In Ausgabe 209 von Buchkultur, die am 25. August erschienen ist, findet sich eine äußerst positive Besprechung der Anthologie »Oh boy!« (kanon), die sich mit Männlichkeitsbildern in der Gesellschaft aus ausschließlich männlicher Autorenperspektive auseinandersetzt. Nun wurde das Buch vom Markt zurückgezogen. Foto: Shutterstock.
Es war ein nicht ganz alltägliches Konzept für einen Sammelband: Einmal nicht theoretisch-abstrakt ÜBER das Patriarchat zu sprechen, sondern Männer aus unterschiedlichen Kontexten, sozialen Statussen und Gehaltsligen in freier literarischer Form über ihre teilnehmende Beobachtung darin schreiben zu lassen. Idealerweise könnte man meinen: Aus der Praxis für die Praxis, das wollte die engagierte Veröffentlichung von »Oh boy!« leisten, und so haben wir das Buch auch im Vorfeld als äußerst bemerkens- wie berichtenswert wahrgenommen. Zwischen Drucklegung und Erscheinungstermin der aktuellen Ausgabe von Buchkultur wurde jedoch bekannt, dass der Beitrag des Co-Herausgebers Valentin Moritz über einen sexuellen Übergriff dezidiert gegen den Willen des damaligen Opfers in den Band mitaufgenommen wurde.
Autorin Stefanie Jaksch, die das Buch für Buchkultur besprochen hat, nimmt hier dazu Stellung. Im Anschluss findet sich der uneditierte Text zu »Oh boy!« aus Buchkultur Ausgabe 209. (Red.)
Liebe Leser/innen,
kaum jemandem wird die Debatte um die im kanon Verlag erschienene Debatte der letzten Wochen entgangen sein. Es stellte sich heraus, dass der Text eines der Herausgeber/innen, in dem er eigene Täter/innenschaft thematisiert und der auch in meinem Artikel zur Sprache kommt, auf einem realen Übergriff fußt. Die betroffene Person hatte der Veröffentlichung ausdrücklich nicht zugestimmt.
Dass die Veröffentlichung eine Grenzverletzung und -überschreitung gegenüber der betroffenen Person ist, die nicht hätte geschehen dürfen, darüber besteht kein Zweifel: Herausgeber Valentin Moritz hat sich von dem Projekt zurückgezogen, der kanon Verlag die Auslieferung des Buches erst einmal gestoppt, digitale Ausgaben und etwaige Nachdrucke werden den Text nicht mehr enthalten.
Meine Auseinandersetzung mit der Anthologie und das Interview mit Valentin Moritz und Donat Blum fand vor der Veröffentlichung des Buches statt. Wie viele andere Kritiker/innen stand ich dem Titel positiv gegenüber, wie man meinem Artikel entnehmen kann. Was mich umtreibt: Ich habe die Frage nach dem Einverständnis der im Text zwar anonymisierten, aber für das Umfeld sicher zu dechiffrierenden Person nicht gestellt, obwohl sie mir auf der Zunge lag. Da ich selbst lange im Verlagswesen tätig war und die Diskussionen kenne, bin ich davon ausgegangen, dass die Zustimmung der Person vorliegt.
Der erste Instinkt bei Fällen wie »Oh Boy!« ist, auf die Agierenden wütend zu sein: Verleger, Herausgeber/innen. Mein Take ist ein bisschen anders: Ich sehe, dass Konsequenzen gezogen wurden, auch wenn klar ist, dass der Text »Ein glücklicher Mensch« keinen Eingang in die Anthologie finden hätte dürfen. Jedoch liegt es auch an mir als Rezensentin, kritisch nachzufragen und meinem Instinkt zu folgen. Die Kontroverse rund um »Oh Boy!« gebietet mir, wachsamer und mir einmal mehr meiner Verantwortung bewusst zu sein, pfleglich mit mir anvertrauten Texten und ihren Kontexten umzugehen.
Herzlichst, Stefanie Jaksch
Jenseits der Körperpanzer
Wann ist heute ein Mann ein Mann? Die bravouröse Anthologie »Oh Boy!« setzt das Patriarchat auf den Prüfstand — ausdifferenziert und vielschichtig.
Aus: Buchkultur 209, August 2023.
»Oh boy!« ist ein Ausruf im Englischen, der gern erklingt, wenn klar ist, dass es jetzt mühsam wird. Autorin Mithu Sanyal fragt sich im Nachwort: »Männer schreiben über Sex und Liebe und das Zerbrechen von Liebe, über das Vaterwerden und ihre eigenen Väter, über das Glücklichsein und das Nichtglücklichsein. Ist das nicht so ca. dasselbe wie 99 % aller Texte, die durch die Literaturgeschichte schwirren?«
Gleich vorweg: Die Herausgeber/innen Donat Blum und Valentin Moritz haben sich viel vorgenommen mit ihrer Anthologie rund um »Männlichkeit*en heute« – und es gelingt ihnen bravourös. Der Genderstern macht unmissverständlich klar: Hier geht es nicht um individuelle Leiden (meist) heterosexueller Kraftprotze, hier steht ein ganzes System auf dem Prüfstand und wird die Vielstimmigkeit glaubhaft zum Prinzip erhoben.
»Es ist oft nicht sofort klar, wenn wir über das Patriarchat sprechen, dass dessen heteronormen und binären Anteile zwei wirkmächtige Normen sind, die wir, wenn schon nicht überwinden, dann zumindest auf den Tisch bringen wollen«, so Donat Blum im Interview. Valentin Moritz formuliert: »Als heterosexueller cis Mann bist du extrem privilegiert – dennoch verletzt dich das Patriarchat oft. Das ist wie ein Virus, das im Untergrund um sich greift und man nie zu fassen bekommt.«
Was tun bei diesem eher ernüchternden Befund? Die Herausgeber/innen setzen auf einen radikal literarischen Ansatz: »Uns interessiert Literatur, die Ambivalenzen und Widersprüche zulässt und nicht auf Eindeutigkeit zielt. Sie ist für uns Mittel und Angebot zu einem anhaltenden Gespräch«, sagt Blum, und Moritz nickt. Gesprächspartner/innen finden sich unter den Autor/innen – u. a. Jayrôme C. Robinet, Dinçer Güçyeter, Kim de l’Horizon, Philipp Winkler und Deniz Utlu – zuhauf, und sie widersetzen sich dem leistungsgetriebenen Fluch und Ideal undurchdringlicher Theweleit‘scher Körperpanzer.
So lesen wir atemlos von rätselhaften Vätern und irritierenden Sehnsüchten, vom Eindringen in fremde Räume, von Kindheitstraumata und emotionaler Kälte in Briefen, Short Stories, frei flottierenden Bewusstseinsströmen, verbunden durch den Willen zur Offen- und Verletzlichkeit. Darin spiegeln sich die Behutsamkeit und der Respekt, die Herausgeber/innen wie Verlag dieser herausragenden Textsammlung haben angedeihen lassen. Was notwendig ist, da vielgestaltige Gewaltmomente einen roten Faden bilden.
»Es gibt da eine thematische Verstrickung«, konstatiert Donat Blum, »Gewalt spielt bei männlichen Rollenverständnissen eindeutig eine große Rolle. Und es ist unsere Aufgabe, als Menschen einen Umgang damit zu finden.« Valentin Moritz merkt an: »Männlich sozialisiert zu werden führt dazu, dass bestimmte Kompetenzen, um mit inneren Verwerfungen umzugehen, tendenziell sanktioniert und abtrainiert werden. Mein Text ist ein Versuch, mit der eigenen Täterschaft umzugehen und etwas daraus zu machen, was Sinn ergibt.«
»Oh Boy!« jedenfalls ist weit entfernt vom anfangs geäußerten Generalverdacht, schenkt den Leser/innen eine vielschichtige, ausdifferenzierte Lektüre, die viel wagt und alles gewinnt. Man möchte sie sowohl als Schulstoff als auch als unverzichtbaren Beitrag in oft verzerrt geführten Debatten, für Diskussionen im privaten wie öffentlichen Diskurs empfehlen. Gibt es eine/n ideale/n Adressat/in für Blum und Moritz? »Wenn es die erreicht, die noch nicht für die gute Sache verloren sind, die aber nicht genau wissen, wie sie das tun wollen, das wäre schön«, sagt Moritz, und Blum schließt: »Oft fehlt, auch in vermeintlich progressiven Kreisen, das Vokabular oder die Fähigkeit, über Männlichkeit*en als soziales Geschlecht zu reden. Jemandem zuzuhören, der oder die darüber spricht, ist für alle gewinnbringend.«
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Donat Blum, Valentin Moritz (Hg.)
Oh Boy! Männlichkeit*en heute
kanon, 238 S.