Zwei Jugendliche träumen vom Frieden: Ein bereits 2005 im Original und 2008 auf Deutsch erschienenes, aus aktuellem Anlass neu aufgelegtes Buch ist Valérie Zenattis »I’m a girl, you’re a boy. Zwischen Jerusalem und Gaza«. Foto: Patrice Normand.
Der aus zwei Perspektiven und mit zwei Stimmen erzählte E-Mail-Roman handelt von der zarten, von den politischen Begebenheiten überschatteten Freundschaft zwischen einer Jüdin und einem Palästinenser und macht Hoffnung in Zeiten der Finsternis. Das bewegende Interview über Hoffnung, die Macht der Worte und Humanismus als Widerstand gegen den Hass.
Buchkultur: Ihr 2005 in Israel erschienener Roman transportierte eine große Hoffnung, obwohl die Situation auch damals alles andere als leicht war. Was ist die »Botschaft« Ihres Romans? Was sollten wir daraus lernen, gerade, wenn wir uns die Situation heute vergegenwärtigen?
Valérie Zenatti: Dieser Roman ist viel mehr als eine Botschaft: Ich habe ihn geschrieben, weil ich von einer großen Notwendigkeit dazu getrieben wurde. Der Hintergrund des Buchs, die Zweite Intifada, war – nach einer Zeit der Hoffnung auf Frieden oder eine Lösung – sehr gewaltsam zwischen den Israelis und den Palästinensern. Es erschien mir lebenswichtig, Worte sprechen zu lassen und nicht einzig und allein Waffen und innerlich diese zwei Perspektiven zu leben: diese Empathie auf beiden Seiten, die jede von ihnen menschlich macht. Vor dem aktuellen Hintergrund ist diese Humanisierung beider Völker noch viel notwendiger.
Ihr Buch geht von realen Ereignissen aus. Mussten Sie dieselben Traumata erleben wie Tal im Roman, die Zeugin des Selbstmordattentats auf einen israelischen Linienbus im Jahr 2004 wird? Hatten auch Sie Kontakt zu Palästinensern, als sie so alt waren wie Tal, und was fanden Sie? Glaubten Sie damals, glauben Sie heute noch an den Frieden?
Der Roman basiert auf realen Fakten, die ich nicht persönlich erlebt habe. Tal und Naïm sind wie zwei imaginäre Facetten meiner selbst. Dank dieses Buchs habe ich Palästinenser getroffen, die meine Freunde geworden sind – als ob Tals Nachricht sie erreicht hätte.
Ich weiß nicht, ob ich an den Frieden glaube, die aktuelle Situation ist sehr hoffnungslos. Aber ich sage oft, dass die Geschichte länger ist als unsere Lebenszeit. Wir leben auf dem europäischen Kontinent, auf dem die schlimmsten Kriege stattgefunden haben, und wir haben es geschafft, in Frieden miteinander zu leben. Der Nahe Osten ist eine politisch sehr junge Region. Sie wird reifen und sich in einigen Jahren oder Jahrzehnten vielleicht beruhigen. Ich glaube aber, dass man sich sogar in hoffnungslosen Situationen eine humanistische Weltsicht bewahren muss, eine Form des Widerstands gegen den Hass. Das ist nicht nichts. Es unterbindet den Hass und verhindert, dass die Finsternis überhandnimmt.
Als Sie an Ihrem sehr bewegenden und hoffnungsvollen Roman schrieben – haben Sie da befürchtet, dass es wieder Krieg geben wird?
Unglücklicherweise ja, absolut. Eine der Personen sagt an einer Stelle im Roman: Wenn wir nichts tun, wird es noch mehr Tränen und noch mehr Blut geben. Als ich das Buch schrieb, habe ich an die jungen Generationen gedacht, die nichts als den Krieg und nichts als das Wort »Feind« kannten. Ich sagte mir, dass diese Generationen, wenn nichts in die richtige Richtung unternommen wird, damit sie sich kennenlernen und akzeptieren, heranwachsen werden und sich einen noch grausameren Krieg liefern werden. Und genau das ist passiert. Man darf nicht vergessen, dass das palästinensische und israelische Volk sehr jung sind. 65 Prozent der Menschen in Gaza sind jünger als 25. In Israel sind es rund 35 Prozent. Diese Jugend fordert eine Politik, die ihr eine Zukunft gibt, einen freien und kritischen Geist.
»Eines Tages«, heißt es in Ihrem Buch, »werdet ihr, werden wir, werden wir alle gemeinsam erkennen, dass es bei der Gewalt keine Gewinner gibt, dass in diesem Krieg alle Verlierer sind.« Diese Sätze haben mich sehr berührt. Braucht es ein Wunder, um den Terror und den Krieg zu überwinden? Oder nur eine Handvoll Menschen wie Tal und Naïm (oder Rabin und Arafat 1992)?
Um die Wahrheit zu sagen, die Situation ist so komplex, dass es eine Reihe von Faktoren bräuchte, um sie positiv zu verändern. In erster Linie müssen beide Seiten verantwortungsvolle Anführer haben, die Frieden schließen wollen, denen es gelingt, beiden Völkern Verzichte aufzuerlegen, indem sie beweisen, dass das die einzige Lösung ist, und indem sie ihnen die Perspektive eines sichereren, erfüllteren Lebens geben. Kurz gesagt: Indem sie Vertrauen aufbauen. Das ist das Schlüsselwort! Aber eins der Probleme der Region ist der Stellenwert Gottes und der Religion. Die Gläubigen wollen generell keine Kompromisse und glauben nicht an politische Lösungen.
Glauben und hoffen Sie, dass ein Buch wie Ihres, dass Literatur, sogar für die Kleinsten, dabei helfen kann, Solidarität, Mitgefühl und Frieden unter Kindern und Jugendlichen, unter uns Menschen zu fördern, aufzubauen? Wie wichtig ist es, Kinder und Jugendliche auch in den Schulen über die Shoah, über die Historie, über Politik zu unterrichten, damit sich Unheilsgeschichte nicht wiederholt?
Das Thema Ihrer Frage ist sehr umfangreich. Ich glaube, man sollte Geschichte so unterrichten, dass man Jugendlichen die Mittel in die Hand gibt, selbst zu reflektieren, und ihnen nicht Slogans wie »Nie wieder!« auferlegen.
Wenn dieses Buch den Leser/innen ein gerechteres, menschlicheres und auch komplexeres Bild dieser Realität geben kann, dann ist das ein Anfang.
Tal und Naïm haben noch nicht vergessen, was es heißt, menschlich zu sein und dass wir alle Menschen sind, die sich nach Liebe, Frieden und ein bisschen Glück sehnen. Sind sie aufgrund ihres Alters noch offener für die Vorstellung eines friedlichen Zusammenlebens, sind sie noch empathischer? Ist es an der Jugend, die Welt zu verändern, sie zu einem besseren Ort zu machen? Haben Sie Hoffnung, dass die junge Generation das schaffen wird – in Israel und auf der ganzen Welt?
Wie ich oben gesagt habe: Die Völker sind jung und meine Helden sind es auch. Das Schöne an der Jugend ist ihre Sehnsucht, die Welt verändern zu wollen. Die Gefahr ist, dass sie nicht immer das Wissen und den notwendigen Abstand hat, um die Dinge dann auch konstruktiv anzugehen. Aber ich sage immer, dass es in jeder Generation Menschen gibt, die Ideen entwickeln können und denen es auch gelingt, die Dinge teilweise zu verändern (wie es zum Beispiel bei der feministischen Bewegung oder beim Klimabewusstsein geschehen ist). Aber man darf nicht vergessen, dass junge Menschen nicht von allein groß werden und wachsen. Eine offene, sensible, intelligente Erziehung ist fundamental.
Was wünschen, was erhoffen Sie sich für das Land, für die Menschen, für Tal und Naïm?
Ich wünsche ihnen, dass der Krieg aufhört, der Wiederaufbau beginnt, die Wunden behandelt werden. Das wird Zeit brauchen, aber man darf nicht aufgeben. Ich wünsche ihnen von ganzem Herzen intelligente Anführer, die von dem Wunsch angetrieben werden, dass jeder frei leben darf.
Sie haben Ihre Jugend in Israel verbracht. Haben Sie noch Familie dort? Wie geht es ihr in diesen schwierigen Zeiten? Was wünschen und was erhoffen Sie sich? Haben Sie noch Hoffnung, dass eine friedliche Lösung, dass Frieden und Versöhnung möglich sind? Was sagt uns Ihr Roman heute?
Ja, ich habe noch Familie und Freunde in Israel. Ich bin permanent in Kontakt mit ihnen. Ich beantworte Ihre Fragen übrigens deshalb mit Verspätung, weil es gestern, als ich es machen wollte, einen iranischen Raketenangriff auf Israel gab. Meine Mutter, eine alte Dame und schlecht bei Fuß, war gerade draußen. Alle liefen zu den Schutzräumen. Sie konnte nicht laufen. Sie hatte große Angst. Als sie endlich beim Schutzraum ankam, schrien und weinten die Menschen – ich hörte das alles am Telefon und ich war hilflos. Niemand verdient es, das zu erleben. Wirklich niemand, und ich schließe, indem ich sage, dass ich seit dem siebenten Oktober sehr stark hinterfrage und mir viele Gedanken darüber mache, was ich den selektiven Humanismus nenne. Ich meine, über diejenigen, die die Toten des einen Lagers beweinen und sich nicht um die anderen scheren. Humanismus kann nicht selektiv sein. Er ist entweder universell oder nicht vorhanden. Das sollte uns leiten.
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Valérie Zenatti
I’m a girl, you’re a boy. Zwischen Jerusalem und Gaza
Ü: Bernadette Ott
dtv, 192 S.
Ab 12