Wenn Aurore Dupin in Paris unterwegs war, legte sie am liebsten Männerkleidung an, um ihrem Alltag ohne Belästigungen nachgehen zu können. Auch ihre zahlreichen literarischen Werke verfasste die einzige französische Schriftstellerin, die im 19. Jahrhundert gut von ihrer Feder leben konnte, unter einem männlichen Pseudonym. Gleichzeitig betont die als George Sand in die Literaturgeschichte eingegangene Autorin in der Vorbemerkung ihres 1854 entstandenen „Dialogromans“ Gabriel, sie habe selbigen innerhalb weniger Tage in einem Hotelzimmer in Marseille verfasst, während um sie herum ihre Kinder lärmten und spielten. Damit nimmt sie das wichtigste Thema ihrer Erzählung vorweg: die oft starren Geschlechterkategorien und Rollenvorstellungen des 19. Jahrhunderts – und deren Überwindung!

Der Roman, der nicht als klassischer Prosatext geschrieben, sondern vielmehr wie ein Theaterstück aufgebaut ist, spielt im Italien der Renaissance und folgt dem jungen Gabriel, der auf Befehl seines Großvaters, dem Fürsten von Bramante, fernab der Gesellschaft in Isolation erzogen und auf seine Rolle als Erbe des fürstlichen Titels und Vermögens vorbereitet wurde. Erst im Alter von 17 Jahren erfährt er schließlich eine nur wenigen Menschen bekannte Wahrheit, die sein Leben für immer verändern und tragische Konsequenzen für alle Beteiligten haben wird: Gabriel wurde als Mädchen geboren. Sein rachsüchtiger Großvater will ihn zu Keuschheit verpflichten und vor der Gesellschaft als Mann ausgeben, damit sein Fürstentum nach seinem Tod nicht seinem verhassten zweiten Enkel, Gabriels draufgängerischem Cousin Astolphe, zufällt. Als Gabriel sich seinem Großvater widersetzt und die Nähe zu Astolphe sucht, nimmt das Unglück seinen Lauf …

Die altertümliche Sprache, die ungewöhnliche Form und die mitunter etwas melodramatische Handlung könnten diesen unkonventionellen Roman für einige moderne Leser/innen durchaus zur Herausforderung werden lassen – allerdings zu einer Herausforderung, die sich unbedingt lohnt! Denn George Sand stellt darin wichtige Fragen über Liebe und gesellschaftliche Konventionen, über die Angst der Männer vor der Emanzipation der Frauen, über Integrität, Freiheit und Selbstbestimmung, die heute nicht weniger aktuell sind als zu George Sands Zeiten. Umso schöner, dass dieser faszinierende Text in der gelungenen Übersetzung von Elsbeth Ranke nun mit fast 170 Jahren Verspätung endlich auch für deutsche Leser/innen zugänglich ist.

George Sand
Gabriel
Ü: Elsbeth Ranke
Reclam, 176 S.