Kann »Gewöhnlichkeit« ein erstrebenswertes Ideal sein, gar von der Politik gefördert? Im Schweden des 20. Jahrhunderts prägte das »folkhemmet« – wörtlich übersetzt »Volksheim« – die Gesellschaft maßgeblich, eine politische Metapher für den schwedischen Wohlfahrtsstaat. Im Interview mit Buchkultur erklärt Lena Andersson ihren Antrieb, den Roman »Der gewöhnliche Mensch« zu schreiben, der bereits 2018 auf Schwedisch erschien. Foto: bokforlagetpolaris.se.


»Das Normale«, heißt es im Roman, sei eine Tugend. »Von Größe zu träumen, hieß, das Normale für untauglich zu erklären, und das wollte er nicht.« Er, das ist Ragnar Johansson, Möbeltischler und Werkstattlehrer und starker Verfechter des folkhemmet. Doch seine Überzeugung und sein Glaube an den Menschen als unbeschriebenes, vom Staat formbares Blatt wird stark auf die Probe gestellt.

Buchkultur: Wie lange haben Sie an Ihrem Roman gearbeitet – auf Schwedisch erschien er ja bereits 2018 – und was war Ihr Antrieb, ihn zu schreiben?

Lena Andersson: Normalerweise brauche ich anderthalb Jahre, um einen Roman zu schreiben, und dieses Buch war keine Ausnahme. Auf gewisse Weise habe ich schon mein ganzes Leben lang daran geschrieben, da es um ein Thema geht, das mir sehr nahe liegt, aber selbst das ist ganz egal, die Schreibarbeit dauert so lange, wie sie eben dauert – das formale Arrangement, wie die Geschichte erzählt werden soll, wie die Figuren eingeführt werden sollen, welchen Ton ich anschlage, welche Perspektive ich auswähle und so weiter.

Mein Antrieb, diesen Roman zu schreiben, war vor allem mein Wunsch, die schwedische Gesellschaft und ihren außergewöhnlichen geistigen und materiellen Wandel im 20. Jahrhundert darzustellen. Durch drei Generationen einer sehr typischen Familie, in einer Ära, deren politische Ambition und unerschütterlicher Glaube in die Macht des Staates, die Lebensbedingungen grundlegend zu verbessern, für viele beispiellos war.

Die deutsche Übersetzung des originalen Buchtitels »Sveas son. En berättelse om folkhemmet« lautet »Der gewöhnliche Mensch«. Denken Sie, dass sie passend ist?

Ja, ich denke schon. Zumindest geht es im Buch um einen Menschen, der sich nicht dagegen wehrt, »gewöhnlich« zu sein. Ragnar ist jemand, der umsichtig, aber nicht unbedingt gebildet ist, und der der Meinung ist, dass – wenn man so darüber nachdenkt – »Gewöhnlichkeit« auf die meisten Leute zutrifft und unumgänglich ist, wir müssen sie also akzeptieren und begrüßen. Er denkt auch, dass wir genau diese existenzielle Verfasstheit berücksichtigen müssen, wenn wir unsere Gesellschaft organisieren und herausfinden, welche Ideen regieren sollen.

Trotzdem ist Ragnar ehrgeizig, das zeigt sich in seinem Wetteifer für sich und seine Kinder beim Sport. Er hat in sich einen Drang nach Größe, nach etwas Größerem als die öde »Gewöhnlichkeit«.

Können Sie für die nicht-schwedischen Leser/innen erklären, was »folkhemmet«, also »Volksheime« sind und was sie bedeuteten und auch heute noch bedeuten?

In den Jahren 1932 bis, sagen wir, 1991, regierte die Sozialdemokratische Partei beinahe ununterbrochen und veränderte Schweden von Grund auf. Die bürgerliche Schicht wurde durch politische Reformen langsam abgetragen, wodurch die Macht nochmal stärker in die Hände des Staates und der Partei gelegt wurde als in die Hände des Volkes. Die Ära war deutlich vom Glauben an den technischen Fortschritt als Mittel zum gesteigerten Wohl geprägt, vom materiellen Fortschritt, Rationalismus und gesellschaftspolitischen Maßnahmen. Die Idee, dass zum Wohl des Volkes alles geplant werden kann, und nicht spontan geschieht, geht übrigens auf den österreichischen Ökonomen F. A. Hayek zurück!

Es war eine Zeit der starken Säkularisierung, des ungemilderten Materialismus, des Unglaubens in die traditionelle Philosophie (Metaphysik, Platon) und des starken Glaubens an die moderne Wissenschaft, selbst, wenn es um Probleme philosophischer Natur ging. Alle Ideen, die nicht brandneu waren, wurden verworfen. Das führte zu einem gewissen Erfindungsreichtum und Kreativität, vor allem in den Sechzigern, und es herrschte die große Überzeugung vor, dass es möglich – und somit auch Pflicht – war, eine Gesellschaft zu kreieren, die es noch nie zuvor gegeben hatte, mittels und auch für einen neuartigen Menschen, den es noch nie zuvor gegeben hatte.

Ihr Roman wurde 2018 in Schweden veröffentlicht, zwei Jahre vor der Pandemie. Während der Pandemie wurde Schweden oft als Vorbild für andere Länder angeführt. Schweden wurde gelobt für die Solidarität, den sozialen Zusammenhalt, die Vernunft – all das war direkt mit der schwedischen Geschichte verbunden. Sehen Sie das auch so positiv?

Ja, es gab eine Debatte darüber, ob wir uns beim Umgang mit der Corona-Krise für den richtigen Weg entschieden haben. Ich persönlich bin dankbar dafür, dass wir ein bisschen mehr Freiheit als andere Länder hatten, die alles zugesperrt haben und Freiheit und Demokratie beschnitten haben. Aber ich bin mir nicht sicher, ob man diese Entscheidung auf unsere Geschichte, auf unseren »Sonderweg« im 20. Jahrhundert zurückführen kann. Darüber kann viel gesagt werden, viele Leute starben an dem Virus. Es ist schwierig zu wissen, was der richtige Weg gewesen wäre. Und es gab viel Kritik daran, sogar offizielle, wie wir mit der Krise umgegangen sind.

Ragnar Johansson ist ein Mensch, der sich voll und ganz der Gesellschaft verschreibt, die für ihn eine Art gut organisierte Maschine ist. Er liebt Regeln, die alles am Laufen halten. Dann aber sieht er sich zuerst mit seinen Kindern konfrontiert, später dann mit der Gesellschaft selbst, die immer individualisierter wird. Er wirkt wie eine Personifikation kritischer Themen des 20. Jahrhunderts – ist das ein Eindruck, den Sie teilen?

Ja, er ist eine Personifikation – mit voller Absicht – und zugleich ist er eine realistische Figur: Viele, viele Schweden zu jener Zeit waren wie er. Er war sogar, wie der Titel suggeriert, typisch: In seiner Psyche, seinen Ideen und wie er über das Leben denkt. Er befürwortet Ordnung und Rationalität, das stimmt, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihrer Beobachtung zustimme, dass die Gesellschaft immer individualisierter wird. Der Wohlfahrtsstaat ist ein kollektives Arrangement und es gibt ihn immer noch. Der Staat ist vielleicht sensibler gegenüber den Gefühlen und Launen der Bürger/innen geworden, mehr »service-orientiert«, wenn man so will und mehr Markt-orientiert, könnte man sagen. Ich habe nichts gegen den Markt, im Gegenteil, aber der Staat ist kein Markt und sollte auch nicht so tun als ob. Der Staat sollte klein und rational sein, sich seiner Grenzen und seines Zweckes bewusst, was ja rational sein bedeutet. Die Individualisierung war in vielerlei Hinsicht eher eine massive Kollektivierung, im Zuge deren eine immer größere Anzahl an Minderheiten Anerkennung und Sonderbehandlung fordern.

Obwohl Ragnars Glaubenssätze tief in der sozialdemokratischen Demokratie wurzeln, habe ich das Gefühl, dass er ebenso diese Art von Mensch sein könnte, über die wir in den letzten sechs bis sieben Jahren kontinuierlich gesprochen haben. Leute, die sich von der Politik im Stich gelassen fühlen, kämpfen mit der modernen, globalisierten Welt und wählen daher Nationalisten. Einmal sagt er sogar explizit zu seinem Sohn, dass jeder im Laufe seines Lebens einmal nationalistisch wählt. Finden Sie das auch?

Nun, es ist nicht die Nationalistische Partei, vor der er seinen Sohn warnt, sondern die liberale (sozial-liberal). Auf Schwedisch hieß sie »Folkpartiet«, aber sie war eigentlich liberal. Somit ergibt Ragnars Warnung mehr Sinn. Ja, vielleicht wäre Ragnar Nationalist, hätte das Buch von unserer Zeit gehandelt. Aber wenn, dann nicht wegen des signifikanten Nationalismus oder der Xenophobie, sondern weil die populistischen Parteien in Europa es manchmal schaffen, eine bestimmte Leere aufzuzeigen, einen fehlenden common sense bei den traditionellen Ideen oder Parteien, ja im gesamten öffentlichen Diskurs, der oft zu einer gewissen Spitzfindigkeit, dem typischen Jargon und schmeichelnden Ton führt. Er hätte den philosophischen Relativismus, der uns für einige Zeit gelenkt hat, und den Populisten manchmal erfolgreich konfrontieren, abgelehnt.

Im Buch findet eine Konversation zwischen Ragnar und einer Frau darüber statt, ob Kinder als unbeschriebene Blätter zur Welt kommen oder nicht. Was denken Sie darüber?

Ich bin davon überzeugt, dass wir nicht als unbeschriebene Blätter zur Welt kommen. Wir alle sind von menschlicher Natur, aber auf individuellem Level unterscheiden wir uns. Das ist weniger die Wirkung der Gesellschaft auf uns als vielmehr die Vorlage in unserer Seele, die uns von Anfang an begleitet. Wir sind, wer wir sind. Natürlich, wir brauchen Bildung, Normen, Disziplin, eine ruhige Umgebung, gute Ernährung und erwachsene Anleitung, um unser eigenes Potential zu erfüllen. Aber die Gesellschaft kann nicht herbeizaubern, was nicht da ist.

In jener Zeit, von der ich schreibe, glaubte die schwedische Gesellschaft an das unbeschriebene Blatt und hat sich darauf stark verlassen. Es war die Basis der ganzen Konstruktion, der gesellschaftspolitischen Maßnahmen, die ich oben erwähnt habe. Der Kern dieser Idee ist, dass die Welt vom Willen gelenkt wird, und dass nichts als gegeben betrachtet werden kann. Wenn man Ideen wie diese fördert, dann resultiert daraus natürlich eine sehr aktive, interventionalistische Politik – genau das ist auch passiert. Denn wenn alles, was Sie nicht tun, den Menschen hilft, sie so zu formen, wie sie sie sonst nicht geformt hätten, dann müssen Sie ständig tätig sein und selbst gestalten. Konsequenterweise kann die Gesellschaft nicht mehr von persönlicher Moral sprechen und muss stattdessen ständig die Umgebung beschuldigen, die Schuld an individuellem Versagen ist. Alles wird jemand anderes Schuld. Das ist alles sehr konsistent.


Lena Andersson ist eine der wichtigsten Autor/innen Schwedens. 2013 gewann sie für ihren Roman »Widerrechtliche Inbesitznahme« den renommiertesten schwedischen Literaturpreis, den August-Preis. Sie lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Stockholm.

Der gewöhnliche Mensch
Ü: Antje Rávik Strubel
Luchterhand, 288 S.