Zwischen Entäußerung und Befreiung: Andrea Roedig und ihr autofiktionaler Roman „Man kann Müttern nicht trauen“.
Warum verlässt eine Frau ihre noch minderjährigen Kinder? Welche Spuren hinterlässt das bei ihnen? Diesen Fragen geht Andrea Roedig (Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift „Wespennest“) aus eigener Betroffenheit nach. Sie war zwölf, als ihre Mutter die Familie verließ. Wie man als Kind damit weiterlebt und welche Wunden davon zurückbleiben, davon erzählt dieses bestürzend-schaurige Buch, für das Roedig auch mit anderen Müttern und deren zurückgelassenen Kindern gesprochen hat.
„Vertrautheit ohne Boden“: „Man kann Müttern nicht trauen“ rekonstruiert das Leben einer Fremden. Denn Lilo, die Mutter, bleibt eine Fremde – auch, nachdem sie sich drei Jahre später wieder bei ihren Kindern (eine Tochter, ein Sohn) zurückmeldet. Halt gibt es schon vor ihrem Verschwinden keinen. Die Eltern trinken, Lilo greift auch nach Tabletten. Der Vater, ebenfalls Alkoholiker, macht sich nach dem Konkurs der familieneigenen Fleischerei rar, manchmal gibt es tagelang nichts Ordentliches zu essen, die Kinder verwahrlosen zusehends, ehe sie ins Heim und ins Internat kommen.
Wer war die Frau, die mich geboren hat? Worin bestand ihr Unglück? Und wieviel davon gab sie weiter? Lilo ist Jahrgang 1938, ein Kriegskind. Der Vater fällt im Krieg, die Mutter züchtigt sie – das bleibt Lilos lebenslanges Trauma. Sie wird es fortan für ihr eigenes Versagen ins Feld führen. Ihre frühe Heirat verspricht zwar sozialen Aufstieg und zunächst auch finanziellen. Doch auch in den 60er und 70er Jahren sind die Wahlmöglichkeiten der Frauen in der Praxis nach wie vor begrenzt und Freiheit hat ihren Preis. Lilo wird es hart zu spüren bekommen, als ihr der Schwiegervater die Tür weist.
Mütter, die gehen? Andrea Roedigs Geschichte ist auch eine kritische über Mutterschaft, eine schmerzliche Auseinandersetzung mit einem nach wie vor tabuisierten Thema – für alle Beteiligten –, das an den Grundüberzeugungen unserer patriarchalen Gesellschaft rüttelt. Der sehr persönliche Versuch einer Annäherung an ein Phantom: erschütternd und ernüchternd ehrlich. Die Suche nach der (eigenen) Mutter ist eine lebenslange, die Narben einer nicht geglückten Bindung sind bleibende. Schuld bindet und Schuld trennt. Und auf viele Fragen gibt es keine Antworten. Damit umzugehen, ist schwer. Es aufzuschreiben, befreiend. Ein Buch wie ein Abschied – schmerzhaft und leicht zugleich und großartig erzählt.
—
Andrea Roedig
Man kann Müttern nicht trauen
dtv, 240 S.