittens: Das war in den Dreißigern. Sie waren ein Jahr verheiratet und sie waren beide katholisch. Es war nicht leicht, den Ehemann zu verlassen. Aber ich glaube, dass sie sich vor allem davor fürchtete, was er tun könnte, wenn sie ihn wirklich verlassen würde.

In Schweden ist Ihre Familie sehr bekannt. Ihr Großvater war eine Art Institution, genauso wie Olof Lagercrantz. Wie wurde Ihr Roman in Schweden aufgenommen? Wie haben Ihre Familie und die Familie von Olof Lagercrantz reagiert?

Nun, meine Großeltern sind seit langem tot. Meine Familie mütterlicherseits wollte das Buch nicht lesen und nicht darüber sprechen. Ich schickte ihnen das Manuskript vor der Drucklegung, aber niemand antwortete. Die Wut, die mit meinem Großvater begann, ist dort immer noch präsent.

Ihr Buch berührt sensible Themen. Wie hat die Familie, wie haben die Kinder Olof Lagercrantz’ (der ja auch schon verstorben ist) auf Ihr Vorhaben, über so persönliche Dinge zu schreiben (wie seine Affäre mit Ihrer Großmutter), aufgenommen? Wie findet man die Balance zwischen dem Wunsch, die Wahrheit zu erzählen, und der Rücksicht auf die Beteiligten? Und was macht ein privates Thema zu einem universellen?

Die Familie Olof Lagercrantz’ hat mich unterstützt. Ich werde niemals vergessen, wie ich David Lagercrantz kontaktierte, den Autor der »Millenium«-Fortsetzungen und der Biografie des schwedischen Fußballers Zlatan Ibrahimović und außerdem Olof Lagercrantz’ Sohn. Ich erzählte ihm, dass ich an diesem Buch schreibe und gerne hätte, dass er das Manuskript liest, ehe es in Druck geht, weil es in der Geschichte so viel um seinen Vater geht. Er antwortete: »Ich möchte keine einzige Zeile lesen. Und ich will nicht, dass du auch nur eine Sekunde darüber nachdenkst, was ich davon halten würde. Ich möchte, dass du im Schreibprozess vollkommen frei bist.« Ich habe selten für jemanden größeren Respekt gehabt als für ihn in diesem Moment.

Wenn Sie an Ihren Großvater zurückdenken: Gibt es auch etwas, das Sie ihm verdanken? Hat er Sie je darin bestärkt, selbst zu schreiben, Schriftsteller zu werden?

Oh ja! Er war mein größtes Idol. Seinetwegen wollte ich schreiben. Ich schickte ihm immer Gedichte, und er antwortete immer und war sehr nett und ermutigend. Sie dürfen nicht vergessen: In vielerlei Hinsicht war Sven Stolpe eine fantastische Persönlichkeit, schillernd und mit einem großen Sinn für Humor.

Wie gefällt Ihnen denn die gerade angelaufene Verfilmung Ihres Romans »Verbrenn all meine Briefe«?

Es war eine merkwürdige Reise. Am Anfang, als ich die ersten Drehbuchentwürfe las, dachte ich: Wie soll das funktionieren? Das Buch beginnt mit einem Streit zwischen meiner Frau und mir – aber das wird nicht weiter ausgeführt oder ausgesprochen, der Streit findet zwischen den Zeilen statt. Aber im Film kann man Dinge nicht zwischen den Zeilen erklären. Und so handeln die ersten acht Minuten des Films von einem GROSSEN Streit zwischen meiner Frau und mir, in dem ich schreckliche Dinge sage und tue. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, so dargestellt zu werden. Aber schließlich merkte ich, dass ich es loslassen muss. Der Regisseur muss seine eigene Interpretation machen dürfen. In gewisser Weise könnte man sagen, dass ich dem Regisseur Björn Runge dasselbe sagte, was David Lagercrantz mir sagte: Das ist jetzt deine Geschichte. Mach damit, was auch immer du willst.

Kommen wir zu Ihrem Roman »Die Überlebenden«: Da geht es um drei einander als Erwachsene entfremdete Brüder, die sich wiedertreffen, um die Asche ihrer verstorbenen Mutter im See ihrer Kindheit zu verstreuen. Alte Wunden brechen wieder auf. Das Buch ist ein Roman, aber viele Elemente darin sind autobiografisch. Als Kinder waren Sie und Ihre Brüder einander sehr nah. Hat das mit der dysfunktionalen Familie zu tun, in der Sie und Ihre Brüder aufwuchsen (denn Kinder halten oft sehr stark zusammen, wenn ihre Eltern ihnen nicht genug Halt und Sicherheit geben können)? Was hat Sie einander dann später entfremdet?

Ich habe so viel darüber nachgedacht, und ich habe wirklich keine Antwort darauf. Ist das nicht bei vielen erwachsenen Geschwistern so? Wir waren einander als Kinder so nah, und nun sind wir wie Fremde füreinander. Vielleicht hat es mit dem Panzer zu tun, den wir uns als Kinder zulegten. Die Panzer werden nun nicht mehr gebraucht, aber keiner von uns hat eine Ahnung, wie wir sie wieder loswerden.

Wie waren Sie als Kind? Ist die Einsamkeit Benjamins, des mittleren Bruders, das Wetteifern um die Liebe der Eltern etwas, mit dem Sie sich identifizieren können?

Ich bin in fast jeder Hinsicht dieser Bub, Benjamin.

In Ihrem Buch »Forget Me« schreiben Sie über Ihre alkoholkranke Mutter und die Auswirkungen, die das auf Sie als Kind hatte. Darf ich Sie fragen: Konnten Sie mit Ihrer Mutter über das sprechen, was passierte, und sich mit ihr versöhnen?

Nein. Meine Mutter hörte 2013 auf zu trinken. Und war trocken. Und langsam fanden wir zueinander. Wir redeten und redeten miteinander, und ich wollte mit ihr darüber sprechen, was passiert ist, aber ich wusste, dass es Zeit brauchen würde. 1,5 Jahre, nachdem sie trocken war, starb sie.

Viele junge Autor/innen beginnen mit autobiografischen Büchern. Schreibt das Leben die besten Geschichten? Was bedeutet Wahrhaftigkeit in der Literatur?

Ich glaube, die Diskussion ist gestört und seltsam. Mein neuer Roman »Malma station« ist reine Fiktion in dem Sinne, dass ich fünf Menschen porträtiere, die es nicht gibt. Aber andererseits dreht sich alles um mich oder um Menschen, die mir nahe sind. Es gibt keine einzige Zeile in dem Buch, die nicht wahr ist, auch wenn sie erfunden ist.

Wovon handelt denn Ihr gerade erschienener Roman »Malma station«?

Alex Schulman: Es geht um eine Zugfahrt. Ich folge den Geschichten dreier Personen in diesem Zug. Sie fahren alle zum Bahnhof Malma, und die Ereignisse dort werden ihr Leben verändern. In gewisser Weise geht es in dem Buch um das, worum es in allen meinen Büchern geht: Dass ich eine Antwort auf die Frage geben will, was passiert ist.


Alex Schulman, geboren 1976, ist einer der populärsten schwedischen Schriftsteller der Gegenwart. Sein Roman »Die Überlebenden« erschien 2021 bei dtv und wurde in 30 weitere Sprachen übersetzt. Mit »Verbrenn all meine Briefe« gelang Schulman in Schweden 2018 der Durchbruch als literarischer Autor, der Roman wurde zu seinem bisher erfolgreichsten Bestseller.

Verbrenn all meine Briefe
Ü: Hanna Granz
dtv, 304 S.